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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

der ersten Erscheinung, während in Faust die ungeheure Wandlung vorgegangen
ist, die sein ganzes Sceleugcfüge vernichtet. Unwillkürlich steht diese ursprüng¬
liche Fausttragödie vor unsrer Phantasie wie ein Drama des Sophokles, das
man in einer ununterbrochenen Folge ohne Aktschlüsse, die sich zwischen eine
unzerreißbare Kontinuität drängen würden, in sich aufnehmen möchte.

Man bemerke auch die aus der anfänglichen Weite des Horizontes in eine
immermehr sich verengende Enge führende Bewegung, eine Enge, in welche
die anfängliche Weite noch einmal befreiend hereiuleuchten will, bis dieselbe sich
hvffmmgslos schließt und der Held an der Gewalt ihrer Mauern zerschellt.

Und die Moral des Stückes? Es war das Bluturteil über das Vermessen
des endlichen Geistes, sich den Schranken der Endlichkeit zu entreißen. Ob das
Vermessen im Wege, nicht im Ziele lag, davon hatte Faust keine Ahnung, davon
gab die ursprüngliche Tragödie keine Andeutung. Durfte der Dichter dieses
Bluturteil der Welt übergeben?

In dieser Frage liegt die Erklärung der Verzögerung des Faust.

Oder durfte er "der tragischen Kunst holde Geschöpfe," denen nie ein tragischer
Dichter größere Lebenskraft eingeflößt, der Vergessenheit übergeben? Ihr Leben
lag in ihrem Schicksal, konnte er sie diesem Schicksal entreißen, ohne ihr Leben zu
zerstören? Er kounte nur dieses Schicksal in einen Strom positiver Erhabenheit
leiten, in welchem die furchtbare Dissonanz desselben, ohne eigentlich aufgelöst zu
werden, verschwand. In diesen Strom leitete der Dichter fortan alle großen
Erlebnisse, sie zu gedrängten Bildern verdichtend, die er sonst vielleicht in breiten
Formen an neuen Gestalten dargestellt hätte. In sechs Jahren war die erste
Faustgestalt entstanden, beinahe sechzig Jahre brauchte der Dichter, die Ein¬
seitigkeit dieser Gestalt aufzuheben.

Ich schließe mit einer persönlichen Erinnerung. Ein unvergeßlicher Lehrer
meiner Jugend -- wenn einem oder dem andern seiner Schüler diese Zeilen
vor Augen kommen, so erkennt er den teuern Namen: Karl Ferdinand Wieck --
pflegte, wenn, von einem alltäglichen Anlaß des Unterrichts anhebend, seine
Gedanken sich mit prophetischem Blick in eine Tiefe des Lebens versenkt hatte",
uns an einen der großen Sprüche zu erinnern mit der Frage: Verstehen Sie
nun dieses Wort?

So möchte ich meine Leser fragen: Verstehen Sie nun das Wort:


Am Elite hängen wir doch ab
Von Kreaturen, die wir machten.



Grenzboten IV. 188".8!>
Die Entstehung des Faust.

der ersten Erscheinung, während in Faust die ungeheure Wandlung vorgegangen
ist, die sein ganzes Sceleugcfüge vernichtet. Unwillkürlich steht diese ursprüng¬
liche Fausttragödie vor unsrer Phantasie wie ein Drama des Sophokles, das
man in einer ununterbrochenen Folge ohne Aktschlüsse, die sich zwischen eine
unzerreißbare Kontinuität drängen würden, in sich aufnehmen möchte.

Man bemerke auch die aus der anfänglichen Weite des Horizontes in eine
immermehr sich verengende Enge führende Bewegung, eine Enge, in welche
die anfängliche Weite noch einmal befreiend hereiuleuchten will, bis dieselbe sich
hvffmmgslos schließt und der Held an der Gewalt ihrer Mauern zerschellt.

Und die Moral des Stückes? Es war das Bluturteil über das Vermessen
des endlichen Geistes, sich den Schranken der Endlichkeit zu entreißen. Ob das
Vermessen im Wege, nicht im Ziele lag, davon hatte Faust keine Ahnung, davon
gab die ursprüngliche Tragödie keine Andeutung. Durfte der Dichter dieses
Bluturteil der Welt übergeben?

In dieser Frage liegt die Erklärung der Verzögerung des Faust.

