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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

entgehen: die Auslöschung des Brandes. Faust versucht dieses Mittel: er ist von
Gretchen geflohen, er möchte nicht zu ihr zurückkehren, Aber Mephistopheles
hat es leicht, die nicht erstickten Flammen einer unbezähmbaren Leidenschaft an¬
zufachen, Faust fühlt dies vollkommen; in wildem Schmerz verwünscht er sich
selbst, weil ihn der unwiderstehliche Dämon treibt, der uns ein Fremder und
doch im Kern des eigensten Wollens waltet. Aber Faust klagt den falschen
Dämon an, und diese Selbstverwirrung ist echt tragisch. Er verwünscht sich
nicht darum, weil er nicht seiner Leidenschaft Herr werden will, sondern darum,
weil er diese Höhe des Lebens erklommen hat, diese Kraft des Fluges erlangt, die
ihm den Reichtum des Schauens gewährt, aber mit den erhöhten Mitteln der
Befriedigung auch die Macht der Begierden verstärkt. Der Mensch ist nichts
gebessert, wenn er bloß die Macht über die äußern Dinge erhöht hat. Mit den
Mitteln des Guten wachsen ebenso die Mittel des Bösen, Aber Faust hatte
vom Erdgeist nur jene äußere Macht erfleht, an eine Veränderung der innern
Menscheukrüfte in ihrem Verhältnis zu einander hat er nicht gedacht, und der
Erdgeist hätte sie ihm nicht gewahren können, obwohl er Faust nicht ungewarnt
ließ. So flucht jetzt Faust dem Streben, das ihn erfüllte, dessen Befriedigung
ihm nun gewährt ist. Er verkennt, daß dieses Streben ein edles und hohes ist,
daß es aber nur unter der Bedingung selbsterarbeiteter, nicht dnrch ein Wunder
herbeigeführter Befriedigung die erhöhte Macht gewinnt, der inneren Dämonen
Herr zu bleiben. Mit Willen und Bewußtsein eilt Faust jetzt ins Verderben.

Nach dieser Peripetie, einer der meisterhaftesten, die je gedichtet worden,
vollzieht sich die Katastrophe. Wir erleben die erschütternde Vorbereitung von
Gretchens Schicksal bei den Szenen im Zwinger und im Dom. In der Szene:
"Trüber Tag. Feld" vernimmt Faust die furchtbar unausbleibliche Erfüllung. Er
läßt sich auf dem Mantel des Mephistopheles nach dem Kerker tragen.

Die Kerkerszene war, wie durch die Briefe an Schiller bezeugt ist, in Prosa
geschrieben. Wenn dort von ihrer unerträgliche" Natürlichkeit und Stärke die
Rede ist, von der unmittelbaren Wirkung des ungeheuern Stoffes, welche durch
den Vers gedämpft werden solle, so wird der Inhalt, was die Schilderung
Gretchens und ihres Verhaltens betrifft, doch der jetzige gewesen sein. Dann
aber folgte der Anfang zu einem neuen Ausbruch gegen Mephistopheles. In
diesem Augenblick erscheint der Erdgeist, um Faust an die verschmähte Warnung
zu erinnern. In furchtbarer Bestätigung steht das Grauen, das er bei der
ersten Erscheinung des Geistes empfunden, vor dem vernichteten Faust. Im
Innersten zermalmt, von Wut und Abscheu gepeitscht, rast er in wildem Ent¬
setzen gegen die Kerkermauer.

Dies war der Faust, den Goethe 1775 nach Weimar brachte. Die Dichtung
war, wie ich glaube, in allen Teilen ausgearbeitet.




Die Entstehung des Faust.

entgehen: die Auslöschung des Brandes. Faust versucht dieses Mittel: er ist von
Gretchen geflohen, er möchte nicht zu ihr zurückkehren, Aber Mephistopheles
hat es leicht, die nicht erstickten Flammen einer unbezähmbaren Leidenschaft an¬
zufachen, Faust fühlt dies vollkommen; in wildem Schmerz verwünscht er sich
selbst, weil ihn der unwiderstehliche Dämon treibt, der uns ein Fremder und
doch im Kern des eigensten Wollens waltet. Aber Faust klagt den falschen
Dämon an, und diese Selbstverwirrung ist echt tragisch. Er verwünscht sich
nicht darum, weil er nicht seiner Leidenschaft Herr werden will, sondern darum,
weil er diese Höhe des Lebens erklommen hat, diese Kraft des Fluges erlangt, die
ihm den Reichtum des Schauens gewährt, aber mit den erhöhten Mitteln der
Befriedigung auch die Macht der Begierden verstärkt. Der Mensch ist nichts
gebessert, wenn er bloß die Macht über die äußern Dinge erhöht hat. Mit den
Mitteln des Guten wachsen ebenso die Mittel des Bösen, Aber Faust hatte
vom Erdgeist nur jene äußere Macht erfleht, an eine Veränderung der innern
Menscheukrüfte in ihrem Verhältnis zu einander hat er nicht gedacht, und der
Erdgeist hätte sie ihm nicht gewahren können, obwohl er Faust nicht ungewarnt
ließ. So flucht jetzt Faust dem Streben, das ihn erfüllte, dessen Befriedigung
ihm nun gewährt ist. Er verkennt, daß dieses Streben ein edles und hohes ist,
daß es aber nur unter der Bedingung selbsterarbeiteter, nicht dnrch ein Wunder
herbeigeführter Befriedigung die erhöhte Macht gewinnt, der inneren Dämonen
Herr zu bleiben. Mit Willen und Bewußtsein eilt Faust jetzt ins Verderben.

