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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Vie Entstehung des Faust.

Ich komme um aber dazu, die organische Stellung der Szene "In Wald
und Höhle" in der ersten Faustkomposition nachzuweisen.

Faust durchstreift die Welt, von dem Zaubermantel des Mephistopheles
getragen, nach Belieben. Wir dürfen uns die Trennung von Gretchen, als er
von ihr geflohen ist, nicht als eine kurze denken. Diese Zeit, wo eine Leiden¬
schaft, die er im Innern niederkämpfen möchte, ihn vor leidenschaftlicher Am
Näherung an andre Welterscheinungen bewahrt, ihn diese letzteren mit unbefan¬
genem Auge aufnehmen läßt, wird zu einer Zeit der Kontemplation und des
Studiums. Eine solche Zeit wurden für Goethe seine Streifereien und wech¬
selnden Aufenthalte uach dem Jahre 1771 und schon seit 1770. Wir wissen,
daß diese Zeit innerlich ungemein fruchtbar für ihn geworden ist, gerade was
die Reife der Kontemplation, die Erhebung über die Gegenstände anlangt. Da¬
neben blieb er allerdings, und konnte es bleiben, der von Lebenslust und Lebens¬
fülle überströmende Jüngling. Aus dieser Stimmung heraus ist der Monolog
"In Wald und Höhle" geschrieben. Er zeigt nicht auf das zergliedernde Mit¬
leben der Natur, sondern ans das phantastische, als dessen Krone aber der
Kosmos des menschlichen Innern ruhig in sich zurücktritt. Nicht mir der kalt-
ftcmnende Besuch wird als ungenügend zurückgewiesen, sondern selbst "der Be¬
trachtung strenge Lust" wird gelindert, indem nicht nur die Gestalten des
Naturlebens als Lebendige, als Brüder herantreten, sondern mich der Vorwelt
silberne Gestalten, die Gestalten der Geschichte. Es ist mithin der Blick der
geläuterten, beruhigten Phantasie auf Natur und Welt, nicht aber geologisches
Studium und dergleichen. Dies ist die Art des Genius, ganz besonders aber
des Goethischen Genius: aus einem Minimum von Erfahrung eine Weltenbreite
lebendiger Anschauung zu produziren. Faust braucht nur das abgeschlossene
Studirzimmer zu verlassen, und Lebensfülle quillt ihm entgegen, die er in der
Einsamkeit mitternächtiger Stunden vergebens gesucht hatte. Und doch hätte
ohne diese Studien keine lebendige Anschauung seinen Geist erquickt. Vom
Sehen allein, wenn der Geist nicht ahnend vorbereitet ist, die Bilder und Ge¬
setze zu suchen, wird niemand reich und weise.

Treten wir in den engeren Zusammenhang der Faustkomposition zurück.
Faust hat durch des Mephistopheles Zaubermittel, die ihm den freien Flug
durch die Welt gestatteten, erlangt, was Mephistopheles ihm nicht gönnen, wo¬
von ihn dieser abziehen wollte, was ihm aber der Erdgeist versprochen hatte:
lebendige Fülle ruhiger Anschauung. Aber die magische Kunst, die ihm die
Fülle der Erscheinungen herbeiführt und ihm zugleich die Mittel gewährt,
die schützenden Schranken, mit welchen das individuelle menschliche Dasein gegen
die Außenwelt umgeben ist, leicht zu durchbrechen, hat ihm den Brand einer
Leidenschaft entfacht, die ihn entweder von jeuer Lebensfülle hinweg wieder in
ein enges Dasein einschließen oder ihn zu einem grausamen Mißbrauch seiner
überlegenen Mittel hinreißen muß. Ein Mittel gäbe es, diesem Dilemma zu


Vie Entstehung des Faust.

Ich komme um aber dazu, die organische Stellung der Szene „In Wald
und Höhle" in der ersten Faustkomposition nachzuweisen.

Faust durchstreift die Welt, von dem Zaubermantel des Mephistopheles
getragen, nach Belieben. Wir dürfen uns die Trennung von Gretchen, als er
von ihr geflohen ist, nicht als eine kurze denken. Diese Zeit, wo eine Leiden¬
schaft, die er im Innern niederkämpfen möchte, ihn vor leidenschaftlicher Am
Näherung an andre Welterscheinungen bewahrt, ihn diese letzteren mit unbefan¬
genem Auge aufnehmen läßt, wird zu einer Zeit der Kontemplation und des
Studiums. Eine solche Zeit wurden für Goethe seine Streifereien und wech¬
selnden Aufenthalte uach dem Jahre 1771 und schon seit 1770. Wir wissen,
daß diese Zeit innerlich ungemein fruchtbar für ihn geworden ist, gerade was
die Reife der Kontemplation, die Erhebung über die Gegenstände anlangt. Da¬
neben blieb er allerdings, und konnte es bleiben, der von Lebenslust und Lebens¬
fülle überströmende Jüngling. Aus dieser Stimmung heraus ist der Monolog
„In Wald und Höhle" geschrieben. Er zeigt nicht auf das zergliedernde Mit¬
leben der Natur, sondern ans das phantastische, als dessen Krone aber der
Kosmos des menschlichen Innern ruhig in sich zurücktritt. Nicht mir der kalt-
ftcmnende Besuch wird als ungenügend zurückgewiesen, sondern selbst „der Be¬
trachtung strenge Lust" wird gelindert, indem nicht nur die Gestalten des
Naturlebens als Lebendige, als Brüder herantreten, sondern mich der Vorwelt
silberne Gestalten, die Gestalten der Geschichte. Es ist mithin der Blick der
geläuterten, beruhigten Phantasie auf Natur und Welt, nicht aber geologisches
Studium und dergleichen. Dies ist die Art des Genius, ganz besonders aber
des Goethischen Genius: aus einem Minimum von Erfahrung eine Weltenbreite
lebendiger Anschauung zu produziren. Faust braucht nur das abgeschlossene
Studirzimmer zu verlassen, und Lebensfülle quillt ihm entgegen, die er in der
Einsamkeit mitternächtiger Stunden vergebens gesucht hatte. Und doch hätte
ohne diese Studien keine lebendige Anschauung seinen Geist erquickt. Vom
Sehen allein, wenn der Geist nicht ahnend vorbereitet ist, die Bilder und Ge¬
setze zu suchen, wird niemand reich und weise.

