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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Line Übersetzung von Goethes Laufe.

in der mangelhaften Anwendung des Verstandes, der häusig irrt, wenn er nicht
alle seine Kräfte zusammennimmt. Was die Sinne unsrer Anschauung liefern,
das ist immer als Wirklichkeit aufzufassen, ob wir es aber richtig beurteilen,
hängt von dem Gebrauch unsers Verstandes ab. Die folgenreichste That Kants
war die Entdeckung der spezifischen Verschiedenheit beider Seiten unsers Er¬
kenntnisvermögens, der Rezeptionen, des Anschauungsvermögens, in dem wir
uns passiv verhalten und Eindrücke durch Empfindung aufnehmen müssen, und
der Spontaneität, des Denkvermögens, der Verstandeskräfte, die durch die Sinnes¬
eindrücke zur eigenartigen Thätigkeit aufgerufen werden und aus den rohen
Stoffen der Sinnesempfindung Gegenstände der Wahrnehmung machen. Dadurch
ist das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Verstand, welches der alte Idea¬
lismus konstruirt hatte, als zwischen einer verworrenen, trüben, unklaren und
einer klaren Erkenntnis, vollständig geändert. Denn nach Kant ist weder die Sinn¬
lichkeit noch der Verstand allein imstande, irgendwelche Erkenntnisse zu schaffen,
sondern beide müssen zu diesem Zwecke stets zusammenwirken. Anschauungen
ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne.Anschauungen sind leer; beide zusammen
siud allein die Quelle, aus denen Erkenntnisse fließen können. Das ist der
Grundstein des Gebäudes der Kantischen Philosophie.

Andrerseits wird auch das Verhältnis von Verstand und Vernunft durch
Kant anders bestimmt, als es der Idealismus gewollt hatte. Während früher
beide als zwei spezifisch verschiedne Vermögen angesehen wurden, der Verstand
als das Vermögen für die gewöhnlichen Erkenntnisse, welche fürs praktische
Leben brauchbar sind, und die Vernunft als die höhere Kraft, welche göttliche,
ewige Dinge zu fassen vermag, so unterschied Kant uur den Verstand als das
Vermögen, zu urteilen, von der Vernunft als dem Vermögen, zu schließen. Da¬
durch ist dem Verstände allerdings ein andres Gebiet als Feld seiner Thätig¬
keit zugewiesen, nämlich alles, was auf sinnlicher Anschauung beruht, und die
Vernunft hat als ihr Gebiet die Ideen zugewiesen bekommen, die sich über die Er¬
fahrung hinaus erheben, wie die Ideen von Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Aber
die Grundkräfte sind in beiden nicht verschieden. Es sind immer dieselben Funk¬
tionen unsers Denkens, die Kategorien genannt, nur das Gebiet ihrer Anwen¬
dung ist ein verschiednes. Der Verstand kann sich über die irdische Erfahrung
hinaus zur Vernunft erheben. Ob das ihn, zur Befriedigung gereicht, ist eine andre
Frage. Kant selbst hat der Vernunft die Möglichkeit, an ihr Ziel zu kommen
und die Ideen wirklich zu erkennen, abgesprochen. Schiller und Goethe fanden
hier eine Lücke in seiner Philosophie, deren Ausfüllung sie als eine notwendige
Forderung betrachteten, aber selbst nicht vollenden konnten. Diese Lücke ist bei
Kants Nachfolgern die Mutter geworden für das Wiederaufleben des subjektiven
Idealismus, der uoch in unsern Tagen umherspukt.

Kant hatte seinem System den Doppelnamen transcendentaler Idealismus
und empirischer Realismus gegeben; denn das Wort transcendental ist weit


Line Übersetzung von Goethes Laufe.

in der mangelhaften Anwendung des Verstandes, der häusig irrt, wenn er nicht
alle seine Kräfte zusammennimmt. Was die Sinne unsrer Anschauung liefern,
das ist immer als Wirklichkeit aufzufassen, ob wir es aber richtig beurteilen,
hängt von dem Gebrauch unsers Verstandes ab. Die folgenreichste That Kants
war die Entdeckung der spezifischen Verschiedenheit beider Seiten unsers Er¬
kenntnisvermögens, der Rezeptionen, des Anschauungsvermögens, in dem wir
uns passiv verhalten und Eindrücke durch Empfindung aufnehmen müssen, und
der Spontaneität, des Denkvermögens, der Verstandeskräfte, die durch die Sinnes¬
eindrücke zur eigenartigen Thätigkeit aufgerufen werden und aus den rohen
Stoffen der Sinnesempfindung Gegenstände der Wahrnehmung machen. Dadurch
ist das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Verstand, welches der alte Idea¬
lismus konstruirt hatte, als zwischen einer verworrenen, trüben, unklaren und
einer klaren Erkenntnis, vollständig geändert. Denn nach Kant ist weder die Sinn¬
lichkeit noch der Verstand allein imstande, irgendwelche Erkenntnisse zu schaffen,
sondern beide müssen zu diesem Zwecke stets zusammenwirken. Anschauungen
ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne.Anschauungen sind leer; beide zusammen
siud allein die Quelle, aus denen Erkenntnisse fließen können. Das ist der
Grundstein des Gebäudes der Kantischen Philosophie.

