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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die Wurzeln des Liberalismus.

Der Name Liberale hat seinen Ursprung in Spanien, wo die Anhänger
der hier chamkterisirten Lehren sich selbst als Liberale, ihre Gegner als servile
bezeichneten, und wo jener Name die gesamte Bewegungspartei ohne Unterschied
der Fraktionen umfaßte. Später aber wurde er ausschließlich von der Partei
gebraucht, die in Frankreich unter der Restauration und in den Kammern der
deutschen Staaten bis 1848 der Regierung im Sinne einer gemäßigten Aus¬
führung der Ideen von 1789 Opposition machte. Indem dieselbe in den von
ihr erstrebten Einrichtungen das Extrem vermied und dieselben nicht mit Ge¬
waltmitteln herbeiführen wollte, unterschied sie sich von den Radikalen und Demo¬
kraten.

Träger der liberalen Parteirichtung ist vorwiegend der Mittelstand, das
vermögende und gebildete Bürgertum, der Stand, zu dem die Kaufleute, die
Fabrikanten, die größer" Handwerker, die gelehrten Klassen und die Beamten
gehören, und ihre Ziele sind die Herrschaft ihres Standes und die individuelle
Freiheit. Beide sind von dem Interesse dieser Klasse des Volkes eingegeben;
denn dieses wird sowohl dann bedroht, wenn das ganze Volk mit Einschluß
der Besitzlosen und Ungebildeten die Staatsgewalt in den Händen hat, als dann,
wenn die letztere keine Schranke an der individuellen Freiheit anerkennt.

Die Doktrin der liberalen Partei beruht zwar auf den Gedanken der Volks-
souveränetät und der Gleichheit, aber bei dem Streben nach der Herrschaft des
Mittelstandes sucht sie dieselben nicht konsequent und nach ihrem ganzen In¬
halte durchzuführen, sondern mir insoweit, als es zur Erlangung und Befestigung
jener Herrschaft notwendig ist. Sie behauptet die Volkssouveränetät nur inso¬
fern, als sie lehrt, es müsse nicht sowohl nach dem Willen des Fürsten, sondern
nach dem des Volkes regiert werden, d. h. der Fürst dürfe nicht als höhere
Autorität über ihr bestehen. Wenn es aber dann gilt, den Gedanken der Volks-
souverünctät positiv zu vertreten und das gesamte Volk gleichmäßig zur Herr¬
schaft zu berufen, verläßt sie jenen Gedanken und fordert nur die Herrschaft
der Vermögenden und Gebildeten. Ebenso bekennt sich dieselbe zur Idee der
Gleichheit gegenüber allen Stünden als solchen, weil sie nach ihren individua¬
listischen Grundsätzen keine organische Gliederung zugeben kann. Soll die Gleich¬
heit positiv durchgeführt werden, sollen auch die Unbemittelten dieselben poli¬
tischen Rechte wie sie erhalten, so versagt ihre Prinzipientreue, und sie verlangt
für das Recht der Wahl einen Zensus, der jene ausschließt. Kurz, die Partei¬
stellung der Liberalen wird dadurch charakterisirt, daß sie die Grundsätze von
1789 nur halb verwirklichen will.

Für die Herrschaft des Mittelstandes kommt es dann zunächst darauf an,
den Begriff des Königtums als einer wirklichen Macht zu beseitigen, und die
liberale Partei versucht dies durch Streben nach parlamentarischer Regierung,
bei welcher das Königtum zwar der Form nach fortdauert, die Gewalt aber oder
doch ihr Schwerpunkt in die Volksvertretung verlegt ist. Das konstitutionelle


Die Wurzeln des Liberalismus.

Der Name Liberale hat seinen Ursprung in Spanien, wo die Anhänger
der hier chamkterisirten Lehren sich selbst als Liberale, ihre Gegner als servile
bezeichneten, und wo jener Name die gesamte Bewegungspartei ohne Unterschied
der Fraktionen umfaßte. Später aber wurde er ausschließlich von der Partei
gebraucht, die in Frankreich unter der Restauration und in den Kammern der
deutschen Staaten bis 1848 der Regierung im Sinne einer gemäßigten Aus¬
führung der Ideen von 1789 Opposition machte. Indem dieselbe in den von
ihr erstrebten Einrichtungen das Extrem vermied und dieselben nicht mit Ge¬
waltmitteln herbeiführen wollte, unterschied sie sich von den Radikalen und Demo¬
kraten.

Träger der liberalen Parteirichtung ist vorwiegend der Mittelstand, das
vermögende und gebildete Bürgertum, der Stand, zu dem die Kaufleute, die
Fabrikanten, die größer» Handwerker, die gelehrten Klassen und die Beamten
gehören, und ihre Ziele sind die Herrschaft ihres Standes und die individuelle
Freiheit. Beide sind von dem Interesse dieser Klasse des Volkes eingegeben;
denn dieses wird sowohl dann bedroht, wenn das ganze Volk mit Einschluß
der Besitzlosen und Ungebildeten die Staatsgewalt in den Händen hat, als dann,
wenn die letztere keine Schranke an der individuellen Freiheit anerkennt.

