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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

Beethovenschen Adagio anklingend an die gefährliche Verheißung, die dieser
Sehnsucht gegeben worden, während der Sehnsüchtige in der wehmütigen Wonne
dieser Elegie die Verheißung ganz vergessen hat. Aber die schwarze Gestalt
erscheint wie eine lächerliche und unbedeutende Zufälligkeit, durch die Fortsetzung
des Spazierganges rein äußerlich herbeigeführt. Der Zuhörer aber vernimmt
Accente, wie sie Beethoven in die scheinbare Malerei des Trivialen zu legen
weiß, die ihn mit unheimlicher Ahnung bedrängen.

Diese unvergleichliche Exposition hat der Dichter selbst zerstören müssen.
Über diese Tragödie selbst hat eine Tragik gewaltet. Indem der Dichter an
dem Schluß der ersten Szene, veranlaßt durch die veränderte Grundidee des
Gedichts, später Herrlichkeiten einschob, wie sie nie dem lyrischen Gesang ent¬
stiegen sind, hat er gerade die komplementären Stimmungen zerrisse". In
Paris hat man, als Beethovens Werke neu waren, das Adagio der ^.-äur-
Sinfonie in die V-Äur-Sinfonie eingeschoben, der Dichter des Faust aber hat
gehandelt, als hätte er auch noch das Adagio der v-aur-Sinfouie dazu spielen
lassen, oder als hätte er vor dem erschütternden Andante des ^-aur-Quartetts
aus dem D-moll-Quartett den Gesang der Menschheit eingeschoben, der zu
dem Thron des Allerbarmcrs steigt.

Verfolgen wir jetzt die ursprüngliche Komposition weiter. Auf die Expo¬
sition folgt die Fortentwicklung durch die Einführung des Mephistopheles bei
Faust, eines Dämons der Zerstörung, der sich nur einen Teufel nennt, weil
die Umrisse der Dichtung aus der alten Puppenspielfabcl entlehnt wurden.
Über diese Unterredung, über die folgende Szene in Auerbachs Keller, über die
Stellung beider Szenen im Organismus des Gedichts ist schon alles bemerkt.

An dem nun folgenden Teil des Dramas, der sich um die Gestalt Gretchens
bewegt, ist die wunderbare Kontinuität, die jeden Moment mit der kräftigsten
Plastik heraushebt, längst allseitig bemerkt worden. Und jeden Augenblick be¬
gleitet uns vou Anfang an die Spannung, daß die Entwicklung durch einen
Dämon der Zerstörung überwacht und geleitet wird, der Faust von seinem
Urquell durch Leid und Entsetzen abziehen will. In der jetzigen Gestalt des
Gedichts ist das Motiv umgekehrt und dadurch aller Wirkung beraubt worden.
Jetzt müßte Mephistopheles eigentlich Faust zum Eingehen eines normalen Bundes
lenken, weil Faust dann die Wette verliert. Mephistopheles' Verhalten erscheint
jetzt als grausame Lust, die seinen Hauptzweck zerstört, während Faust eigent¬
lich dem Mephistopheles danken müßte, daß er ihn vor dem Verlust der Wette
bewahrt.

Nachdem auch das Organische der Peripetie genugsam dargelegt ist, habe
ich wohl meine Behauptung von der plastischen Kontinuität des Ganzen gerecht¬
fertigt. Man nehme aber den Schluß hinzu: ein wahrer Kreisschluß, wo der
Erdgeist, dessen beide erste Erscheinungen bei der nur kurzen und äußerlichen
Unterbrechung als eine gefaßt werden können, wiederum vor Faust steht wie bei


Die Entstehung des Faust.

Beethovenschen Adagio anklingend an die gefährliche Verheißung, die dieser
Sehnsucht gegeben worden, während der Sehnsüchtige in der wehmütigen Wonne
dieser Elegie die Verheißung ganz vergessen hat. Aber die schwarze Gestalt
erscheint wie eine lächerliche und unbedeutende Zufälligkeit, durch die Fortsetzung
des Spazierganges rein äußerlich herbeigeführt. Der Zuhörer aber vernimmt
Accente, wie sie Beethoven in die scheinbare Malerei des Trivialen zu legen
weiß, die ihn mit unheimlicher Ahnung bedrängen.

Diese unvergleichliche Exposition hat der Dichter selbst zerstören müssen.
Über diese Tragödie selbst hat eine Tragik gewaltet. Indem der Dichter an
dem Schluß der ersten Szene, veranlaßt durch die veränderte Grundidee des
Gedichts, später Herrlichkeiten einschob, wie sie nie dem lyrischen Gesang ent¬
stiegen sind, hat er gerade die komplementären Stimmungen zerrisse». In
Paris hat man, als Beethovens Werke neu waren, das Adagio der ^.-äur-
Sinfonie in die V-Äur-Sinfonie eingeschoben, der Dichter des Faust aber hat
gehandelt, als hätte er auch noch das Adagio der v-aur-Sinfouie dazu spielen
lassen, oder als hätte er vor dem erschütternden Andante des ^-aur-Quartetts
aus dem D-moll-Quartett den Gesang der Menschheit eingeschoben, der zu
dem Thron des Allerbarmcrs steigt.

