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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die wurzeln des Liberalismus.

nicht im Amte bleiben dürfen, auch wenn sie mit dem Könige übereinstimmen.
Mittels dieser Ministerverantwortlichkeit bestimmt denn das Parlament die
Person der Minister und die gesamte Regierung, der König hat nur die formelle
Ernennung seiner obersten Räte, wie sie ihm die Abstimmungen der Volks¬
vertreter bezeichnen, und den formellen Erlaß der Anordnungen zu bewerkstelligen,
welche die Minister nach Sinn und Willen der Kammern ihm angeben. Der
Liberalismus räumt demselben sehr große Prärogative ein: er ernennt alle
Beamten, Richter, Gesandte und Offiziere, er ist Oberbefehlshaber der Armee,
er beschließt über Krieg und Frieden, er beruft und entläßt das Parlament und
er hat das sogenannte Veto. Aber er darf sich dieser Rechte nicht nach seinem
Willen bedienen, sondern muß sie durch die den Kammern verantwortlichen
Minister ausüben lassen, die sich natürlich hüten werden, sich ihren Dienstherrn,
dem Parlamente, zu widersetzen. Nur ein Mittel gewährt der Liberalismus dem
Könige gegen diese Abhängigkeit von der Mehrheit der Volksvertretung: die
Auflösung der Kammern. Aber auch das ist nur Schein; deun erstens ist es
erfolglos, wenn die Neuwahlen dieselbe Majorität ergeben, und sodann soll es
nicht den König selbständig machen, sondern den Willen der Wähler ausdrücken,
die Parlamentsmehrheit unterwürfig gegen Volksmehrheit erhalten. Ein rechter
König wird sich dem niemals ungezwungen beugen, und so hat man ein Mittel
erdacht, ihn hierzu zu nötigen: die Steuer- und Vudgetverwcigerung. Die
Kammer muß, so behauptet der echte, unverhüllte, nicht den Verhältnissen
angepaßte Liberalismus, das Recht haben, jährlich das ganze Budget, sämtliche
Einnahmen und Ausgaben grundlos zu verweigern. Durch dieses Recht konnte
sie nach Belieben nicht bloß den Haushalt des Staates, sondern den letzteren
selbst zugrunde richten und dem Könige faktisch das Weiterregieren untersagen.
Es wäre die Rückkehr der bürgerlichen Gesellschaft in den Naturzustand, wo
es keine Gerichte, keine Verwaltung, kein Heer, keine Schulen und Verkehrs¬
anstalten mehr gäbe, und da der König den Staat unmöglich aufhören lassen
kann, so muß er der Volksvertretung alles gewähren, was sie verlangt, also
Parlamentarisch regieren. Noch ein Mittel der Art ist die möglichste Aus¬
dehnung des Parlamentsrechts, die Minister anzuklagen, sodaß sie nicht bloß
wegen Untergrabung, Verletzung oder Beseitigung der Verfassung, sondern selbst
wegen unzweckmäßiger Negierung verurteilt werden können. Dieselben müssen
hiernach in beständiger Furcht vor dem Parlamente sein, daß die Gewalt sie
Zu strafen hat, während der König ihnen nichts anhaben kann.

Neben dem Streben nach der Herrschaft des Mittelstandes charalterisirt
den Liberalismus dasjenige nach individueller Freiheit, nach Zerstörung der
Gliederung der Gesellschaft, nach Auflösung der festen, sachlichen Verbände,
ans denen sie besteht, in unabhängige Einzelne. Daher ein Programm, nach
dem alles im Staate über einen Kamm geschoren wird: keine Provinzen, die
sich auf historische Zusammengehörigkeit gründen und besondre Rechte und Ein-


Die wurzeln des Liberalismus.

nicht im Amte bleiben dürfen, auch wenn sie mit dem Könige übereinstimmen.
Mittels dieser Ministerverantwortlichkeit bestimmt denn das Parlament die
Person der Minister und die gesamte Regierung, der König hat nur die formelle
Ernennung seiner obersten Räte, wie sie ihm die Abstimmungen der Volks¬
vertreter bezeichnen, und den formellen Erlaß der Anordnungen zu bewerkstelligen,
welche die Minister nach Sinn und Willen der Kammern ihm angeben. Der
Liberalismus räumt demselben sehr große Prärogative ein: er ernennt alle
Beamten, Richter, Gesandte und Offiziere, er ist Oberbefehlshaber der Armee,
er beschließt über Krieg und Frieden, er beruft und entläßt das Parlament und
er hat das sogenannte Veto. Aber er darf sich dieser Rechte nicht nach seinem
Willen bedienen, sondern muß sie durch die den Kammern verantwortlichen
Minister ausüben lassen, die sich natürlich hüten werden, sich ihren Dienstherrn,
dem Parlamente, zu widersetzen. Nur ein Mittel gewährt der Liberalismus dem
Könige gegen diese Abhängigkeit von der Mehrheit der Volksvertretung: die
Auflösung der Kammern. Aber auch das ist nur Schein; deun erstens ist es
erfolglos, wenn die Neuwahlen dieselbe Majorität ergeben, und sodann soll es
nicht den König selbständig machen, sondern den Willen der Wähler ausdrücken,
die Parlamentsmehrheit unterwürfig gegen Volksmehrheit erhalten. Ein rechter
König wird sich dem niemals ungezwungen beugen, und so hat man ein Mittel
erdacht, ihn hierzu zu nötigen: die Steuer- und Vudgetverwcigerung. Die
Kammer muß, so behauptet der echte, unverhüllte, nicht den Verhältnissen
angepaßte Liberalismus, das Recht haben, jährlich das ganze Budget, sämtliche
Einnahmen und Ausgaben grundlos zu verweigern. Durch dieses Recht konnte
sie nach Belieben nicht bloß den Haushalt des Staates, sondern den letzteren
selbst zugrunde richten und dem Könige faktisch das Weiterregieren untersagen.
Es wäre die Rückkehr der bürgerlichen Gesellschaft in den Naturzustand, wo
es keine Gerichte, keine Verwaltung, kein Heer, keine Schulen und Verkehrs¬
anstalten mehr gäbe, und da der König den Staat unmöglich aufhören lassen
kann, so muß er der Volksvertretung alles gewähren, was sie verlangt, also
Parlamentarisch regieren. Noch ein Mittel der Art ist die möglichste Aus¬
dehnung des Parlamentsrechts, die Minister anzuklagen, sodaß sie nicht bloß
wegen Untergrabung, Verletzung oder Beseitigung der Verfassung, sondern selbst
wegen unzweckmäßiger Negierung verurteilt werden können. Dieselben müssen
hiernach in beständiger Furcht vor dem Parlamente sein, daß die Gewalt sie
Zu strafen hat, während der König ihnen nichts anhaben kann.

