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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Eine Übersetzung von Goethes Faust.

umfassender als das Wort subjektiv; es bedeutet alles, was überhaupt die
Grenzen der Erfahrung übersteigt. Es schränkt den Idealismus nicht ein auf
das Subjekt, den einzelnen Mensche", der ihn mit sich herumträgt, sondern es
weist allen geistigen Kräften von vornherein ihren Ursprung in einem Gebiete
an, welches die Erfahrung übersteigt, welches also ganz und gar verschieden ist
von allem, was der Erfahrung unterliegt; das Transcendentale ist aber dadurch
uicht eingeschränkt auf einen bestimmten Sitz im Subjekt, etwa im Gehirn des
Menschen, sondern ganz allgemein giltig für alle Menschen als notwendige Vor¬
bedingung für alle Erfahrung; daher sich dann der empirische Realismus als
die Theorie der Erfahrung sinnlicher Dinge außer uns unmittelbar daran an¬
schließt. Weil aber dieser trauscendeutale Idealismus gleich nach dem Erscheinen
der "Kritik der reinen Vernunft" verwechselt wurde mit dem alten subjektiven
Idealismus, wie es noch heutzutage geschieht, so erklärte Kant in den Prolego-
mena später, daß er den Namen für sein System lieber zurückziehen und es
statt dessen Kritizismus nennen wolle.

Aber die Zeit war noch nicht reif für den großartigen Fortschritt, den
Kant in der Erkenntnis der Vernunft gemacht hatte. Alle Irrtümer, die er
widerlegt hatte, tauchten unverändert nach ihm wieder auf, besonders der sub¬
jektive Idealismus in seinen sogenannten großen Nachfolgern von Fichte bis
Kuno Fischer. Man würde ihn jetzt vielleicht mit Recht den stumpfsinnigen
Idealismus nennen können, weil er auf einer mißverstandenen Auffassung Kants
beruht und weiter nichts geleistet hat, als zuerst mit einem enormen Hochmut
sich die Herrschaft über alle Wissenschaften anzumaßen, um dann dieselbe wieder
nach Art eines kindischen Greises aus der Hand zu verlieren und die Philo¬
sophie überhaupt in Mißkredit zu bringen. Heutzutage muß jede Philosophie,
die beachtet werden will, ihren Geburth- und Taufschein vom Realismus aus¬
weisen, sonst hält man sie für überflüssiges Geschwätz. Aber dieser Realismus,
den man heute überall verlangt, ist nicht der Kantische, der sich stützt auf den
transcendentalen Idealismus, welcher die Theorie der Erfahrung enthielt, mit
scharfen Kriterien für das, was wahr oder falsch ist, möglich oder unmöglich
zu erkennen ist, sondern der vorkcmtische, englische, von Bacon begründete, der
durch Hume bereits an das Ziel des völligen Skeptizismus geführt wurde, der
Empirismus, der garnicht vorher die Fähigkeiten des Erkenntnisvermögens unter¬
suchte, sondern die induktive Methode zur alleinigen Regel aller Wissenschaft
erhob und schließlich den Begriff der Wahrheit in der Erfahrung ganz verlor,
da er denselben in den der größten Wahrscheinlichkeit verfälschte. Dieser kritik¬
lose Realismus verbindet sich, da er keine Kriterien der Wahrheit besitzt und
zuletzt immer an allem zweifeln muß, gelegentlich wieder mit dem Idealismus
und selbst mit Mystizismus allerlei Art, wie zahlreiche Erscheinungen in unsrer
Literatur beweisen.


Eine Übersetzung von Goethes Faust.

umfassender als das Wort subjektiv; es bedeutet alles, was überhaupt die
Grenzen der Erfahrung übersteigt. Es schränkt den Idealismus nicht ein auf
das Subjekt, den einzelnen Mensche», der ihn mit sich herumträgt, sondern es
weist allen geistigen Kräften von vornherein ihren Ursprung in einem Gebiete
an, welches die Erfahrung übersteigt, welches also ganz und gar verschieden ist
von allem, was der Erfahrung unterliegt; das Transcendentale ist aber dadurch
uicht eingeschränkt auf einen bestimmten Sitz im Subjekt, etwa im Gehirn des
Menschen, sondern ganz allgemein giltig für alle Menschen als notwendige Vor¬
bedingung für alle Erfahrung; daher sich dann der empirische Realismus als
die Theorie der Erfahrung sinnlicher Dinge außer uns unmittelbar daran an¬
schließt. Weil aber dieser trauscendeutale Idealismus gleich nach dem Erscheinen
der „Kritik der reinen Vernunft" verwechselt wurde mit dem alten subjektiven
Idealismus, wie es noch heutzutage geschieht, so erklärte Kant in den Prolego-
mena später, daß er den Namen für sein System lieber zurückziehen und es
statt dessen Kritizismus nennen wolle.

