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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

sentimentalen und rhetorischen Hange nachzugeben, auch den sprödesten Stoff zu
bewältigen und energisch und plastisch in körnigem Allsdruck zu gestalten wußte.
Darin gleicht das "Lied von der Glocke" dem "Wallenstein," dem es auch der
Zeit nach nahe liegt. Auch im "Wnlleustein" sind die realistischen Partien,
wie die Tafelszcncn im vierten Akt der "Piccolomini," die Unterredung Wallen-
steins mit Wrangel n> s. w., bewundernswerte Meisterwerke, während andre,
wie die Gestalten der beiden Liebenden, als blutlose Schatten, aus schönem
Redeschaum gebildet, wirkungslos an uns vorübergehen.

Noch andre Werke andrer Verfasser ließen sich zur Vergleichung heran¬
ziehen, so vor allein Voß mit der einst vielberühmten "Luise" und einigen der
kleineren Idyllen. Voß malt die einfachen Lebensumstände eines beschränkten
Kreises unverdorbener Menschen mit demselben Geschick für das Kleine, wie
manche Meister der niederländischen Schule, aber wie diesen fehlt auch seinen
Bildern der poetische Hauch, die leichte Behandlung, die milde Betrachtung, die
von selbst zur Ironie wird, also alle die Eigenschaften, durch welche Hebels
Gedichte so liebenswürdig werden. Die "Luise" wurde sowohl vou Schiller
als von Goethe bei weitem überschätzt: der erstere meint in einer Anmerkung
zu dem Aufsatz "Über naive und scntimentalische Dichtung," sie könne nur mit
griechischen Mustern verglichen werden; der andre entstellte sein rührendes Ge¬
dicht "Proömium zu Hermann und Dorothea" durch zwei Zeile" zum Preise
seines Vorgängers. Dürften wir mit Goethe Verfahren, wie die kritischen Philo¬
logen mit dem überlieferten Wortlaut antiker Dichter, wir würden dies Distichon
für spätere Zuthat eines Berliner oder Leipziger Jnterpolators erklären und
als solche ans dem Text entfernen. Auch in den A'enim war eines, wir wissen
nicht von welchem der beiden Verfasser, das der "Luise" mit besondrer Wärme
gedenkt:


Wahrlich, es füllt mit Wonne das Herz, dem Gesänge zu lauschen,
Ahmt ein Sänger wie der Töne des Altertums nach.

Damals schien dies Verspaar, rede" so vielem Zuchtlosen und Frechen, als
verdiente Huldigung; uns geht es jetzt umgekehrt: jene apollinischen Pfeile trafen
das kriechende Gewürm, zu diesem Preisgcsange zucken wir die Achseln. Schiller
war zu seinem Urteil, wie wir glauben, durch Goethe verführt worden, und
was Goethe selbst betrifft, so hatte in der Zeit, wo ihm das Vossische Gedicht
bekannt wurde, sein Blick und Geist eine Richtung genommen, die gerade auf
die "Luise" hinführte: sie enthielt, was in ihm aufgegangen war und was er
selbst bald in reinerer und tieferer Weise zur Darstellung bringen sollte. So
schaute er mehr hinein, in produktiver Weise, als in dem Gedichte selbst vorlag.
In diesem ist die Erfindung dürftig, die Personen sind aus Zügen zusammen¬
gesetzt, welche die Rücksicht auf ihren Stand, ihr Alter u. s. w. und das Nach¬
denken darüber geliefert hat, und aus Sprache und Vers drängt sich eine grobe


Gedanken über Goethe.

sentimentalen und rhetorischen Hange nachzugeben, auch den sprödesten Stoff zu
bewältigen und energisch und plastisch in körnigem Allsdruck zu gestalten wußte.
Darin gleicht das „Lied von der Glocke" dem „Wallenstein," dem es auch der
Zeit nach nahe liegt. Auch im „Wnlleustein" sind die realistischen Partien,
wie die Tafelszcncn im vierten Akt der „Piccolomini," die Unterredung Wallen-
steins mit Wrangel n> s. w., bewundernswerte Meisterwerke, während andre,
wie die Gestalten der beiden Liebenden, als blutlose Schatten, aus schönem
Redeschaum gebildet, wirkungslos an uns vorübergehen.

Noch andre Werke andrer Verfasser ließen sich zur Vergleichung heran¬
ziehen, so vor allein Voß mit der einst vielberühmten „Luise" und einigen der
kleineren Idyllen. Voß malt die einfachen Lebensumstände eines beschränkten
Kreises unverdorbener Menschen mit demselben Geschick für das Kleine, wie
manche Meister der niederländischen Schule, aber wie diesen fehlt auch seinen
Bildern der poetische Hauch, die leichte Behandlung, die milde Betrachtung, die
von selbst zur Ironie wird, also alle die Eigenschaften, durch welche Hebels
Gedichte so liebenswürdig werden. Die „Luise" wurde sowohl vou Schiller
als von Goethe bei weitem überschätzt: der erstere meint in einer Anmerkung
zu dem Aufsatz „Über naive und scntimentalische Dichtung," sie könne nur mit
griechischen Mustern verglichen werden; der andre entstellte sein rührendes Ge¬
dicht „Proömium zu Hermann und Dorothea" durch zwei Zeile» zum Preise
seines Vorgängers. Dürften wir mit Goethe Verfahren, wie die kritischen Philo¬
logen mit dem überlieferten Wortlaut antiker Dichter, wir würden dies Distichon
für spätere Zuthat eines Berliner oder Leipziger Jnterpolators erklären und
als solche ans dem Text entfernen. Auch in den A'enim war eines, wir wissen
nicht von welchem der beiden Verfasser, das der „Luise" mit besondrer Wärme
gedenkt:


Wahrlich, es füllt mit Wonne das Herz, dem Gesänge zu lauschen,
Ahmt ein Sänger wie der Töne des Altertums nach.