Neben dem Streben nach der Herrschaft des Mittelstandes charalterisirt
den Liberalismus dasjenige nach individueller Freiheit, nach Zerstörung der
Gliederung der Gesellschaft, nach Auflösung der festen, sachlichen Verbände,
ans denen sie besteht, in unabhängige Einzelne. Daher ein Programm, nach
dem alles im Staate über einen Kamm geschoren wird: keine Provinzen, die
sich auf historische Zusammengehörigkeit gründen und besondre Rechte und Ein-


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[0263] Die wurzeln des Liberalismus. nicht im Amte bleiben dürfen, auch wenn sie mit dem Könige übereinstimmen. Mittels dieser Ministerverantwortlichkeit bestimmt denn das Parlament die Person der Minister und die gesamte Regierung, der König hat nur die formelle Ernennung seiner obersten Räte, wie sie ihm die Abstimmungen der Volks¬ vertreter bezeichnen, und den formellen Erlaß der Anordnungen zu bewerkstelligen, welche die Minister nach Sinn und Willen der Kammern ihm angeben. Der Liberalismus räumt demselben sehr große Prärogative ein: er ernennt alle Beamten, Richter, Gesandte und Offiziere, er ist Oberbefehlshaber der Armee, er beschließt über Krieg und Frieden, er beruft und entläßt das Parlament und er hat das sogenannte Veto. Aber er darf sich dieser Rechte nicht nach seinem Willen bedienen, sondern muß sie durch die den Kammern verantwortlichen Minister ausüben lassen, die sich natürlich hüten werden, sich ihren Dienstherrn, dem Parlamente, zu widersetzen. Nur ein Mittel gewährt der Liberalismus dem Könige gegen diese Abhängigkeit von der Mehrheit der Volksvertretung: die Auflösung der Kammern. Aber auch das ist nur Schein; deun erstens ist es erfolglos, wenn die Neuwahlen dieselbe Majorität ergeben, und sodann soll es nicht den König selbständig machen, sondern den Willen der Wähler ausdrücken, die Parlamentsmehrheit unterwürfig gegen Volksmehrheit erhalten. Ein rechter König wird sich dem niemals ungezwungen beugen, und so hat man ein Mittel erdacht, ihn hierzu zu nötigen: die Steuer- und Vudgetverwcigerung. Die Kammer muß, so behauptet der echte, unverhüllte, nicht den Verhältnissen angepaßte Liberalismus, das Recht haben, jährlich das ganze Budget, sämtliche Einnahmen und Ausgaben grundlos zu verweigern. Durch dieses Recht konnte sie nach Belieben nicht bloß den Haushalt des Staates, sondern den letzteren selbst zugrunde richten und dem Könige faktisch das Weiterregieren untersagen. Es wäre die Rückkehr der bürgerlichen Gesellschaft in den Naturzustand, wo es keine Gerichte, keine Verwaltung, kein Heer, keine Schulen und Verkehrs¬ anstalten mehr gäbe, und da der König den Staat unmöglich aufhören lassen kann, so muß er der Volksvertretung alles gewähren, was sie verlangt, also Parlamentarisch regieren. Noch ein Mittel der Art ist die möglichste Aus¬ dehnung des Parlamentsrechts, die Minister anzuklagen, sodaß sie nicht bloß wegen Untergrabung, Verletzung oder Beseitigung der Verfassung, sondern selbst wegen unzweckmäßiger Negierung verurteilt werden können. Dieselben müssen hiernach in beständiger Furcht vor dem Parlamente sein, daß die Gewalt sie Zu strafen hat, während der König ihnen nichts anhaben kann. Neben dem Streben nach der Herrschaft des Mittelstandes charalterisirt den Liberalismus dasjenige nach individueller Freiheit, nach Zerstörung der Gliederung der Gesellschaft, nach Auflösung der festen, sachlichen Verbände, ans denen sie besteht, in unabhängige Einzelne. Daher ein Programm, nach dem alles im Staate über einen Kamm geschoren wird: keine Provinzen, die sich auf historische Zusammengehörigkeit gründen und besondre Rechte und Ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/263>, abgerufen am 21.06.2024.