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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust,

naturgemäß zu dieser Ansicht, indem er an den Faust den Maßstab einer Shake-
pearischen oder Lessingschen Tragödie legt. Daß der Faust ein Drama in diesem
Sinne nicht ist, nämlich der jetzige Faust, werde ich nicht bestreiten. Ich hoffe
aber bald zu zeigen, daß der ursprüngliche Faust von einer vollendeten Ge¬
schlossenheit war, wie nur einige Stücke des Sophokles und wie Lessings Emilia
Galotti. Was den spätern Faust betrifft, so hoffe ich wahrscheinlich zu macheu,
daß Goethe in Rom noch einmal einen Plan konzipirte, der eine plastische
Einheit der Ausführung verbürgen konnte. Als er zum drittenmale an den
Faust ging, gab er jede Hoffnung und jede Bemühung darum auf. Das steht
in den Briefen an Schiller mehr denn einmal mit klaren Worten zu lesen.
Zwischen meiner und Schmidts Ansicht bleibt aber der Unterschied, daß, wenn
zwischen einer Folge höchst lebens- und eindrucksvoller Szenen der Zusammen¬
hang einer durchgehenden Handlung fehlt, doch ein ideeller Zusammenhang vor¬
handen sein kann, welcher die Szenen zu einem Ganzen macht, d. h. ihnen einen
Fortschritt und einen Abschluß giebt. Dies ist doch noch etwas andres als
eine zufällig auf den Namen derselben Personen geschriebene Reihe von Bildern
und Dialogen, und eine solche Dichtung, die sicherlich kein Drama im Shake-
spearischen und Lessingschen Sinne ist, bildet eben eine Gattung für sich und
kann die ewige Bewunderung aller hochgebildeten Geister verdienen, solange die
Menschheit auf ihren Höhen in solchen Geistern wandelt. Es ist allerdings vom
Übel, daß eine solche Dichtung nachgeahmt werden will. Aber es wäre noch
weit übler, wenn wir uns dadurch zu einem Maßstab der Geisteswerke verleiten
lassen wollten, welcher den Wert derselben darnach ermißt, ob sie geeignet sind,
Schule zu machen. Nur was einmal existirt, ist notwendig, hat einmal ein
Philosoph gesagt. Es wird nicht nötig sein, daß ich jetzt das MMum Wilh
emporhalte, dessen der Satz bedarf.

Nun zu unsrer Szene zurück, welche Julian Schmidt, wenigstens soweit es
sich um den Eingangsmonolog handelt, der Frankfurter Zeit abspricht, um sie
in diejenige Epoche der Weimarischen Zeit zu versetzen, wo die Iphigenie
entstand.

Schmidt giebt zwei Gründe an, welche dieses Datum notwendig machen
sollen: erstens den Stil des Monologs, zweitens den Inhalt. Nichts ist indeß
trügerischer, als bei Goethe aus der stilistischen Reife auf den spätern Ursprung
einer Dichtung oder eines Dichtungsfragments schließen zu wollen. Es gab
eine Zeit, wo man alles Reife womöglich nach der italienischen Reise datiren
wollte, bis Schöll diesem Irrtum durch eine vortreffliche Abhandlung ein Ende
machte. Aber wir dürfen die Reife Goethischer Werke auch nicht erst etwa aus
dem Jahre 1776 oder 1777 datiren wollen. Es ist niemand anders als Julian
Schmidt selbst gewesen, der auf das im Jahre 1771 entstandene Gedicht "Der
Wandrer" hingewiesen hat als ein Zeugnis, wie früh der Dichter, wenn er
wollte, oder sagen wir lieber, wenn ihm Stimmung und Gedanke darnach kamen,


Die Entstehung des Faust,

naturgemäß zu dieser Ansicht, indem er an den Faust den Maßstab einer Shake-
pearischen oder Lessingschen Tragödie legt. Daß der Faust ein Drama in diesem
Sinne nicht ist, nämlich der jetzige Faust, werde ich nicht bestreiten. Ich hoffe
aber bald zu zeigen, daß der ursprüngliche Faust von einer vollendeten Ge¬
schlossenheit war, wie nur einige Stücke des Sophokles und wie Lessings Emilia
Galotti. Was den spätern Faust betrifft, so hoffe ich wahrscheinlich zu macheu,
daß Goethe in Rom noch einmal einen Plan konzipirte, der eine plastische
Einheit der Ausführung verbürgen konnte. Als er zum drittenmale an den
Faust ging, gab er jede Hoffnung und jede Bemühung darum auf. Das steht
in den Briefen an Schiller mehr denn einmal mit klaren Worten zu lesen.
Zwischen meiner und Schmidts Ansicht bleibt aber der Unterschied, daß, wenn
zwischen einer Folge höchst lebens- und eindrucksvoller Szenen der Zusammen¬
hang einer durchgehenden Handlung fehlt, doch ein ideeller Zusammenhang vor¬
handen sein kann, welcher die Szenen zu einem Ganzen macht, d. h. ihnen einen
Fortschritt und einen Abschluß giebt. Dies ist doch noch etwas andres als
eine zufällig auf den Namen derselben Personen geschriebene Reihe von Bildern
und Dialogen, und eine solche Dichtung, die sicherlich kein Drama im Shake-
spearischen und Lessingschen Sinne ist, bildet eben eine Gattung für sich und
kann die ewige Bewunderung aller hochgebildeten Geister verdienen, solange die
Menschheit auf ihren Höhen in solchen Geistern wandelt. Es ist allerdings vom
Übel, daß eine solche Dichtung nachgeahmt werden will. Aber es wäre noch
weit übler, wenn wir uns dadurch zu einem Maßstab der Geisteswerke verleiten
lassen wollten, welcher den Wert derselben darnach ermißt, ob sie geeignet sind,
Schule zu machen. Nur was einmal existirt, ist notwendig, hat einmal ein
Philosoph gesagt. Es wird nicht nötig sein, daß ich jetzt das MMum Wilh
emporhalte, dessen der Satz bedarf.

