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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die Wurzeln dos Liberalismus.

die Wurzel derselben ist anderswo zu suchen. Wir finden sie bei den Liberalen
in den Ergebnissen des politischen Philosophirens des vorigen Jahrhunderts:
alle Nuancen des Liberalismus werden, die einen mehr als die andern, die
einen bewußt, die andern ohne ihr Wissen und Wollen, von den Ideen regiert,
die, von den englischen Individualisten, vorzüglich von Locke, ausgegangen, in
der Revolution von 1789 für einige Zeit in Frankreich zu ausschließlicher
Geltung kamen. Die Liberalen dagegen wollen, je nach ihrer Fraktion, mehr
oder minder maßvolle und eingeschränkte Verwirklichung dieser Ideen, weil sie
ihrer Standesintercssen halber sowohl in den betreffenden Einrichtungen als in
den Mitteln zu deren Herbeiführung das Extreme zu scheuen haben. Mit
andern Worten: Nationalliberale, Deutschfrcisinnige, Demokraten und Republi¬
kaner sind ihrer Grundtheorie nach Glieder einer und derselben Familie und
nur durch die Art der Anwendung dieser Theorie und das Maß der Be¬
schränkung derselben unter so oder so bewandten Umständen von einander ge¬
trennt. Bei den Nationalliberalen beschränkt das nationale Interesse die Geltung
der Gedanken von 1789 wesentlich, bei ihren nächsten Nachbarn nach links
hin ist dies weniger, bei den Radikalen garnicht der Fall, und mir die Be¬
geisterung und der naive Glaube an die siegreiche und seligmachende Kraft der¬
selben, die sie einst begleiteten, sind hier erloschen.

Betrachten wir die Wurzel des Liberalismus, die ans Frankreich impor-
tirte Grundthevrie desselben, genauer, so gewahren wir, daß sie ans einer
Verschmelzung der Lehren des Naturrechts mit der ihnen innerlich verwandten
Doktrin von der Volkssouveränetät besteht. Der Gedankengang der Natur-
rechtslehre ist folgender: Die positiven Gesetze eines Staates sind bloß deshalb,
weil sie bestehen, noch nicht vernünftig, sondern deshalb, weil, und so weit
als sie einem Gesetze der Menschennatur entspringen, das vor aller bürgerlichen
Gesellschaft existirte und die Menschen zur Herstellung der letzteren, zur
Schöpfung und Anerkennung rechtlicher Normen nötigte. Es ist das Gesetz
der Koexistenz. Der Mensch hat im Naturzustande unbegrenzte Freiheit, aber
diese haben alle gleichmäßig, und damit würden sie gegenseitig ihre Freiheit
aufheben, sich selbst vernichten, und so gebietet die Vernunft jedem, sich seiner
Freiheit nur so weit zu bedienen, daß die der andern dabei bestehen kann.
Daraus ergiebt sich zunächst die Notwendigkeit, daß die Menschen gegenseitig
die Unverletzlichkeit ihrer Person anerkennen und sich Mein und Dein zugestehen,
ferner die, daß sie zu einer Gesellschaft zusammentreten, um durch gemeinsame
Macht Leben und Eigentum gegen Verletzung durch einzelne zu schützen. Diese
Gesellschaft ist der Staat, dessen Zweck somit lediglich in Sicherstellung des
Lebens, des Besitzes und der Verträge besteht, und der für keinerlei andre
Zwecke Gesetze geben oder Zwang üben kann. Der Staat kann, da jeder so
frei ist wie der andre, nur durch freie Einwilligung, durch Vertrag aller zu-
stande kommen, und ebenso kann nur auf diesem Wege die Obrigkeit desselben
bestellt werden.


Die Wurzeln dos Liberalismus.

die Wurzel derselben ist anderswo zu suchen. Wir finden sie bei den Liberalen
in den Ergebnissen des politischen Philosophirens des vorigen Jahrhunderts:
alle Nuancen des Liberalismus werden, die einen mehr als die andern, die
einen bewußt, die andern ohne ihr Wissen und Wollen, von den Ideen regiert,
die, von den englischen Individualisten, vorzüglich von Locke, ausgegangen, in
der Revolution von 1789 für einige Zeit in Frankreich zu ausschließlicher
Geltung kamen. Die Liberalen dagegen wollen, je nach ihrer Fraktion, mehr
oder minder maßvolle und eingeschränkte Verwirklichung dieser Ideen, weil sie
ihrer Standesintercssen halber sowohl in den betreffenden Einrichtungen als in
den Mitteln zu deren Herbeiführung das Extreme zu scheuen haben. Mit
andern Worten: Nationalliberale, Deutschfrcisinnige, Demokraten und Republi¬
kaner sind ihrer Grundtheorie nach Glieder einer und derselben Familie und
nur durch die Art der Anwendung dieser Theorie und das Maß der Be¬
schränkung derselben unter so oder so bewandten Umständen von einander ge¬
trennt. Bei den Nationalliberalen beschränkt das nationale Interesse die Geltung
der Gedanken von 1789 wesentlich, bei ihren nächsten Nachbarn nach links
hin ist dies weniger, bei den Radikalen garnicht der Fall, und mir die Be¬
geisterung und der naive Glaube an die siegreiche und seligmachende Kraft der¬
selben, die sie einst begleiteten, sind hier erloschen.

