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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die Wurzeln des Liberalismus.

Das ist der wesentliche Inhalt des naturrechtlichen Systems, wie es von
Hugo Grotius begründet und von Pufendorf, Hobbes, Thomasius und Kant
ausgebildet worden ist. Es nimmt zum Ausgang einen Zustand der Wildheit
und Gesetzlosigkeit, es leitet Recht und Staat aus der Natur des Individuums,
nicht aus derjenigen der menschlichen Gemeinschaft und dem Berufe des Volkes
ab, und es hat zum Resultat die Grundsätze: die gesamte Rechtsordnung darf
nur durch und zweitens nur für die Freiheit der Menschen bestehen. So be¬
sitzen Staat und Obrigkeit Recht und Gewalt nur kraft stillschweigender Ein¬
willigung der Staatsangehörigen, es giebt keine Macht aus eignem Ansehen.
Alle Fürsten, Magistrate, Senate, Parlamente haben ihre Gewalt einzig da¬
durch, daß ihre Unterthanen ihnen die ihrige übertragen haben, daß sie deren
Willen vollziehen, deren Auftrag erfüllen, und geschieht das nicht, so kann die
erteilte Vollmacht zurückgenommen, d. h. die Obrigkeit abgesetzt werden. So
dürfen ferner die Gesetze und der Zwang zu deren Erfüllung keinen andern
Zweck haben als Sicherung des Rechts und der Freiheit der Individuen, und
Staatsordnungen mit andern Zwecken, z. B. dem der Erhaltung guter Sitte,
dem der Förderung des Wohlstandes, dem der Ausbildung zu höherem geistigen
Leben sind vernunftwidrig. Moralisches Handeln darf nicht vom Staate er¬
zwungen werden, sondern muß dem Belieben des Einzelnen überlassen bleiben,
der auch über sein Eigentum vollkommen unbeschränkt verfügt.

Eine derartige Auffassung des Staates war bisher noch nicht dagewesen.
Das ganze Altertum hatte denselben mit seiner Verfassung und Obrigkeit als
über den Bürgern stehend, als mit einer ihm selbst innewohnenden Autorität
ausgestattet, als durch Götter geheiligt und als seine Aufgabe nicht allein die
Freiheit und Sicherheit der Bürger, sondern auch das Streben nach nationalen
Zwecken, nach Ehrbarkeit und Schönheit der öffentlichen Sitte und die Erziehung
zur Weisheit und Tugend betrachtet. Ähnlich das Mittelalter, das als Ziel
der Herrschaft von Staat und Kirche, dieser beiden von Gott eingesetzten, nicht
durch Menschenvertrag entstandenen Gewalten, die Aufrechterhaltung einer be¬
stimmten Wahrheit und Ordnung ansah. Desgleichen endlich die Reformation,
die von geistlicher und weltlicher Obrigkeit nicht Freiheit, sondern Zucht, Hand¬
habung der göttlichen Gebote forderte. Es war der Rechtsphilosophie des sieb¬
zehnten und achtzehnten Jahrhunders vorbehalten, der Welt die Lehre zu ver¬
künden: ihr Menschen habt keiner Obrigkeit kraft einer sittlichen Ordnung zu
gehorchen, sondern bloß deshalb, weil, und bloß soweit als ihr sie gewollt habt,
und ihr habt in euerm öffentlichen Leben, in euerm nationalen Dasein keine
andre Aufgabe als die, eine wechselseitige Versicherungsanstalt gegen Diebe,
Betrüger, Sklavenjüger und Mörder zu bilden.

Wenn häufig angenommen wird, Rousseau, der Verfasser des Qontrat
soviel, sei der Vater der Lehre vom Staatsverträge, so ist dies, wie wir sehen,
ein Irrtum. Auch die Konsequenz derselben, daß das Volk den Fürsten absetzen


Die Wurzeln des Liberalismus.

Das ist der wesentliche Inhalt des naturrechtlichen Systems, wie es von
Hugo Grotius begründet und von Pufendorf, Hobbes, Thomasius und Kant
ausgebildet worden ist. Es nimmt zum Ausgang einen Zustand der Wildheit
und Gesetzlosigkeit, es leitet Recht und Staat aus der Natur des Individuums,
nicht aus derjenigen der menschlichen Gemeinschaft und dem Berufe des Volkes
ab, und es hat zum Resultat die Grundsätze: die gesamte Rechtsordnung darf
nur durch und zweitens nur für die Freiheit der Menschen bestehen. So be¬
sitzen Staat und Obrigkeit Recht und Gewalt nur kraft stillschweigender Ein¬
willigung der Staatsangehörigen, es giebt keine Macht aus eignem Ansehen.
Alle Fürsten, Magistrate, Senate, Parlamente haben ihre Gewalt einzig da¬
durch, daß ihre Unterthanen ihnen die ihrige übertragen haben, daß sie deren
Willen vollziehen, deren Auftrag erfüllen, und geschieht das nicht, so kann die
erteilte Vollmacht zurückgenommen, d. h. die Obrigkeit abgesetzt werden. So
dürfen ferner die Gesetze und der Zwang zu deren Erfüllung keinen andern
Zweck haben als Sicherung des Rechts und der Freiheit der Individuen, und
Staatsordnungen mit andern Zwecken, z. B. dem der Erhaltung guter Sitte,
dem der Förderung des Wohlstandes, dem der Ausbildung zu höherem geistigen
Leben sind vernunftwidrig. Moralisches Handeln darf nicht vom Staate er¬
zwungen werden, sondern muß dem Belieben des Einzelnen überlassen bleiben,
der auch über sein Eigentum vollkommen unbeschränkt verfügt.

