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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die Wurzeln des Liberalismus.

System in dieser Auffassung entspricht vollständig dem Interesse des Mittel¬
standes: es macht diesem den Fürsten dienstbar, da dieser Stand die meisten
Sitze des Parlaments einnimmt, und es erhält ihm andrerseits am Fürsten
ein Bollwerk gegen das nachdringende Volk der untern Klassen.

In unsern jetzigen liberalen Parteien ist der Liberalismus nicht rein, we¬
nigstens nicht unverhüllt vertreten, selbst in der Fortschrittspartei nicht ganz,
da man den Verhältnissen Konzessionen machen muß. Dagegen sahen wir ihn
in der preußischen Nationalversammlung von 1848 am Werke, ebenso in der
Konfliktszeit. Dort bemühte man sich zuerst, die physische Macht, auf der das König¬
tum ruht, das Heer, lahmzulegen. Dazu dienten zwei Einrichtungen: die Ver¬
eidigung des Militärs auf die Verfassung und die Errichtung der Bürgerwehr;
mit jener entwaffnete man den König, mit dieser bewaffnete man sich selbst.
Als man indes die Erfahrung machte, daß beide Institute auch deu Zwecken
der Demokratie dienen konnten, ließ man sie fallen. Sodann entwickelte die
liberale Partei eine geistige Macht gegen das Königtum in den Zeitungen.
Freiheit der Presse ist ein Hauptpostulat der Liberalen, und es handelte sich
dabei, als man sie zuerst verlangte, nicht so sehr um ungehinderte Besprechung
von Rcgierungsmaßregeln, sondern um ein ganz bestimmtes Ziel. Die Tages¬
presse sollte die Übermacht des Mittelstandes über die Krone bewirken, sie sollte
die Meinung der besitzenden und gebildeten Mehrzahl zum Gesetz für die Re¬
gierung erheben und jede Verweigerung der Förderungen des liberalen Systems
als schweres Unrecht darstellen. In dieser Richtung Tag für Tag arbeitend,
wurde die Presse zu einer fast unwiderstehlichen Macht, gegen die man dem
Könige nur den schwachen Schutz ließ, der in der Anksage vor einem Schwur¬
gerichte aus dem Mittelstande lag -- einer Anklage wegen einzelner zu starken
Angriffe, während die ganze Tagespresse in der Sache ein einziger Angriff auf
das wirkliche Königtum war, und einer Anklage vor eben der Klasse, zu deren
gunsten der Angriff unternommen wurde.

Weitere Mittel, den Fürsten von dem Willen des Parlaments, von dem
Interesse des Mittelstandes abhängig zu machen, sind für den echten und un¬
verhüllten Liberalismus, von dem hier allein die Rede ist, die Ministeranklage
und die Steuerverweigerung. Die Minister sollen nicht bloß von der Volks¬
vertretung angeklagt werden können, sei es wegen Verletzung der Verfassung,
sei es wegen Schädigung der Landesinteressen, sondern sie sollen in ihrer ge¬
samten Verwaltung der Billigung des Parlaments bedürfen und, wenn diese ihnen
entzogen wird, sofort ihr Amt niederlegen. Sie sollen nur solange Minister
bleiben dürfen, als sie die Mehrheit der Kammern für sich haben. Das ist
also eine Verantwortlichkeit vor den letzteren als vor ihren Dienstherren, sie
können folglich dem Könige nicht verantwortlich, nicht untergeben sein. Sie
sollen im Amte bleiben und nach dem Willen der Volksvertretung regieren auch
gegen den Willen des Königs, wogegen sie gegen den Willen des Parlaments


Die Wurzeln des Liberalismus.

System in dieser Auffassung entspricht vollständig dem Interesse des Mittel¬
standes: es macht diesem den Fürsten dienstbar, da dieser Stand die meisten
Sitze des Parlaments einnimmt, und es erhält ihm andrerseits am Fürsten
ein Bollwerk gegen das nachdringende Volk der untern Klassen.

In unsern jetzigen liberalen Parteien ist der Liberalismus nicht rein, we¬
nigstens nicht unverhüllt vertreten, selbst in der Fortschrittspartei nicht ganz,
da man den Verhältnissen Konzessionen machen muß. Dagegen sahen wir ihn
in der preußischen Nationalversammlung von 1848 am Werke, ebenso in der
Konfliktszeit. Dort bemühte man sich zuerst, die physische Macht, auf der das König¬
tum ruht, das Heer, lahmzulegen. Dazu dienten zwei Einrichtungen: die Ver¬
eidigung des Militärs auf die Verfassung und die Errichtung der Bürgerwehr;
mit jener entwaffnete man den König, mit dieser bewaffnete man sich selbst.
Als man indes die Erfahrung machte, daß beide Institute auch deu Zwecken
der Demokratie dienen konnten, ließ man sie fallen. Sodann entwickelte die
liberale Partei eine geistige Macht gegen das Königtum in den Zeitungen.
Freiheit der Presse ist ein Hauptpostulat der Liberalen, und es handelte sich
dabei, als man sie zuerst verlangte, nicht so sehr um ungehinderte Besprechung
von Rcgierungsmaßregeln, sondern um ein ganz bestimmtes Ziel. Die Tages¬
presse sollte die Übermacht des Mittelstandes über die Krone bewirken, sie sollte
die Meinung der besitzenden und gebildeten Mehrzahl zum Gesetz für die Re¬
gierung erheben und jede Verweigerung der Förderungen des liberalen Systems
als schweres Unrecht darstellen. In dieser Richtung Tag für Tag arbeitend,
wurde die Presse zu einer fast unwiderstehlichen Macht, gegen die man dem
Könige nur den schwachen Schutz ließ, der in der Anksage vor einem Schwur¬
gerichte aus dem Mittelstande lag — einer Anklage wegen einzelner zu starken
Angriffe, während die ganze Tagespresse in der Sache ein einziger Angriff auf
das wirkliche Königtum war, und einer Anklage vor eben der Klasse, zu deren
gunsten der Angriff unternommen wurde.