Verfolgen wir jetzt die ursprüngliche Komposition weiter. Auf die Expo¬
sition folgt die Fortentwicklung durch die Einführung des Mephistopheles bei
Faust, eines Dämons der Zerstörung, der sich nur einen Teufel nennt, weil
die Umrisse der Dichtung aus der alten Puppenspielfabcl entlehnt wurden.
Über diese Unterredung, über die folgende Szene in Auerbachs Keller, über die
Stellung beider Szenen im Organismus des Gedichts ist schon alles bemerkt.

An dem nun folgenden Teil des Dramas, der sich um die Gestalt Gretchens
bewegt, ist die wunderbare Kontinuität, die jeden Moment mit der kräftigsten
Plastik heraushebt, längst allseitig bemerkt worden. Und jeden Augenblick be¬
gleitet uns vou Anfang an die Spannung, daß die Entwicklung durch einen
Dämon der Zerstörung überwacht und geleitet wird, der Faust von seinem
Urquell durch Leid und Entsetzen abziehen will. In der jetzigen Gestalt des
Gedichts ist das Motiv umgekehrt und dadurch aller Wirkung beraubt worden.
Jetzt müßte Mephistopheles eigentlich Faust zum Eingehen eines normalen Bundes
lenken, weil Faust dann die Wette verliert. Mephistopheles' Verhalten erscheint
jetzt als grausame Lust, die seinen Hauptzweck zerstört, während Faust eigent¬
lich dem Mephistopheles danken müßte, daß er ihn vor dem Verlust der Wette
bewahrt.

Nachdem auch das Organische der Peripetie genugsam dargelegt ist, habe
ich wohl meine Behauptung von der plastischen Kontinuität des Ganzen gerecht¬
fertigt. Man nehme aber den Schluß hinzu: ein wahrer Kreisschluß, wo der
Erdgeist, dessen beide erste Erscheinungen bei der nur kurzen und äußerlichen
Unterbrechung als eine gefaßt werden können, wiederum vor Faust steht wie bei


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[0682] Die Entstehung des Faust. Beethovenschen Adagio anklingend an die gefährliche Verheißung, die dieser Sehnsucht gegeben worden, während der Sehnsüchtige in der wehmütigen Wonne dieser Elegie die Verheißung ganz vergessen hat. Aber die schwarze Gestalt erscheint wie eine lächerliche und unbedeutende Zufälligkeit, durch die Fortsetzung des Spazierganges rein äußerlich herbeigeführt. Der Zuhörer aber vernimmt Accente, wie sie Beethoven in die scheinbare Malerei des Trivialen zu legen weiß, die ihn mit unheimlicher Ahnung bedrängen. Diese unvergleichliche Exposition hat der Dichter selbst zerstören müssen. Über diese Tragödie selbst hat eine Tragik gewaltet. Indem der Dichter an dem Schluß der ersten Szene, veranlaßt durch die veränderte Grundidee des Gedichts, später Herrlichkeiten einschob, wie sie nie dem lyrischen Gesang ent¬ stiegen sind, hat er gerade die komplementären Stimmungen zerrisse». In Paris hat man, als Beethovens Werke neu waren, das Adagio der ^.-äur- Sinfonie in die V-Äur-Sinfonie eingeschoben, der Dichter des Faust aber hat gehandelt, als hätte er auch noch das Adagio der v-aur-Sinfouie dazu spielen lassen, oder als hätte er vor dem erschütternden Andante des ^-aur-Quartetts aus dem D-moll-Quartett den Gesang der Menschheit eingeschoben, der zu dem Thron des Allerbarmcrs steigt. Verfolgen wir jetzt die ursprüngliche Komposition weiter. Auf die Expo¬ sition folgt die Fortentwicklung durch die Einführung des Mephistopheles bei Faust, eines Dämons der Zerstörung, der sich nur einen Teufel nennt, weil die Umrisse der Dichtung aus der alten Puppenspielfabcl entlehnt wurden. Über diese Unterredung, über die folgende Szene in Auerbachs Keller, über die Stellung beider Szenen im Organismus des Gedichts ist schon alles bemerkt. An dem nun folgenden Teil des Dramas, der sich um die Gestalt Gretchens bewegt, ist die wunderbare Kontinuität, die jeden Moment mit der kräftigsten Plastik heraushebt, längst allseitig bemerkt worden. Und jeden Augenblick be¬ gleitet uns vou Anfang an die Spannung, daß die Entwicklung durch einen Dämon der Zerstörung überwacht und geleitet wird, der Faust von seinem Urquell durch Leid und Entsetzen abziehen will. In der jetzigen Gestalt des Gedichts ist das Motiv umgekehrt und dadurch aller Wirkung beraubt worden. Jetzt müßte Mephistopheles eigentlich Faust zum Eingehen eines normalen Bundes lenken, weil Faust dann die Wette verliert. Mephistopheles' Verhalten erscheint jetzt als grausame Lust, die seinen Hauptzweck zerstört, während Faust eigent¬ lich dem Mephistopheles danken müßte, daß er ihn vor dem Verlust der Wette bewahrt. Nachdem auch das Organische der Peripetie genugsam dargelegt ist, habe ich wohl meine Behauptung von der plastischen Kontinuität des Ganzen gerecht¬ fertigt. Man nehme aber den Schluß hinzu: ein wahrer Kreisschluß, wo der Erdgeist, dessen beide erste Erscheinungen bei der nur kurzen und äußerlichen Unterbrechung als eine gefaßt werden können, wiederum vor Faust steht wie bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/682>, abgerufen am 28.07.2024.