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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

Ich habe nun den Ausspruch zu rechtfertigen, daß das ursprüngliche Faust¬
drama in Bezug auf plastische Kontinuität von vollendeter Komposition war.
Die bis jetzt gegebene Skizze bringt dies vielleicht nicht deutlich genug vor Augen.
Ich lade daher den Leser ein, sich den Gang des Stückes nochmals mit mir zu
vergegenwärtigen.

Die Exposition bestand aus den beiden Szenen der Osternacht und des
Osterspazierganges. Die erste Szene schloß mit den Worten des Erdgeistes
bei der zweiten Erscheinung, dann folgte auch in sinnlich-pragmatisch enger
Kontinuität die Szenenreihe des Osterspazierganges. Nur zwei Expositionen
können an Großartigkeit mit der zum Faust in der Geschichte des Dramas ver¬
glichen werden: die Exposition zum Agamemnon des Äschhlos und die Expo¬
sition zum Hamlet, beide, weil sie ein schon vorhandenes Schreckliche ausbreiten,
an konzeutrirter Gewalt die Faustcxpvsitiou übertreffend. Aber die Könige der
Tragik würden sich vor dem Schöpfer des Faust verneigt haben: an Weite
und Tiefe des Problems bei vollendeter Anschaulichkeit, im Reichtum der gleich¬
wohl auf einen einzigen Punkt gerichteten Mittel, im Zauber der kontrastirenden,
aber ganz aus einer Wurzel hervordringenden Stimmungen hat der zwanzigjährige
Dichter sie übertroffen. Zuerst der wilde Schmerz Fausts, dann der prometheische
Aufschwung zur Magie, dann der Sturz von der Höhe, dann die Selbstbe¬
sinnung auf die inwohnende Kraft durch die gutmütige Aufdringlichkeit eines
subalternen Geistes, dann die Wiederholung des prometheischcn Aufschwungs,
gemildert durch ein Element von Vertrauen und Hingebung; von der Seite des
Geistes, bei scheinbarem Nachgeben die unnahbare Herbheit des antiken Schick¬
sals, für Faust verborgen hinter einem zweideutigen Ausspruch, der mit schwerer
Ahnung auf die Zuhörer fällt. Und nun der andre Teil der Exposition.
Faust ist von einer doppelten Schranke gedrückt: von der Schranke des Erkennens
und von der Schranke des Lebens. Der einsame Monolog hat uns den schon
verzweifelnden Denker gezeigt, der Spaziergang zeigt uns den wirkenden Mann,
der mit dem Leben, auf einem unbeweglichen Punkt freilich, aber immerhin schon
vielfach in Berührung gekommen ist, den aber die Kleinheit des menschlichen
Schicksals, wie es ihm überall entgegentritt, trotz der Vergnüglichkeit und Illusion,
mit der die Menschen, sich von jedem Schlage erholend, darin bewegen, mit
tiefer Schwermut zu Boden drückt. Nur in Beethovens Musik finden sich solche
organische, aus einer Wurzel emporquellende Kontraste. In der Faustexposition
folgt ans ein leidenschaftlich reiches Allegro ein heiteres, mannichfaltiges, aber
die Enge des Lebens atmendes Scherzo, ans dem sich ein rührend vornehmes
Adagio entwickelt. In der Enge ist das Wohlsein, das sich den unverstandenen
Schlägen beugt, um sie bald zu vergessen; in der Freiheit ist der Mangel, ist
die Wehmut, denn ihr Vorzug ist nur, die Schranke zu fühlen, ohne die Macht,
sie zu beseitigen. Fausts Sehnsucht auf dem Abcndsonnenhügel ist die wunder-
vollste Elegie, zu weiten Fernen der Freiheit sich erhebend und wie in einem


Die Entstehung des Faust.

Ich habe nun den Ausspruch zu rechtfertigen, daß das ursprüngliche Faust¬
drama in Bezug auf plastische Kontinuität von vollendeter Komposition war.
Die bis jetzt gegebene Skizze bringt dies vielleicht nicht deutlich genug vor Augen.
Ich lade daher den Leser ein, sich den Gang des Stückes nochmals mit mir zu
vergegenwärtigen.