Treten wir in den engeren Zusammenhang der Faustkomposition zurück.
Faust hat durch des Mephistopheles Zaubermittel, die ihm den freien Flug
durch die Welt gestatteten, erlangt, was Mephistopheles ihm nicht gönnen, wo¬
von ihn dieser abziehen wollte, was ihm aber der Erdgeist versprochen hatte:
lebendige Fülle ruhiger Anschauung. Aber die magische Kunst, die ihm die
Fülle der Erscheinungen herbeiführt und ihm zugleich die Mittel gewährt,
die schützenden Schranken, mit welchen das individuelle menschliche Dasein gegen
die Außenwelt umgeben ist, leicht zu durchbrechen, hat ihm den Brand einer
Leidenschaft entfacht, die ihn entweder von jeuer Lebensfülle hinweg wieder in
ein enges Dasein einschließen oder ihn zu einem grausamen Mißbrauch seiner
überlegenen Mittel hinreißen muß. Ein Mittel gäbe es, diesem Dilemma zu


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[0679] Vie Entstehung des Faust. Ich komme um aber dazu, die organische Stellung der Szene „In Wald und Höhle" in der ersten Faustkomposition nachzuweisen. Faust durchstreift die Welt, von dem Zaubermantel des Mephistopheles getragen, nach Belieben. Wir dürfen uns die Trennung von Gretchen, als er von ihr geflohen ist, nicht als eine kurze denken. Diese Zeit, wo eine Leiden¬ schaft, die er im Innern niederkämpfen möchte, ihn vor leidenschaftlicher Am Näherung an andre Welterscheinungen bewahrt, ihn diese letzteren mit unbefan¬ genem Auge aufnehmen läßt, wird zu einer Zeit der Kontemplation und des Studiums. Eine solche Zeit wurden für Goethe seine Streifereien und wech¬ selnden Aufenthalte uach dem Jahre 1771 und schon seit 1770. Wir wissen, daß diese Zeit innerlich ungemein fruchtbar für ihn geworden ist, gerade was die Reife der Kontemplation, die Erhebung über die Gegenstände anlangt. Da¬ neben blieb er allerdings, und konnte es bleiben, der von Lebenslust und Lebens¬ fülle überströmende Jüngling. Aus dieser Stimmung heraus ist der Monolog „In Wald und Höhle" geschrieben. Er zeigt nicht auf das zergliedernde Mit¬ leben der Natur, sondern ans das phantastische, als dessen Krone aber der Kosmos des menschlichen Innern ruhig in sich zurücktritt. Nicht mir der kalt- ftcmnende Besuch wird als ungenügend zurückgewiesen, sondern selbst „der Be¬ trachtung strenge Lust" wird gelindert, indem nicht nur die Gestalten des Naturlebens als Lebendige, als Brüder herantreten, sondern mich der Vorwelt silberne Gestalten, die Gestalten der Geschichte. Es ist mithin der Blick der geläuterten, beruhigten Phantasie auf Natur und Welt, nicht aber geologisches Studium und dergleichen. Dies ist die Art des Genius, ganz besonders aber des Goethischen Genius: aus einem Minimum von Erfahrung eine Weltenbreite lebendiger Anschauung zu produziren. Faust braucht nur das abgeschlossene Studirzimmer zu verlassen, und Lebensfülle quillt ihm entgegen, die er in der Einsamkeit mitternächtiger Stunden vergebens gesucht hatte. Und doch hätte ohne diese Studien keine lebendige Anschauung seinen Geist erquickt. Vom Sehen allein, wenn der Geist nicht ahnend vorbereitet ist, die Bilder und Ge¬ setze zu suchen, wird niemand reich und weise. Treten wir in den engeren Zusammenhang der Faustkomposition zurück. Faust hat durch des Mephistopheles Zaubermittel, die ihm den freien Flug durch die Welt gestatteten, erlangt, was Mephistopheles ihm nicht gönnen, wo¬ von ihn dieser abziehen wollte, was ihm aber der Erdgeist versprochen hatte: lebendige Fülle ruhiger Anschauung. Aber die magische Kunst, die ihm die Fülle der Erscheinungen herbeiführt und ihm zugleich die Mittel gewährt, die schützenden Schranken, mit welchen das individuelle menschliche Dasein gegen die Außenwelt umgeben ist, leicht zu durchbrechen, hat ihm den Brand einer Leidenschaft entfacht, die ihn entweder von jeuer Lebensfülle hinweg wieder in ein enges Dasein einschließen oder ihn zu einem grausamen Mißbrauch seiner überlegenen Mittel hinreißen muß. Ein Mittel gäbe es, diesem Dilemma zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/679>, abgerufen am 01.09.2024.