Nach dieser Peripetie, einer der meisterhaftesten, die je gedichtet worden,
vollzieht sich die Katastrophe. Wir erleben die erschütternde Vorbereitung von
Gretchens Schicksal bei den Szenen im Zwinger und im Dom. In der Szene:
„Trüber Tag. Feld" vernimmt Faust die furchtbar unausbleibliche Erfüllung. Er
läßt sich auf dem Mantel des Mephistopheles nach dem Kerker tragen.

Die Kerkerszene war, wie durch die Briefe an Schiller bezeugt ist, in Prosa
geschrieben. Wenn dort von ihrer unerträgliche» Natürlichkeit und Stärke die
Rede ist, von der unmittelbaren Wirkung des ungeheuern Stoffes, welche durch
den Vers gedämpft werden solle, so wird der Inhalt, was die Schilderung
Gretchens und ihres Verhaltens betrifft, doch der jetzige gewesen sein. Dann
aber folgte der Anfang zu einem neuen Ausbruch gegen Mephistopheles. In
diesem Augenblick erscheint der Erdgeist, um Faust an die verschmähte Warnung
zu erinnern. In furchtbarer Bestätigung steht das Grauen, das er bei der
ersten Erscheinung des Geistes empfunden, vor dem vernichteten Faust. Im
Innersten zermalmt, von Wut und Abscheu gepeitscht, rast er in wildem Ent¬
setzen gegen die Kerkermauer.

Dies war der Faust, den Goethe 1775 nach Weimar brachte. Die Dichtung
war, wie ich glaube, in allen Teilen ausgearbeitet.




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[0680] Die Entstehung des Faust. entgehen: die Auslöschung des Brandes. Faust versucht dieses Mittel: er ist von Gretchen geflohen, er möchte nicht zu ihr zurückkehren, Aber Mephistopheles hat es leicht, die nicht erstickten Flammen einer unbezähmbaren Leidenschaft an¬ zufachen, Faust fühlt dies vollkommen; in wildem Schmerz verwünscht er sich selbst, weil ihn der unwiderstehliche Dämon treibt, der uns ein Fremder und doch im Kern des eigensten Wollens waltet. Aber Faust klagt den falschen Dämon an, und diese Selbstverwirrung ist echt tragisch. Er verwünscht sich nicht darum, weil er nicht seiner Leidenschaft Herr werden will, sondern darum, weil er diese Höhe des Lebens erklommen hat, diese Kraft des Fluges erlangt, die ihm den Reichtum des Schauens gewährt, aber mit den erhöhten Mitteln der Befriedigung auch die Macht der Begierden verstärkt. Der Mensch ist nichts gebessert, wenn er bloß die Macht über die äußern Dinge erhöht hat. Mit den Mitteln des Guten wachsen ebenso die Mittel des Bösen, Aber Faust hatte vom Erdgeist nur jene äußere Macht erfleht, an eine Veränderung der innern Menscheukrüfte in ihrem Verhältnis zu einander hat er nicht gedacht, und der Erdgeist hätte sie ihm nicht gewahren können, obwohl er Faust nicht ungewarnt ließ. So flucht jetzt Faust dem Streben, das ihn erfüllte, dessen Befriedigung ihm nun gewährt ist. Er verkennt, daß dieses Streben ein edles und hohes ist, daß es aber nur unter der Bedingung selbsterarbeiteter, nicht dnrch ein Wunder herbeigeführter Befriedigung die erhöhte Macht gewinnt, der inneren Dämonen Herr zu bleiben. Mit Willen und Bewußtsein eilt Faust jetzt ins Verderben. Nach dieser Peripetie, einer der meisterhaftesten, die je gedichtet worden, vollzieht sich die Katastrophe. Wir erleben die erschütternde Vorbereitung von Gretchens Schicksal bei den Szenen im Zwinger und im Dom. In der Szene: „Trüber Tag. Feld" vernimmt Faust die furchtbar unausbleibliche Erfüllung. Er läßt sich auf dem Mantel des Mephistopheles nach dem Kerker tragen. Die Kerkerszene war, wie durch die Briefe an Schiller bezeugt ist, in Prosa geschrieben. Wenn dort von ihrer unerträgliche» Natürlichkeit und Stärke die Rede ist, von der unmittelbaren Wirkung des ungeheuern Stoffes, welche durch den Vers gedämpft werden solle, so wird der Inhalt, was die Schilderung Gretchens und ihres Verhaltens betrifft, doch der jetzige gewesen sein. Dann aber folgte der Anfang zu einem neuen Ausbruch gegen Mephistopheles. In diesem Augenblick erscheint der Erdgeist, um Faust an die verschmähte Warnung zu erinnern. In furchtbarer Bestätigung steht das Grauen, das er bei der ersten Erscheinung des Geistes empfunden, vor dem vernichteten Faust. Im Innersten zermalmt, von Wut und Abscheu gepeitscht, rast er in wildem Ent¬ setzen gegen die Kerkermauer. Dies war der Faust, den Goethe 1775 nach Weimar brachte. Die Dichtung war, wie ich glaube, in allen Teilen ausgearbeitet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/680>, abgerufen am 28.07.2024.