Die Exposition bestand aus den beiden Szenen der Osternacht und des
Osterspazierganges. Die erste Szene schloß mit den Worten des Erdgeistes
bei der zweiten Erscheinung, dann folgte auch in sinnlich-pragmatisch enger
Kontinuität die Szenenreihe des Osterspazierganges. Nur zwei Expositionen
können an Großartigkeit mit der zum Faust in der Geschichte des Dramas ver¬
glichen werden: die Exposition zum Agamemnon des Äschhlos und die Expo¬
sition zum Hamlet, beide, weil sie ein schon vorhandenes Schreckliche ausbreiten,
an konzeutrirter Gewalt die Faustcxpvsitiou übertreffend. Aber die Könige der
Tragik würden sich vor dem Schöpfer des Faust verneigt haben: an Weite
und Tiefe des Problems bei vollendeter Anschaulichkeit, im Reichtum der gleich¬
wohl auf einen einzigen Punkt gerichteten Mittel, im Zauber der kontrastirenden,
aber ganz aus einer Wurzel hervordringenden Stimmungen hat der zwanzigjährige
Dichter sie übertroffen. Zuerst der wilde Schmerz Fausts, dann der prometheische
Aufschwung zur Magie, dann der Sturz von der Höhe, dann die Selbstbe¬
sinnung auf die inwohnende Kraft durch die gutmütige Aufdringlichkeit eines
subalternen Geistes, dann die Wiederholung des prometheischcn Aufschwungs,
gemildert durch ein Element von Vertrauen und Hingebung; von der Seite des
Geistes, bei scheinbarem Nachgeben die unnahbare Herbheit des antiken Schick¬
sals, für Faust verborgen hinter einem zweideutigen Ausspruch, der mit schwerer
Ahnung auf die Zuhörer fällt. Und nun der andre Teil der Exposition.
Faust ist von einer doppelten Schranke gedrückt: von der Schranke des Erkennens
und von der Schranke des Lebens. Der einsame Monolog hat uns den schon
verzweifelnden Denker gezeigt, der Spaziergang zeigt uns den wirkenden Mann,
der mit dem Leben, auf einem unbeweglichen Punkt freilich, aber immerhin schon
vielfach in Berührung gekommen ist, den aber die Kleinheit des menschlichen
Schicksals, wie es ihm überall entgegentritt, trotz der Vergnüglichkeit und Illusion,
mit der die Menschen, sich von jedem Schlage erholend, darin bewegen, mit
tiefer Schwermut zu Boden drückt. Nur in Beethovens Musik finden sich solche
organische, aus einer Wurzel emporquellende Kontraste. In der Faustexposition
folgt ans ein leidenschaftlich reiches Allegro ein heiteres, mannichfaltiges, aber
die Enge des Lebens atmendes Scherzo, ans dem sich ein rührend vornehmes
Adagio entwickelt. In der Enge ist das Wohlsein, das sich den unverstandenen
Schlägen beugt, um sie bald zu vergessen; in der Freiheit ist der Mangel, ist
die Wehmut, denn ihr Vorzug ist nur, die Schranke zu fühlen, ohne die Macht,
sie zu beseitigen. Fausts Sehnsucht auf dem Abcndsonnenhügel ist die wunder-
vollste Elegie, zu weiten Fernen der Freiheit sich erhebend und wie in einem


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[0681] Die Entstehung des Faust. Ich habe nun den Ausspruch zu rechtfertigen, daß das ursprüngliche Faust¬ drama in Bezug auf plastische Kontinuität von vollendeter Komposition war. Die bis jetzt gegebene Skizze bringt dies vielleicht nicht deutlich genug vor Augen. Ich lade daher den Leser ein, sich den Gang des Stückes nochmals mit mir zu vergegenwärtigen. Die Exposition bestand aus den beiden Szenen der Osternacht und des Osterspazierganges. Die erste Szene schloß mit den Worten des Erdgeistes bei der zweiten Erscheinung, dann folgte auch in sinnlich-pragmatisch enger Kontinuität die Szenenreihe des Osterspazierganges. Nur zwei Expositionen können an Großartigkeit mit der zum Faust in der Geschichte des Dramas ver¬ glichen werden: die Exposition zum Agamemnon des Äschhlos und die Expo¬ sition zum Hamlet, beide, weil sie ein schon vorhandenes Schreckliche ausbreiten, an konzeutrirter Gewalt die Faustcxpvsitiou übertreffend. Aber die Könige der Tragik würden sich vor dem Schöpfer des Faust verneigt haben: an Weite und Tiefe des Problems bei vollendeter Anschaulichkeit, im Reichtum der gleich¬ wohl auf einen einzigen Punkt gerichteten Mittel, im Zauber der kontrastirenden, aber ganz aus einer Wurzel hervordringenden Stimmungen hat der zwanzigjährige Dichter sie übertroffen. Zuerst der wilde Schmerz Fausts, dann der prometheische Aufschwung zur Magie, dann der Sturz von der Höhe, dann die Selbstbe¬ sinnung auf die inwohnende Kraft durch die gutmütige Aufdringlichkeit eines subalternen Geistes, dann die Wiederholung des prometheischcn Aufschwungs, gemildert durch ein Element von Vertrauen und Hingebung; von der Seite des Geistes, bei scheinbarem Nachgeben die unnahbare Herbheit des antiken Schick¬ sals, für Faust verborgen hinter einem zweideutigen Ausspruch, der mit schwerer Ahnung auf die Zuhörer fällt. Und nun der andre Teil der Exposition. Faust ist von einer doppelten Schranke gedrückt: von der Schranke des Erkennens und von der Schranke des Lebens. Der einsame Monolog hat uns den schon verzweifelnden Denker gezeigt, der Spaziergang zeigt uns den wirkenden Mann, der mit dem Leben, auf einem unbeweglichen Punkt freilich, aber immerhin schon vielfach in Berührung gekommen ist, den aber die Kleinheit des menschlichen Schicksals, wie es ihm überall entgegentritt, trotz der Vergnüglichkeit und Illusion, mit der die Menschen, sich von jedem Schlage erholend, darin bewegen, mit tiefer Schwermut zu Boden drückt. Nur in Beethovens Musik finden sich solche organische, aus einer Wurzel emporquellende Kontraste. In der Faustexposition folgt ans ein leidenschaftlich reiches Allegro ein heiteres, mannichfaltiges, aber die Enge des Lebens atmendes Scherzo, ans dem sich ein rührend vornehmes Adagio entwickelt. In der Enge ist das Wohlsein, das sich den unverstandenen Schlägen beugt, um sie bald zu vergessen; in der Freiheit ist der Mangel, ist die Wehmut, denn ihr Vorzug ist nur, die Schranke zu fühlen, ohne die Macht, sie zu beseitigen. Fausts Sehnsucht auf dem Abcndsonnenhügel ist die wunder- vollste Elegie, zu weiten Fernen der Freiheit sich erhebend und wie in einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/681>, abgerufen am 28.07.2024.