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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

und doch anspruchsvolle Technik vor. Kühler und richtiger schrieb damals
Knebel, nachdem er Schillers obenerwähnten Aufsatz gelesen, an Goethe (13. Januar
1796): "Vossens Luise ist nach meinem Urteile auf einen viel zu hohen Gipfel
gesetzt -- -- und was Dichtertalent betrifft, so möchte ich in der That einige
von Zacharias heroisch-komischen Gedichten lieber geschrieben haben." Später
erwarben sich die Romantiker das Verdienst, den Dichter Voß auf sein natürliches
Maß zurückzusetzen und z. B. zu verhindern, daß die "Luise" dem Goethischen
Epos gleichgestellt oder gar, wozu die Zeitgenossen alle Anstalt machten, ihm
vorgezogen wurde. Wenn A. W. Schlegel im "Athenäum" (Urteile, Gedanken
und Einfälle, 1798) äußerte: "Bei der Nachwelt wird es Luisen empfehlen
können, daß sie Dorothea zur Taufe gehalten hat," so sagte er eher zu wenig
als zuviel. Indeß ein glücklicher Fund und ein Verdienst war es immer, wenn
Voß auf das Leben einer Landpredigerfamilie, wo Einfalt und Bildung noch
beisammen sind, ein volles Licht fallen ließ. Wie reich an Menschlichkeit diese
Quelle ist, hat niemand schöner dargelegt als Goethe selbst am Ende des zweiten
Teils seiner Selbstbiographie, da wo er auf den Landprediger von Wakefield
zu reden kommt und dieses Werk nach Gebühr erhebt und würdigt. Er hatte
es schon in jungen Jahren in Straßburg durch Herder kennen gelernt, und als
er bald darauf in das Haus des Pfarrers von Sessenheim eingeführt wurde,
schien ihm alles, was er dort sah und hörte, wie die ins Leben getretene Fa¬
milie Primrose, so sehr, daß er nach so viel Jahren bei Beschreibung jener Men¬
schen und jener glücklichen Zeit fast unwillkürlich die Namen dem englischen
Roman entlehnte. Auch Lavater war ein Prediger, und auch in dessen Hause
ergriff ihn die Stille und Reinheit des Pfarrerlebens (an Knebel, 30. November
1779): "Hier bin ich bei Lavater, im reinsten Zusammeugenuß des Lebens.
In dem Kreise seiner Freunde ist eine Engelsstille und Ruh, bei allem Drange
der Welt nur ein anhaltendes Mitgenießcn von Freud und Schmerz. Doch hab
ich deutlich gesehen, daß es vorzüglich darin liegt, daß jeder sein Haus, Frau,
Kinder und eine reine menschliche Existenz in der nächsten Notdurft hat. Das
schließt an einander und speit, was feindlich ist, sogleich aus." Später wandte
er sich zwar von dem Züricher Propheten gänzlich ab, aber in der Gestalt des
Pfarrers von Grünau und in denen seiner Angehörigen schienen die alten
Bilder und Eindrücke wieder aufzuleben, und so hielt er sie nicht für unwert,
mit ihnen in eigenen Geisteswerken zu wetteifern und dies sogar öffentlich zu
bekennen.




Grenzboten IV. 1883.12
Gedanken über Goethe.

und doch anspruchsvolle Technik vor. Kühler und richtiger schrieb damals
Knebel, nachdem er Schillers obenerwähnten Aufsatz gelesen, an Goethe (13. Januar
1796): „Vossens Luise ist nach meinem Urteile auf einen viel zu hohen Gipfel
gesetzt — — und was Dichtertalent betrifft, so möchte ich in der That einige
von Zacharias heroisch-komischen Gedichten lieber geschrieben haben." Später
erwarben sich die Romantiker das Verdienst, den Dichter Voß auf sein natürliches
Maß zurückzusetzen und z. B. zu verhindern, daß die „Luise" dem Goethischen
Epos gleichgestellt oder gar, wozu die Zeitgenossen alle Anstalt machten, ihm
vorgezogen wurde. Wenn A. W. Schlegel im „Athenäum" (Urteile, Gedanken
und Einfälle, 1798) äußerte: „Bei der Nachwelt wird es Luisen empfehlen
können, daß sie Dorothea zur Taufe gehalten hat," so sagte er eher zu wenig
als zuviel. Indeß ein glücklicher Fund und ein Verdienst war es immer, wenn
Voß auf das Leben einer Landpredigerfamilie, wo Einfalt und Bildung noch
beisammen sind, ein volles Licht fallen ließ. Wie reich an Menschlichkeit diese
Quelle ist, hat niemand schöner dargelegt als Goethe selbst am Ende des zweiten
Teils seiner Selbstbiographie, da wo er auf den Landprediger von Wakefield
zu reden kommt und dieses Werk nach Gebühr erhebt und würdigt. Er hatte
es schon in jungen Jahren in Straßburg durch Herder kennen gelernt, und als
er bald darauf in das Haus des Pfarrers von Sessenheim eingeführt wurde,
schien ihm alles, was er dort sah und hörte, wie die ins Leben getretene Fa¬
milie Primrose, so sehr, daß er nach so viel Jahren bei Beschreibung jener Men¬
schen und jener glücklichen Zeit fast unwillkürlich die Namen dem englischen
Roman entlehnte. Auch Lavater war ein Prediger, und auch in dessen Hause
ergriff ihn die Stille und Reinheit des Pfarrerlebens (an Knebel, 30. November
1779): „Hier bin ich bei Lavater, im reinsten Zusammeugenuß des Lebens.
In dem Kreise seiner Freunde ist eine Engelsstille und Ruh, bei allem Drange
der Welt nur ein anhaltendes Mitgenießcn von Freud und Schmerz. Doch hab
ich deutlich gesehen, daß es vorzüglich darin liegt, daß jeder sein Haus, Frau,
Kinder und eine reine menschliche Existenz in der nächsten Notdurft hat. Das
schließt an einander und speit, was feindlich ist, sogleich aus." Später wandte
er sich zwar von dem Züricher Propheten gänzlich ab, aber in der Gestalt des
Pfarrers von Grünau und in denen seiner Angehörigen schienen die alten
Bilder und Eindrücke wieder aufzuleben, und so hielt er sie nicht für unwert,
mit ihnen in eigenen Geisteswerken zu wetteifern und dies sogar öffentlich zu
bekennen.




Grenzboten IV. 1883.12
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/99>, abgerufen am 27.07.2024.