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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die Wurzeln des Tiberalismus.

dürfe, ist nicht zuerst von ihm, sondern von Sidney und Locke gezogen worden.
Wohl aber ist er der Urheber der Lehre von der Volkssouveränetät. Bis dahin
hatten die naturrechtlichen Philosophen gesagt: Die Menschen sind frei, können
aber sich ihrer Freiheit entäußern, sich vertragsmäßig einer Obrigkeit unter¬
ordnen. Rousseau leugnete das und lehrte, die Menschen konnten ihre Freiheit
so wenig abtreten wie ihr Leben. In dieser Unveräußerlichkeit der Freiheit
kulminirt die Entwicklung des Naturrechts, und aus ihr leitet Rousseau die
Unübertragbarkeit und Unumschränktheit der Volksgewalt und die absolute
Gleichheit aller her, die zusammen den Gedanken der Volkssouveränetät bilden.
Das Volk ist uach ihm nicht bloß Quelle der Obrigkeit, nicht bloß eine höhere
Macht über dieser, sondern selbst die Obrigkeit, selbst Inhaber und Ausüber
der Staatsgewalt. Wo ein Fürst besteht, besorgt er die Regierung auf Befehl
des Volkes und als Diener des Volkes, das ihn nicht bloß wegen Mißbrauchs seines
Amtes, sondern ganz nach Belieben absetzen kann. Eine Teilung der Gewalten,
wie sie das konstitutionelle System vorschreibt, ist unstatthaft, und namentlich
die vollziehende Gewalt darf nur durch Volksbefehl, nicht als ein Recht, nicht
unwiderruflich übertragen werden. Das Volk kann ferner seine Gewalt nur
unmittelbar, nicht durch Vertreter in einem Parlament ausüben; denn in diesem
Falle gäbe es nur einen Moment, den der Wahl, wo es frei wäre und einen
Willen hätte, und sofort nach dessen Verlauf wäre es Sklave der von ihm ge¬
wählten Versammlung. Die Gewalt des Volkes darf sodann nicht durch eine
Verfassung, ein Grundgesetz mit bleibender Giltigkeit und ebensowenig durch
Rechte der Individuen, "erworbene Rechte," beschränkt werden. Endlich müssen
die Menschen, wie sie nach ihrer ursprünglichen, ihnen eingebornen Freiheit
einander gleich sind, es auch bleiben. Jedes Zugeständnis eines Vorzugs an
einzelne ist darum unstatthaft. Unzulässig ist darnach jeder größere Anteil an
der gesetzgebenden Gewalt für den Adel, die Grundbesitzer, die Reichen, unzu¬
lässig ein besondrer Gerichtsstand und besondre Wechselfähigkeit, unzulässig
jede Korporation, Zunft, Innung, Universität mit Rechten, die andern nicht zu¬
stehen. Jeder Bürger muß in jedem Verhältnis dem andern unbedingt gleich
und für sich sein. In dieser absoluten Gleichheit und Vereinzelung sind sie das
Volk, welchem die Souveränetüt zukommt. Volkssouveränetät ist somit bei
Rousseau gleich Kopfzahl-Souveränetät.

Das alles stellt Rousseau nicht etwa als politisches Ideal und Ziel, son¬
dern als Rechtsgrundsatz hin. Es ist ewiges Recht der Menschennatur und
gilt überall von selbst und gleichmäßig, braucht also nicht erst eingeführt zu
werden. Wo etwas andres besteht, ist es null und nichtig, und das Volk
braucht nur das Recht, das es bereits besitzt, auch auszuüben. Damit ist der
Begriff der Empörung aufgehoben, die Erhebung der Unterthanen über die
Obrigkeit zum normalen Zustande erklärt und letztere nicht einer höhern Instanz,
dem Vvlkswillen, unterworfen, an den man in Notfällen appellirt, sondern
geradezu alle Obrigkeit geleugnet.