Andrerseits wird auch das Verhältnis von Verstand und Vernunft durch
Kant anders bestimmt, als es der Idealismus gewollt hatte. Während früher
beide als zwei spezifisch verschiedne Vermögen angesehen wurden, der Verstand
als das Vermögen für die gewöhnlichen Erkenntnisse, welche fürs praktische
Leben brauchbar sind, und die Vernunft als die höhere Kraft, welche göttliche,
ewige Dinge zu fassen vermag, so unterschied Kant uur den Verstand als das
Vermögen, zu urteilen, von der Vernunft als dem Vermögen, zu schließen. Da¬
durch ist dem Verstände allerdings ein andres Gebiet als Feld seiner Thätig¬
keit zugewiesen, nämlich alles, was auf sinnlicher Anschauung beruht, und die
Vernunft hat als ihr Gebiet die Ideen zugewiesen bekommen, die sich über die Er¬
fahrung hinaus erheben, wie die Ideen von Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Aber
die Grundkräfte sind in beiden nicht verschieden. Es sind immer dieselben Funk¬
tionen unsers Denkens, die Kategorien genannt, nur das Gebiet ihrer Anwen¬
dung ist ein verschiednes. Der Verstand kann sich über die irdische Erfahrung
hinaus zur Vernunft erheben. Ob das ihn, zur Befriedigung gereicht, ist eine andre
Frage. Kant selbst hat der Vernunft die Möglichkeit, an ihr Ziel zu kommen
und die Ideen wirklich zu erkennen, abgesprochen. Schiller und Goethe fanden
hier eine Lücke in seiner Philosophie, deren Ausfüllung sie als eine notwendige
Forderung betrachteten, aber selbst nicht vollenden konnten. Diese Lücke ist bei
Kants Nachfolgern die Mutter geworden für das Wiederaufleben des subjektiven
Idealismus, der uoch in unsern Tagen umherspukt.

Kant hatte seinem System den Doppelnamen transcendentaler Idealismus
und empirischer Realismus gegeben; denn das Wort transcendental ist weit


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[0236] Line Übersetzung von Goethes Laufe. in der mangelhaften Anwendung des Verstandes, der häusig irrt, wenn er nicht alle seine Kräfte zusammennimmt. Was die Sinne unsrer Anschauung liefern, das ist immer als Wirklichkeit aufzufassen, ob wir es aber richtig beurteilen, hängt von dem Gebrauch unsers Verstandes ab. Die folgenreichste That Kants war die Entdeckung der spezifischen Verschiedenheit beider Seiten unsers Er¬ kenntnisvermögens, der Rezeptionen, des Anschauungsvermögens, in dem wir uns passiv verhalten und Eindrücke durch Empfindung aufnehmen müssen, und der Spontaneität, des Denkvermögens, der Verstandeskräfte, die durch die Sinnes¬ eindrücke zur eigenartigen Thätigkeit aufgerufen werden und aus den rohen Stoffen der Sinnesempfindung Gegenstände der Wahrnehmung machen. Dadurch ist das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Verstand, welches der alte Idea¬ lismus konstruirt hatte, als zwischen einer verworrenen, trüben, unklaren und einer klaren Erkenntnis, vollständig geändert. Denn nach Kant ist weder die Sinn¬ lichkeit noch der Verstand allein imstande, irgendwelche Erkenntnisse zu schaffen, sondern beide müssen zu diesem Zwecke stets zusammenwirken. Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne.Anschauungen sind leer; beide zusammen siud allein die Quelle, aus denen Erkenntnisse fließen können. Das ist der Grundstein des Gebäudes der Kantischen Philosophie. Andrerseits wird auch das Verhältnis von Verstand und Vernunft durch Kant anders bestimmt, als es der Idealismus gewollt hatte. Während früher beide als zwei spezifisch verschiedne Vermögen angesehen wurden, der Verstand als das Vermögen für die gewöhnlichen Erkenntnisse, welche fürs praktische Leben brauchbar sind, und die Vernunft als die höhere Kraft, welche göttliche, ewige Dinge zu fassen vermag, so unterschied Kant uur den Verstand als das Vermögen, zu urteilen, von der Vernunft als dem Vermögen, zu schließen. Da¬ durch ist dem Verstände allerdings ein andres Gebiet als Feld seiner Thätig¬ keit zugewiesen, nämlich alles, was auf sinnlicher Anschauung beruht, und die Vernunft hat als ihr Gebiet die Ideen zugewiesen bekommen, die sich über die Er¬ fahrung hinaus erheben, wie die Ideen von Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Aber die Grundkräfte sind in beiden nicht verschieden. Es sind immer dieselben Funk¬ tionen unsers Denkens, die Kategorien genannt, nur das Gebiet ihrer Anwen¬ dung ist ein verschiednes. Der Verstand kann sich über die irdische Erfahrung hinaus zur Vernunft erheben. Ob das ihn, zur Befriedigung gereicht, ist eine andre Frage. Kant selbst hat der Vernunft die Möglichkeit, an ihr Ziel zu kommen und die Ideen wirklich zu erkennen, abgesprochen. Schiller und Goethe fanden hier eine Lücke in seiner Philosophie, deren Ausfüllung sie als eine notwendige Forderung betrachteten, aber selbst nicht vollenden konnten. Diese Lücke ist bei Kants Nachfolgern die Mutter geworden für das Wiederaufleben des subjektiven Idealismus, der uoch in unsern Tagen umherspukt. Kant hatte seinem System den Doppelnamen transcendentaler Idealismus und empirischer Realismus gegeben; denn das Wort transcendental ist weit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/236>, abgerufen am 23.06.2024.