Damals schien dies Verspaar, rede» so vielem Zuchtlosen und Frechen, als
verdiente Huldigung; uns geht es jetzt umgekehrt: jene apollinischen Pfeile trafen
das kriechende Gewürm, zu diesem Preisgcsange zucken wir die Achseln. Schiller
war zu seinem Urteil, wie wir glauben, durch Goethe verführt worden, und
was Goethe selbst betrifft, so hatte in der Zeit, wo ihm das Vossische Gedicht
bekannt wurde, sein Blick und Geist eine Richtung genommen, die gerade auf
die „Luise" hinführte: sie enthielt, was in ihm aufgegangen war und was er
selbst bald in reinerer und tieferer Weise zur Darstellung bringen sollte. So
schaute er mehr hinein, in produktiver Weise, als in dem Gedichte selbst vorlag.
In diesem ist die Erfindung dürftig, die Personen sind aus Zügen zusammen¬
gesetzt, welche die Rücksicht auf ihren Stand, ihr Alter u. s. w. und das Nach¬
denken darüber geliefert hat, und aus Sprache und Vers drängt sich eine grobe


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[0098] Gedanken über Goethe. sentimentalen und rhetorischen Hange nachzugeben, auch den sprödesten Stoff zu bewältigen und energisch und plastisch in körnigem Allsdruck zu gestalten wußte. Darin gleicht das „Lied von der Glocke" dem „Wallenstein," dem es auch der Zeit nach nahe liegt. Auch im „Wnlleustein" sind die realistischen Partien, wie die Tafelszcncn im vierten Akt der „Piccolomini," die Unterredung Wallen- steins mit Wrangel n> s. w., bewundernswerte Meisterwerke, während andre, wie die Gestalten der beiden Liebenden, als blutlose Schatten, aus schönem Redeschaum gebildet, wirkungslos an uns vorübergehen. Noch andre Werke andrer Verfasser ließen sich zur Vergleichung heran¬ ziehen, so vor allein Voß mit der einst vielberühmten „Luise" und einigen der kleineren Idyllen. Voß malt die einfachen Lebensumstände eines beschränkten Kreises unverdorbener Menschen mit demselben Geschick für das Kleine, wie manche Meister der niederländischen Schule, aber wie diesen fehlt auch seinen Bildern der poetische Hauch, die leichte Behandlung, die milde Betrachtung, die von selbst zur Ironie wird, also alle die Eigenschaften, durch welche Hebels Gedichte so liebenswürdig werden. Die „Luise" wurde sowohl vou Schiller als von Goethe bei weitem überschätzt: der erstere meint in einer Anmerkung zu dem Aufsatz „Über naive und scntimentalische Dichtung," sie könne nur mit griechischen Mustern verglichen werden; der andre entstellte sein rührendes Ge¬ dicht „Proömium zu Hermann und Dorothea" durch zwei Zeile» zum Preise seines Vorgängers. Dürften wir mit Goethe Verfahren, wie die kritischen Philo¬ logen mit dem überlieferten Wortlaut antiker Dichter, wir würden dies Distichon für spätere Zuthat eines Berliner oder Leipziger Jnterpolators erklären und als solche ans dem Text entfernen. Auch in den A'enim war eines, wir wissen nicht von welchem der beiden Verfasser, das der „Luise" mit besondrer Wärme gedenkt: Wahrlich, es füllt mit Wonne das Herz, dem Gesänge zu lauschen, Ahmt ein Sänger wie der Töne des Altertums nach. Damals schien dies Verspaar, rede» so vielem Zuchtlosen und Frechen, als verdiente Huldigung; uns geht es jetzt umgekehrt: jene apollinischen Pfeile trafen das kriechende Gewürm, zu diesem Preisgcsange zucken wir die Achseln. Schiller war zu seinem Urteil, wie wir glauben, durch Goethe verführt worden, und was Goethe selbst betrifft, so hatte in der Zeit, wo ihm das Vossische Gedicht bekannt wurde, sein Blick und Geist eine Richtung genommen, die gerade auf die „Luise" hinführte: sie enthielt, was in ihm aufgegangen war und was er selbst bald in reinerer und tieferer Weise zur Darstellung bringen sollte. So schaute er mehr hinein, in produktiver Weise, als in dem Gedichte selbst vorlag. In diesem ist die Erfindung dürftig, die Personen sind aus Zügen zusammen¬ gesetzt, welche die Rücksicht auf ihren Stand, ihr Alter u. s. w. und das Nach¬ denken darüber geliefert hat, und aus Sprache und Vers drängt sich eine grobe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/98>, abgerufen am 27.07.2024.