Oder durfte er „der tragischen Kunst holde Geschöpfe," denen nie ein tragischer
Dichter größere Lebenskraft eingeflößt, der Vergessenheit übergeben? Ihr Leben
lag in ihrem Schicksal, konnte er sie diesem Schicksal entreißen, ohne ihr Leben zu
zerstören? Er kounte nur dieses Schicksal in einen Strom positiver Erhabenheit
leiten, in welchem die furchtbare Dissonanz desselben, ohne eigentlich aufgelöst zu
werden, verschwand. In diesen Strom leitete der Dichter fortan alle großen
Erlebnisse, sie zu gedrängten Bildern verdichtend, die er sonst vielleicht in breiten
Formen an neuen Gestalten dargestellt hätte. In sechs Jahren war die erste
Faustgestalt entstanden, beinahe sechzig Jahre brauchte der Dichter, die Ein¬
seitigkeit dieser Gestalt aufzuheben.

Ich schließe mit einer persönlichen Erinnerung. Ein unvergeßlicher Lehrer
meiner Jugend — wenn einem oder dem andern seiner Schüler diese Zeilen
vor Augen kommen, so erkennt er den teuern Namen: Karl Ferdinand Wieck —
pflegte, wenn, von einem alltäglichen Anlaß des Unterrichts anhebend, seine
Gedanken sich mit prophetischem Blick in eine Tiefe des Lebens versenkt hatte»,
uns an einen der großen Sprüche zu erinnern mit der Frage: Verstehen Sie
nun dieses Wort?

So möchte ich meine Leser fragen: Verstehen Sie nun das Wort:


Am Elite hängen wir doch ab
Von Kreaturen, die wir machten.



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[0683] Die Entstehung des Faust. der ersten Erscheinung, während in Faust die ungeheure Wandlung vorgegangen ist, die sein ganzes Sceleugcfüge vernichtet. Unwillkürlich steht diese ursprüng¬ liche Fausttragödie vor unsrer Phantasie wie ein Drama des Sophokles, das man in einer ununterbrochenen Folge ohne Aktschlüsse, die sich zwischen eine unzerreißbare Kontinuität drängen würden, in sich aufnehmen möchte. Man bemerke auch die aus der anfänglichen Weite des Horizontes in eine immermehr sich verengende Enge führende Bewegung, eine Enge, in welche die anfängliche Weite noch einmal befreiend hereiuleuchten will, bis dieselbe sich hvffmmgslos schließt und der Held an der Gewalt ihrer Mauern zerschellt. Und die Moral des Stückes? Es war das Bluturteil über das Vermessen des endlichen Geistes, sich den Schranken der Endlichkeit zu entreißen. Ob das Vermessen im Wege, nicht im Ziele lag, davon hatte Faust keine Ahnung, davon gab die ursprüngliche Tragödie keine Andeutung. Durfte der Dichter dieses Bluturteil der Welt übergeben? In dieser Frage liegt die Erklärung der Verzögerung des Faust. Oder durfte er „der tragischen Kunst holde Geschöpfe," denen nie ein tragischer Dichter größere Lebenskraft eingeflößt, der Vergessenheit übergeben? Ihr Leben lag in ihrem Schicksal, konnte er sie diesem Schicksal entreißen, ohne ihr Leben zu zerstören? Er kounte nur dieses Schicksal in einen Strom positiver Erhabenheit leiten, in welchem die furchtbare Dissonanz desselben, ohne eigentlich aufgelöst zu werden, verschwand. In diesen Strom leitete der Dichter fortan alle großen Erlebnisse, sie zu gedrängten Bildern verdichtend, die er sonst vielleicht in breiten Formen an neuen Gestalten dargestellt hätte. In sechs Jahren war die erste Faustgestalt entstanden, beinahe sechzig Jahre brauchte der Dichter, die Ein¬ seitigkeit dieser Gestalt aufzuheben. Ich schließe mit einer persönlichen Erinnerung. Ein unvergeßlicher Lehrer meiner Jugend — wenn einem oder dem andern seiner Schüler diese Zeilen vor Augen kommen, so erkennt er den teuern Namen: Karl Ferdinand Wieck — pflegte, wenn, von einem alltäglichen Anlaß des Unterrichts anhebend, seine Gedanken sich mit prophetischem Blick in eine Tiefe des Lebens versenkt hatte», uns an einen der großen Sprüche zu erinnern mit der Frage: Verstehen Sie nun dieses Wort? So möchte ich meine Leser fragen: Verstehen Sie nun das Wort: Am Elite hängen wir doch ab Von Kreaturen, die wir machten. Grenzboten IV. 188».8!>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/683>, abgerufen am 01.09.2024.