Aber die Zeit war noch nicht reif für den großartigen Fortschritt, den
Kant in der Erkenntnis der Vernunft gemacht hatte. Alle Irrtümer, die er
widerlegt hatte, tauchten unverändert nach ihm wieder auf, besonders der sub¬
jektive Idealismus in seinen sogenannten großen Nachfolgern von Fichte bis
Kuno Fischer. Man würde ihn jetzt vielleicht mit Recht den stumpfsinnigen
Idealismus nennen können, weil er auf einer mißverstandenen Auffassung Kants
beruht und weiter nichts geleistet hat, als zuerst mit einem enormen Hochmut
sich die Herrschaft über alle Wissenschaften anzumaßen, um dann dieselbe wieder
nach Art eines kindischen Greises aus der Hand zu verlieren und die Philo¬
sophie überhaupt in Mißkredit zu bringen. Heutzutage muß jede Philosophie,
die beachtet werden will, ihren Geburth- und Taufschein vom Realismus aus¬
weisen, sonst hält man sie für überflüssiges Geschwätz. Aber dieser Realismus,
den man heute überall verlangt, ist nicht der Kantische, der sich stützt auf den
transcendentalen Idealismus, welcher die Theorie der Erfahrung enthielt, mit
scharfen Kriterien für das, was wahr oder falsch ist, möglich oder unmöglich
zu erkennen ist, sondern der vorkcmtische, englische, von Bacon begründete, der
durch Hume bereits an das Ziel des völligen Skeptizismus geführt wurde, der
Empirismus, der garnicht vorher die Fähigkeiten des Erkenntnisvermögens unter¬
suchte, sondern die induktive Methode zur alleinigen Regel aller Wissenschaft
erhob und schließlich den Begriff der Wahrheit in der Erfahrung ganz verlor,
da er denselben in den der größten Wahrscheinlichkeit verfälschte. Dieser kritik¬
lose Realismus verbindet sich, da er keine Kriterien der Wahrheit besitzt und
zuletzt immer an allem zweifeln muß, gelegentlich wieder mit dem Idealismus
und selbst mit Mystizismus allerlei Art, wie zahlreiche Erscheinungen in unsrer
Literatur beweisen.


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[0237] Eine Übersetzung von Goethes Faust. umfassender als das Wort subjektiv; es bedeutet alles, was überhaupt die Grenzen der Erfahrung übersteigt. Es schränkt den Idealismus nicht ein auf das Subjekt, den einzelnen Mensche», der ihn mit sich herumträgt, sondern es weist allen geistigen Kräften von vornherein ihren Ursprung in einem Gebiete an, welches die Erfahrung übersteigt, welches also ganz und gar verschieden ist von allem, was der Erfahrung unterliegt; das Transcendentale ist aber dadurch uicht eingeschränkt auf einen bestimmten Sitz im Subjekt, etwa im Gehirn des Menschen, sondern ganz allgemein giltig für alle Menschen als notwendige Vor¬ bedingung für alle Erfahrung; daher sich dann der empirische Realismus als die Theorie der Erfahrung sinnlicher Dinge außer uns unmittelbar daran an¬ schließt. Weil aber dieser trauscendeutale Idealismus gleich nach dem Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft" verwechselt wurde mit dem alten subjektiven Idealismus, wie es noch heutzutage geschieht, so erklärte Kant in den Prolego- mena später, daß er den Namen für sein System lieber zurückziehen und es statt dessen Kritizismus nennen wolle. Aber die Zeit war noch nicht reif für den großartigen Fortschritt, den Kant in der Erkenntnis der Vernunft gemacht hatte. Alle Irrtümer, die er widerlegt hatte, tauchten unverändert nach ihm wieder auf, besonders der sub¬ jektive Idealismus in seinen sogenannten großen Nachfolgern von Fichte bis Kuno Fischer. Man würde ihn jetzt vielleicht mit Recht den stumpfsinnigen Idealismus nennen können, weil er auf einer mißverstandenen Auffassung Kants beruht und weiter nichts geleistet hat, als zuerst mit einem enormen Hochmut sich die Herrschaft über alle Wissenschaften anzumaßen, um dann dieselbe wieder nach Art eines kindischen Greises aus der Hand zu verlieren und die Philo¬ sophie überhaupt in Mißkredit zu bringen. Heutzutage muß jede Philosophie, die beachtet werden will, ihren Geburth- und Taufschein vom Realismus aus¬ weisen, sonst hält man sie für überflüssiges Geschwätz. Aber dieser Realismus, den man heute überall verlangt, ist nicht der Kantische, der sich stützt auf den transcendentalen Idealismus, welcher die Theorie der Erfahrung enthielt, mit scharfen Kriterien für das, was wahr oder falsch ist, möglich oder unmöglich zu erkennen ist, sondern der vorkcmtische, englische, von Bacon begründete, der durch Hume bereits an das Ziel des völligen Skeptizismus geführt wurde, der Empirismus, der garnicht vorher die Fähigkeiten des Erkenntnisvermögens unter¬ suchte, sondern die induktive Methode zur alleinigen Regel aller Wissenschaft erhob und schließlich den Begriff der Wahrheit in der Erfahrung ganz verlor, da er denselben in den der größten Wahrscheinlichkeit verfälschte. Dieser kritik¬ lose Realismus verbindet sich, da er keine Kriterien der Wahrheit besitzt und zuletzt immer an allem zweifeln muß, gelegentlich wieder mit dem Idealismus und selbst mit Mystizismus allerlei Art, wie zahlreiche Erscheinungen in unsrer Literatur beweisen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/237>, abgerufen am 28.09.2024.