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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Laufe.

über den Adel der Form, die Ruhe und Reife der Anschauung verfügte, welche
die Zeit seiner Höhe als Regel des Schaffens begleiten. Und am Ende: fehlt
es denn an Zeichen der Reife im Götz, im Werther, im Faust selbst in den
als der ersten Entstehungszeit angehörig bezeugten Szenen? Man kann bei
Goethe, glaube ich, aus dem Charakter manches Stückes wohl mit Sicher¬
heit entnehmen, daß es einer jugendlichen Periode angehören muß, aber nie¬
mals, daß es nur in einer späten Periode entstanden sein könne. Den Anflug
der Altklugheit zeigen manche Sachen aus allen Perioden. Aber wer will die
Altklugheit der Jugend, die hin und wieder fertig ist, ehe sie gelebt und gesehen
hat, überall unterscheiden von der alten Klugheit des Greises, die uns immer
einladen mochte: Komm, altke du mit mir? Soviel über den Stil. Allein
Schmidt beruft sich auch auf den Inhalt, auf die Worte:


Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft sie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur.
Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust,
Wie in den Busen eines Freunds zu schauen..
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen u. s. w.

Die Worte: "Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust" u. f. w. sollen auf das geo¬
logische Studium deuten, welches erst im Jahre 1779 etwa begann. Schmidt
führt dafür die zweite Abteilung der Briefe aus der Schweiz an; die zweite
Reise dorthin fiel in das Jahr 1779. Allein sicher hat Goethe nicht erst in diesem
Jahre angefangen, die Natur so zu sehen, wie er seine Blicke in jenen Briefen
beschreibt. Wenn die Briefe über die erste Schweizerreise, welche in das Jahr
1776 fiel, dergleichen nicht enthalten, so geht es darum doch nicht an, alles
ähnliche von dieser Reise auszuschließen. Man schreibt nicht von jeder Reise
alles, was man erlebt und sieht, sondern das, was man aus einem Grunde
aus der Reihe des Erlebten für sich oder für irgend einen Briefempfänger
hervorheben will. Der Sinn für die Natur war in Goethe so früh entwickelt,
als, wir können es getrost sagen, sein Bewußtsein; er entstand mit diesem und
gehörte zu ihm. Auch meine ich nicht etwa bloß jenen schwärmerischen Natur-
sinn, der ihre Erscheinungen zu erhöhten Reflexen unsers Seelenlebens macht,
sondern auch den beobachtenden Natursinn, welcher darnach trachtet, die Natur
in ihren Einzelheiten ruhig auseinanderzulegen und ein Bild ihres Wirkens zu
erhalten. Natürlich wird auch dieser Sinn nicht sogleich mit wissenschaftlichen
Versuchen beginnen, aber diese braucht mau auch wirklich nicht in die Worte
hineinzulesen: "Nicht kalt staunenden Besuch erlaubst du nur" u. s. w. Ich glaube,
man dürfte es nicht einmal.


Die Entstehung des Laufe.

über den Adel der Form, die Ruhe und Reife der Anschauung verfügte, welche
die Zeit seiner Höhe als Regel des Schaffens begleiten. Und am Ende: fehlt
es denn an Zeichen der Reife im Götz, im Werther, im Faust selbst in den
als der ersten Entstehungszeit angehörig bezeugten Szenen? Man kann bei
Goethe, glaube ich, aus dem Charakter manches Stückes wohl mit Sicher¬
heit entnehmen, daß es einer jugendlichen Periode angehören muß, aber nie¬
mals, daß es nur in einer späten Periode entstanden sein könne. Den Anflug
der Altklugheit zeigen manche Sachen aus allen Perioden. Aber wer will die
Altklugheit der Jugend, die hin und wieder fertig ist, ehe sie gelebt und gesehen
hat, überall unterscheiden von der alten Klugheit des Greises, die uns immer
einladen mochte: Komm, altke du mit mir? Soviel über den Stil. Allein
Schmidt beruft sich auch auf den Inhalt, auf die Worte:


Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft sie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur.
Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust,
Wie in den Busen eines Freunds zu schauen..
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen u. s. w.

Die Worte: „Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust" u. f. w. sollen auf das geo¬
logische Studium deuten, welches erst im Jahre 1779 etwa begann. Schmidt
führt dafür die zweite Abteilung der Briefe aus der Schweiz an; die zweite
Reise dorthin fiel in das Jahr 1779. Allein sicher hat Goethe nicht erst in diesem
Jahre angefangen, die Natur so zu sehen, wie er seine Blicke in jenen Briefen
beschreibt. Wenn die Briefe über die erste Schweizerreise, welche in das Jahr
1776 fiel, dergleichen nicht enthalten, so geht es darum doch nicht an, alles
ähnliche von dieser Reise auszuschließen. Man schreibt nicht von jeder Reise
alles, was man erlebt und sieht, sondern das, was man aus einem Grunde
aus der Reihe des Erlebten für sich oder für irgend einen Briefempfänger
hervorheben will. Der Sinn für die Natur war in Goethe so früh entwickelt,
als, wir können es getrost sagen, sein Bewußtsein; er entstand mit diesem und
gehörte zu ihm. Auch meine ich nicht etwa bloß jenen schwärmerischen Natur-
sinn, der ihre Erscheinungen zu erhöhten Reflexen unsers Seelenlebens macht,
sondern auch den beobachtenden Natursinn, welcher darnach trachtet, die Natur
in ihren Einzelheiten ruhig auseinanderzulegen und ein Bild ihres Wirkens zu
erhalten. Natürlich wird auch dieser Sinn nicht sogleich mit wissenschaftlichen
Versuchen beginnen, aber diese braucht mau auch wirklich nicht in die Worte
hineinzulesen: „Nicht kalt staunenden Besuch erlaubst du nur" u. s. w. Ich glaube,
man dürfte es nicht einmal.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/678>, abgerufen am 28.07.2024.