Eine derartige Auffassung des Staates war bisher noch nicht dagewesen.
Das ganze Altertum hatte denselben mit seiner Verfassung und Obrigkeit als
über den Bürgern stehend, als mit einer ihm selbst innewohnenden Autorität
ausgestattet, als durch Götter geheiligt und als seine Aufgabe nicht allein die
Freiheit und Sicherheit der Bürger, sondern auch das Streben nach nationalen
Zwecken, nach Ehrbarkeit und Schönheit der öffentlichen Sitte und die Erziehung
zur Weisheit und Tugend betrachtet. Ähnlich das Mittelalter, das als Ziel
der Herrschaft von Staat und Kirche, dieser beiden von Gott eingesetzten, nicht
durch Menschenvertrag entstandenen Gewalten, die Aufrechterhaltung einer be¬
stimmten Wahrheit und Ordnung ansah. Desgleichen endlich die Reformation,
die von geistlicher und weltlicher Obrigkeit nicht Freiheit, sondern Zucht, Hand¬
habung der göttlichen Gebote forderte. Es war der Rechtsphilosophie des sieb¬
zehnten und achtzehnten Jahrhunders vorbehalten, der Welt die Lehre zu ver¬
künden: ihr Menschen habt keiner Obrigkeit kraft einer sittlichen Ordnung zu
gehorchen, sondern bloß deshalb, weil, und bloß soweit als ihr sie gewollt habt,
und ihr habt in euerm öffentlichen Leben, in euerm nationalen Dasein keine
andre Aufgabe als die, eine wechselseitige Versicherungsanstalt gegen Diebe,
Betrüger, Sklavenjüger und Mörder zu bilden.

Wenn häufig angenommen wird, Rousseau, der Verfasser des Qontrat
soviel, sei der Vater der Lehre vom Staatsverträge, so ist dies, wie wir sehen,
ein Irrtum. Auch die Konsequenz derselben, daß das Volk den Fürsten absetzen


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[0259] Die Wurzeln des Liberalismus. Das ist der wesentliche Inhalt des naturrechtlichen Systems, wie es von Hugo Grotius begründet und von Pufendorf, Hobbes, Thomasius und Kant ausgebildet worden ist. Es nimmt zum Ausgang einen Zustand der Wildheit und Gesetzlosigkeit, es leitet Recht und Staat aus der Natur des Individuums, nicht aus derjenigen der menschlichen Gemeinschaft und dem Berufe des Volkes ab, und es hat zum Resultat die Grundsätze: die gesamte Rechtsordnung darf nur durch und zweitens nur für die Freiheit der Menschen bestehen. So be¬ sitzen Staat und Obrigkeit Recht und Gewalt nur kraft stillschweigender Ein¬ willigung der Staatsangehörigen, es giebt keine Macht aus eignem Ansehen. Alle Fürsten, Magistrate, Senate, Parlamente haben ihre Gewalt einzig da¬ durch, daß ihre Unterthanen ihnen die ihrige übertragen haben, daß sie deren Willen vollziehen, deren Auftrag erfüllen, und geschieht das nicht, so kann die erteilte Vollmacht zurückgenommen, d. h. die Obrigkeit abgesetzt werden. So dürfen ferner die Gesetze und der Zwang zu deren Erfüllung keinen andern Zweck haben als Sicherung des Rechts und der Freiheit der Individuen, und Staatsordnungen mit andern Zwecken, z. B. dem der Erhaltung guter Sitte, dem der Förderung des Wohlstandes, dem der Ausbildung zu höherem geistigen Leben sind vernunftwidrig. Moralisches Handeln darf nicht vom Staate er¬ zwungen werden, sondern muß dem Belieben des Einzelnen überlassen bleiben, der auch über sein Eigentum vollkommen unbeschränkt verfügt. Eine derartige Auffassung des Staates war bisher noch nicht dagewesen. Das ganze Altertum hatte denselben mit seiner Verfassung und Obrigkeit als über den Bürgern stehend, als mit einer ihm selbst innewohnenden Autorität ausgestattet, als durch Götter geheiligt und als seine Aufgabe nicht allein die Freiheit und Sicherheit der Bürger, sondern auch das Streben nach nationalen Zwecken, nach Ehrbarkeit und Schönheit der öffentlichen Sitte und die Erziehung zur Weisheit und Tugend betrachtet. Ähnlich das Mittelalter, das als Ziel der Herrschaft von Staat und Kirche, dieser beiden von Gott eingesetzten, nicht durch Menschenvertrag entstandenen Gewalten, die Aufrechterhaltung einer be¬ stimmten Wahrheit und Ordnung ansah. Desgleichen endlich die Reformation, die von geistlicher und weltlicher Obrigkeit nicht Freiheit, sondern Zucht, Hand¬ habung der göttlichen Gebote forderte. Es war der Rechtsphilosophie des sieb¬ zehnten und achtzehnten Jahrhunders vorbehalten, der Welt die Lehre zu ver¬ künden: ihr Menschen habt keiner Obrigkeit kraft einer sittlichen Ordnung zu gehorchen, sondern bloß deshalb, weil, und bloß soweit als ihr sie gewollt habt, und ihr habt in euerm öffentlichen Leben, in euerm nationalen Dasein keine andre Aufgabe als die, eine wechselseitige Versicherungsanstalt gegen Diebe, Betrüger, Sklavenjüger und Mörder zu bilden. Wenn häufig angenommen wird, Rousseau, der Verfasser des Qontrat soviel, sei der Vater der Lehre vom Staatsverträge, so ist dies, wie wir sehen, ein Irrtum. Auch die Konsequenz derselben, daß das Volk den Fürsten absetzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/259>, abgerufen am 21.06.2024.