Betrachten wir die Wurzel des Liberalismus, die ans Frankreich impor-
tirte Grundthevrie desselben, genauer, so gewahren wir, daß sie ans einer
Verschmelzung der Lehren des Naturrechts mit der ihnen innerlich verwandten
Doktrin von der Volkssouveränetät besteht. Der Gedankengang der Natur-
rechtslehre ist folgender: Die positiven Gesetze eines Staates sind bloß deshalb,
weil sie bestehen, noch nicht vernünftig, sondern deshalb, weil, und so weit
als sie einem Gesetze der Menschennatur entspringen, das vor aller bürgerlichen
Gesellschaft existirte und die Menschen zur Herstellung der letzteren, zur
Schöpfung und Anerkennung rechtlicher Normen nötigte. Es ist das Gesetz
der Koexistenz. Der Mensch hat im Naturzustande unbegrenzte Freiheit, aber
diese haben alle gleichmäßig, und damit würden sie gegenseitig ihre Freiheit
aufheben, sich selbst vernichten, und so gebietet die Vernunft jedem, sich seiner
Freiheit nur so weit zu bedienen, daß die der andern dabei bestehen kann.
Daraus ergiebt sich zunächst die Notwendigkeit, daß die Menschen gegenseitig
die Unverletzlichkeit ihrer Person anerkennen und sich Mein und Dein zugestehen,
ferner die, daß sie zu einer Gesellschaft zusammentreten, um durch gemeinsame
Macht Leben und Eigentum gegen Verletzung durch einzelne zu schützen. Diese
Gesellschaft ist der Staat, dessen Zweck somit lediglich in Sicherstellung des
Lebens, des Besitzes und der Verträge besteht, und der für keinerlei andre
Zwecke Gesetze geben oder Zwang üben kann. Der Staat kann, da jeder so
frei ist wie der andre, nur durch freie Einwilligung, durch Vertrag aller zu-
stande kommen, und ebenso kann nur auf diesem Wege die Obrigkeit desselben
bestellt werden.


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[0258] Die Wurzeln dos Liberalismus. die Wurzel derselben ist anderswo zu suchen. Wir finden sie bei den Liberalen in den Ergebnissen des politischen Philosophirens des vorigen Jahrhunderts: alle Nuancen des Liberalismus werden, die einen mehr als die andern, die einen bewußt, die andern ohne ihr Wissen und Wollen, von den Ideen regiert, die, von den englischen Individualisten, vorzüglich von Locke, ausgegangen, in der Revolution von 1789 für einige Zeit in Frankreich zu ausschließlicher Geltung kamen. Die Liberalen dagegen wollen, je nach ihrer Fraktion, mehr oder minder maßvolle und eingeschränkte Verwirklichung dieser Ideen, weil sie ihrer Standesintercssen halber sowohl in den betreffenden Einrichtungen als in den Mitteln zu deren Herbeiführung das Extreme zu scheuen haben. Mit andern Worten: Nationalliberale, Deutschfrcisinnige, Demokraten und Republi¬ kaner sind ihrer Grundtheorie nach Glieder einer und derselben Familie und nur durch die Art der Anwendung dieser Theorie und das Maß der Be¬ schränkung derselben unter so oder so bewandten Umständen von einander ge¬ trennt. Bei den Nationalliberalen beschränkt das nationale Interesse die Geltung der Gedanken von 1789 wesentlich, bei ihren nächsten Nachbarn nach links hin ist dies weniger, bei den Radikalen garnicht der Fall, und mir die Be¬ geisterung und der naive Glaube an die siegreiche und seligmachende Kraft der¬ selben, die sie einst begleiteten, sind hier erloschen. Betrachten wir die Wurzel des Liberalismus, die ans Frankreich impor- tirte Grundthevrie desselben, genauer, so gewahren wir, daß sie ans einer Verschmelzung der Lehren des Naturrechts mit der ihnen innerlich verwandten Doktrin von der Volkssouveränetät besteht. Der Gedankengang der Natur- rechtslehre ist folgender: Die positiven Gesetze eines Staates sind bloß deshalb, weil sie bestehen, noch nicht vernünftig, sondern deshalb, weil, und so weit als sie einem Gesetze der Menschennatur entspringen, das vor aller bürgerlichen Gesellschaft existirte und die Menschen zur Herstellung der letzteren, zur Schöpfung und Anerkennung rechtlicher Normen nötigte. Es ist das Gesetz der Koexistenz. Der Mensch hat im Naturzustande unbegrenzte Freiheit, aber diese haben alle gleichmäßig, und damit würden sie gegenseitig ihre Freiheit aufheben, sich selbst vernichten, und so gebietet die Vernunft jedem, sich seiner Freiheit nur so weit zu bedienen, daß die der andern dabei bestehen kann. Daraus ergiebt sich zunächst die Notwendigkeit, daß die Menschen gegenseitig die Unverletzlichkeit ihrer Person anerkennen und sich Mein und Dein zugestehen, ferner die, daß sie zu einer Gesellschaft zusammentreten, um durch gemeinsame Macht Leben und Eigentum gegen Verletzung durch einzelne zu schützen. Diese Gesellschaft ist der Staat, dessen Zweck somit lediglich in Sicherstellung des Lebens, des Besitzes und der Verträge besteht, und der für keinerlei andre Zwecke Gesetze geben oder Zwang üben kann. Der Staat kann, da jeder so frei ist wie der andre, nur durch freie Einwilligung, durch Vertrag aller zu- stande kommen, und ebenso kann nur auf diesem Wege die Obrigkeit desselben bestellt werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/258>, abgerufen am 21.06.2024.