Die Wurzeln des Tiberalismus.

dürfe, ist nicht zuerst von ihm, sondern von Sidney und Locke gezogen worden.
Wohl aber ist er der Urheber der Lehre von der Volkssouveränetät. Bis dahin
hatten die naturrechtlichen Philosophen gesagt: Die Menschen sind frei, können
aber sich ihrer Freiheit entäußern, sich vertragsmäßig einer Obrigkeit unter¬
ordnen. Rousseau leugnete das und lehrte, die Menschen konnten ihre Freiheit
so wenig abtreten wie ihr Leben. In dieser Unveräußerlichkeit der Freiheit
kulminirt die Entwicklung des Naturrechts, und aus ihr leitet Rousseau die
Unübertragbarkeit und Unumschränktheit der Volksgewalt und die absolute
Gleichheit aller her, die zusammen den Gedanken der Volkssouveränetät bilden.
Das Volk ist uach ihm nicht bloß Quelle der Obrigkeit, nicht bloß eine höhere
Macht über dieser, sondern selbst die Obrigkeit, selbst Inhaber und Ausüber
der Staatsgewalt. Wo ein Fürst besteht, besorgt er die Regierung auf Befehl
des Volkes und als Diener des Volkes, das ihn nicht bloß wegen Mißbrauchs seines
Amtes, sondern ganz nach Belieben absetzen kann. Eine Teilung der Gewalten,
wie sie das konstitutionelle System vorschreibt, ist unstatthaft, und namentlich
die vollziehende Gewalt darf nur durch Volksbefehl, nicht als ein Recht, nicht
unwiderruflich übertragen werden. Das Volk kann ferner seine Gewalt nur
unmittelbar, nicht durch Vertreter in einem Parlament ausüben; denn in diesem
Falle gäbe es nur einen Moment, den der Wahl, wo es frei wäre und einen
Willen hätte, und sofort nach dessen Verlauf wäre es Sklave der von ihm ge¬
wählten Versammlung. Die Gewalt des Volkes darf sodann nicht durch eine
Verfassung, ein Grundgesetz mit bleibender Giltigkeit und ebensowenig durch
Rechte der Individuen, „erworbene Rechte," beschränkt werden. Endlich müssen
die Menschen, wie sie nach ihrer ursprünglichen, ihnen eingebornen Freiheit
einander gleich sind, es auch bleiben. Jedes Zugeständnis eines Vorzugs an
einzelne ist darum unstatthaft. Unzulässig ist darnach jeder größere Anteil an
der gesetzgebenden Gewalt für den Adel, die Grundbesitzer, die Reichen, unzu¬
lässig ein besondrer Gerichtsstand und besondre Wechselfähigkeit, unzulässig
jede Korporation, Zunft, Innung, Universität mit Rechten, die andern nicht zu¬
stehen. Jeder Bürger muß in jedem Verhältnis dem andern unbedingt gleich
und für sich sein. In dieser absoluten Gleichheit und Vereinzelung sind sie das
Volk, welchem die Souveränetüt zukommt. Volkssouveränetät ist somit bei
Rousseau gleich Kopfzahl-Souveränetät.

Das alles stellt Rousseau nicht etwa als politisches Ideal und Ziel, son¬
dern als Rechtsgrundsatz hin. Es ist ewiges Recht der Menschennatur und
gilt überall von selbst und gleichmäßig, braucht also nicht erst eingeführt zu
werden. Wo etwas andres besteht, ist es null und nichtig, und das Volk
braucht nur das Recht, das es bereits besitzt, auch auszuüben. Damit ist der
Begriff der Empörung aufgehoben, die Erhebung der Unterthanen über die
Obrigkeit zum normalen Zustande erklärt und letztere nicht einer höhern Instanz,
dem Vvlkswillen, unterworfen, an den man in Notfällen appellirt, sondern
geradezu alle Obrigkeit geleugnet.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/260>, abgerufen am 21.06.2024.