Weitere Mittel, den Fürsten von dem Willen des Parlaments, von dem
Interesse des Mittelstandes abhängig zu machen, sind für den echten und un¬
verhüllten Liberalismus, von dem hier allein die Rede ist, die Ministeranklage
und die Steuerverweigerung. Die Minister sollen nicht bloß von der Volks¬
vertretung angeklagt werden können, sei es wegen Verletzung der Verfassung,
sei es wegen Schädigung der Landesinteressen, sondern sie sollen in ihrer ge¬
samten Verwaltung der Billigung des Parlaments bedürfen und, wenn diese ihnen
entzogen wird, sofort ihr Amt niederlegen. Sie sollen nur solange Minister
bleiben dürfen, als sie die Mehrheit der Kammern für sich haben. Das ist
also eine Verantwortlichkeit vor den letzteren als vor ihren Dienstherren, sie
können folglich dem Könige nicht verantwortlich, nicht untergeben sein. Sie
sollen im Amte bleiben und nach dem Willen der Volksvertretung regieren auch
gegen den Willen des Königs, wogegen sie gegen den Willen des Parlaments


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[0262] Die Wurzeln des Liberalismus. System in dieser Auffassung entspricht vollständig dem Interesse des Mittel¬ standes: es macht diesem den Fürsten dienstbar, da dieser Stand die meisten Sitze des Parlaments einnimmt, und es erhält ihm andrerseits am Fürsten ein Bollwerk gegen das nachdringende Volk der untern Klassen. In unsern jetzigen liberalen Parteien ist der Liberalismus nicht rein, we¬ nigstens nicht unverhüllt vertreten, selbst in der Fortschrittspartei nicht ganz, da man den Verhältnissen Konzessionen machen muß. Dagegen sahen wir ihn in der preußischen Nationalversammlung von 1848 am Werke, ebenso in der Konfliktszeit. Dort bemühte man sich zuerst, die physische Macht, auf der das König¬ tum ruht, das Heer, lahmzulegen. Dazu dienten zwei Einrichtungen: die Ver¬ eidigung des Militärs auf die Verfassung und die Errichtung der Bürgerwehr; mit jener entwaffnete man den König, mit dieser bewaffnete man sich selbst. Als man indes die Erfahrung machte, daß beide Institute auch deu Zwecken der Demokratie dienen konnten, ließ man sie fallen. Sodann entwickelte die liberale Partei eine geistige Macht gegen das Königtum in den Zeitungen. Freiheit der Presse ist ein Hauptpostulat der Liberalen, und es handelte sich dabei, als man sie zuerst verlangte, nicht so sehr um ungehinderte Besprechung von Rcgierungsmaßregeln, sondern um ein ganz bestimmtes Ziel. Die Tages¬ presse sollte die Übermacht des Mittelstandes über die Krone bewirken, sie sollte die Meinung der besitzenden und gebildeten Mehrzahl zum Gesetz für die Re¬ gierung erheben und jede Verweigerung der Förderungen des liberalen Systems als schweres Unrecht darstellen. In dieser Richtung Tag für Tag arbeitend, wurde die Presse zu einer fast unwiderstehlichen Macht, gegen die man dem Könige nur den schwachen Schutz ließ, der in der Anksage vor einem Schwur¬ gerichte aus dem Mittelstande lag — einer Anklage wegen einzelner zu starken Angriffe, während die ganze Tagespresse in der Sache ein einziger Angriff auf das wirkliche Königtum war, und einer Anklage vor eben der Klasse, zu deren gunsten der Angriff unternommen wurde. Weitere Mittel, den Fürsten von dem Willen des Parlaments, von dem Interesse des Mittelstandes abhängig zu machen, sind für den echten und un¬ verhüllten Liberalismus, von dem hier allein die Rede ist, die Ministeranklage und die Steuerverweigerung. Die Minister sollen nicht bloß von der Volks¬ vertretung angeklagt werden können, sei es wegen Verletzung der Verfassung, sei es wegen Schädigung der Landesinteressen, sondern sie sollen in ihrer ge¬ samten Verwaltung der Billigung des Parlaments bedürfen und, wenn diese ihnen entzogen wird, sofort ihr Amt niederlegen. Sie sollen nur solange Minister bleiben dürfen, als sie die Mehrheit der Kammern für sich haben. Das ist also eine Verantwortlichkeit vor den letzteren als vor ihren Dienstherren, sie können folglich dem Könige nicht verantwortlich, nicht untergeben sein. Sie sollen im Amte bleiben und nach dem Willen der Volksvertretung regieren auch gegen den Willen des Königs, wogegen sie gegen den Willen des Parlaments

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/262>, abgerufen am 21.06.2024.