Die Doktrin der liberalen Partei beruht zwar auf den Gedanken der Volks-
souveränetät und der Gleichheit, aber bei dem Streben nach der Herrschaft des
Mittelstandes sucht sie dieselben nicht konsequent und nach ihrem ganzen In¬
halte durchzuführen, sondern mir insoweit, als es zur Erlangung und Befestigung
jener Herrschaft notwendig ist. Sie behauptet die Volkssouveränetät nur inso¬
fern, als sie lehrt, es müsse nicht sowohl nach dem Willen des Fürsten, sondern
nach dem des Volkes regiert werden, d. h. der Fürst dürfe nicht als höhere
Autorität über ihr bestehen. Wenn es aber dann gilt, den Gedanken der Volks-
souverünctät positiv zu vertreten und das gesamte Volk gleichmäßig zur Herr¬
schaft zu berufen, verläßt sie jenen Gedanken und fordert nur die Herrschaft
der Vermögenden und Gebildeten. Ebenso bekennt sich dieselbe zur Idee der
Gleichheit gegenüber allen Stünden als solchen, weil sie nach ihren individua¬
listischen Grundsätzen keine organische Gliederung zugeben kann. Soll die Gleich¬
heit positiv durchgeführt werden, sollen auch die Unbemittelten dieselben poli¬
tischen Rechte wie sie erhalten, so versagt ihre Prinzipientreue, und sie verlangt
für das Recht der Wahl einen Zensus, der jene ausschließt. Kurz, die Partei¬
stellung der Liberalen wird dadurch charakterisirt, daß sie die Grundsätze von
1789 nur halb verwirklichen will.

Für die Herrschaft des Mittelstandes kommt es dann zunächst darauf an,
den Begriff des Königtums als einer wirklichen Macht zu beseitigen, und die
liberale Partei versucht dies durch Streben nach parlamentarischer Regierung,
bei welcher das Königtum zwar der Form nach fortdauert, die Gewalt aber oder
doch ihr Schwerpunkt in die Volksvertretung verlegt ist. Das konstitutionelle


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[0261] Die Wurzeln des Liberalismus. Der Name Liberale hat seinen Ursprung in Spanien, wo die Anhänger der hier chamkterisirten Lehren sich selbst als Liberale, ihre Gegner als servile bezeichneten, und wo jener Name die gesamte Bewegungspartei ohne Unterschied der Fraktionen umfaßte. Später aber wurde er ausschließlich von der Partei gebraucht, die in Frankreich unter der Restauration und in den Kammern der deutschen Staaten bis 1848 der Regierung im Sinne einer gemäßigten Aus¬ führung der Ideen von 1789 Opposition machte. Indem dieselbe in den von ihr erstrebten Einrichtungen das Extrem vermied und dieselben nicht mit Ge¬ waltmitteln herbeiführen wollte, unterschied sie sich von den Radikalen und Demo¬ kraten. Träger der liberalen Parteirichtung ist vorwiegend der Mittelstand, das vermögende und gebildete Bürgertum, der Stand, zu dem die Kaufleute, die Fabrikanten, die größer» Handwerker, die gelehrten Klassen und die Beamten gehören, und ihre Ziele sind die Herrschaft ihres Standes und die individuelle Freiheit. Beide sind von dem Interesse dieser Klasse des Volkes eingegeben; denn dieses wird sowohl dann bedroht, wenn das ganze Volk mit Einschluß der Besitzlosen und Ungebildeten die Staatsgewalt in den Händen hat, als dann, wenn die letztere keine Schranke an der individuellen Freiheit anerkennt. Die Doktrin der liberalen Partei beruht zwar auf den Gedanken der Volks- souveränetät und der Gleichheit, aber bei dem Streben nach der Herrschaft des Mittelstandes sucht sie dieselben nicht konsequent und nach ihrem ganzen In¬ halte durchzuführen, sondern mir insoweit, als es zur Erlangung und Befestigung jener Herrschaft notwendig ist. Sie behauptet die Volkssouveränetät nur inso¬ fern, als sie lehrt, es müsse nicht sowohl nach dem Willen des Fürsten, sondern nach dem des Volkes regiert werden, d. h. der Fürst dürfe nicht als höhere Autorität über ihr bestehen. Wenn es aber dann gilt, den Gedanken der Volks- souverünctät positiv zu vertreten und das gesamte Volk gleichmäßig zur Herr¬ schaft zu berufen, verläßt sie jenen Gedanken und fordert nur die Herrschaft der Vermögenden und Gebildeten. Ebenso bekennt sich dieselbe zur Idee der Gleichheit gegenüber allen Stünden als solchen, weil sie nach ihren individua¬ listischen Grundsätzen keine organische Gliederung zugeben kann. Soll die Gleich¬ heit positiv durchgeführt werden, sollen auch die Unbemittelten dieselben poli¬ tischen Rechte wie sie erhalten, so versagt ihre Prinzipientreue, und sie verlangt für das Recht der Wahl einen Zensus, der jene ausschließt. Kurz, die Partei¬ stellung der Liberalen wird dadurch charakterisirt, daß sie die Grundsätze von 1789 nur halb verwirklichen will. Für die Herrschaft des Mittelstandes kommt es dann zunächst darauf an, den Begriff des Königtums als einer wirklichen Macht zu beseitigen, und die liberale Partei versucht dies durch Streben nach parlamentarischer Regierung, bei welcher das Königtum zwar der Form nach fortdauert, die Gewalt aber oder doch ihr Schwerpunkt in die Volksvertretung verlegt ist. Das konstitutionelle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/261>, abgerufen am 21.06.2024.