Nun zu unsrer Szene zurück, welche Julian Schmidt, wenigstens soweit es
sich um den Eingangsmonolog handelt, der Frankfurter Zeit abspricht, um sie
in diejenige Epoche der Weimarischen Zeit zu versetzen, wo die Iphigenie
entstand.

Schmidt giebt zwei Gründe an, welche dieses Datum notwendig machen
sollen: erstens den Stil des Monologs, zweitens den Inhalt. Nichts ist indeß
trügerischer, als bei Goethe aus der stilistischen Reife auf den spätern Ursprung
einer Dichtung oder eines Dichtungsfragments schließen zu wollen. Es gab
eine Zeit, wo man alles Reife womöglich nach der italienischen Reise datiren
wollte, bis Schöll diesem Irrtum durch eine vortreffliche Abhandlung ein Ende
machte. Aber wir dürfen die Reife Goethischer Werke auch nicht erst etwa aus
dem Jahre 1776 oder 1777 datiren wollen. Es ist niemand anders als Julian
Schmidt selbst gewesen, der auf das im Jahre 1771 entstandene Gedicht „Der
Wandrer" hingewiesen hat als ein Zeugnis, wie früh der Dichter, wenn er
wollte, oder sagen wir lieber, wenn ihm Stimmung und Gedanke darnach kamen,


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[0677] Die Entstehung des Faust, naturgemäß zu dieser Ansicht, indem er an den Faust den Maßstab einer Shake- pearischen oder Lessingschen Tragödie legt. Daß der Faust ein Drama in diesem Sinne nicht ist, nämlich der jetzige Faust, werde ich nicht bestreiten. Ich hoffe aber bald zu zeigen, daß der ursprüngliche Faust von einer vollendeten Ge¬ schlossenheit war, wie nur einige Stücke des Sophokles und wie Lessings Emilia Galotti. Was den spätern Faust betrifft, so hoffe ich wahrscheinlich zu macheu, daß Goethe in Rom noch einmal einen Plan konzipirte, der eine plastische Einheit der Ausführung verbürgen konnte. Als er zum drittenmale an den Faust ging, gab er jede Hoffnung und jede Bemühung darum auf. Das steht in den Briefen an Schiller mehr denn einmal mit klaren Worten zu lesen. Zwischen meiner und Schmidts Ansicht bleibt aber der Unterschied, daß, wenn zwischen einer Folge höchst lebens- und eindrucksvoller Szenen der Zusammen¬ hang einer durchgehenden Handlung fehlt, doch ein ideeller Zusammenhang vor¬ handen sein kann, welcher die Szenen zu einem Ganzen macht, d. h. ihnen einen Fortschritt und einen Abschluß giebt. Dies ist doch noch etwas andres als eine zufällig auf den Namen derselben Personen geschriebene Reihe von Bildern und Dialogen, und eine solche Dichtung, die sicherlich kein Drama im Shake- spearischen und Lessingschen Sinne ist, bildet eben eine Gattung für sich und kann die ewige Bewunderung aller hochgebildeten Geister verdienen, solange die Menschheit auf ihren Höhen in solchen Geistern wandelt. Es ist allerdings vom Übel, daß eine solche Dichtung nachgeahmt werden will. Aber es wäre noch weit übler, wenn wir uns dadurch zu einem Maßstab der Geisteswerke verleiten lassen wollten, welcher den Wert derselben darnach ermißt, ob sie geeignet sind, Schule zu machen. Nur was einmal existirt, ist notwendig, hat einmal ein Philosoph gesagt. Es wird nicht nötig sein, daß ich jetzt das MMum Wilh emporhalte, dessen der Satz bedarf. Nun zu unsrer Szene zurück, welche Julian Schmidt, wenigstens soweit es sich um den Eingangsmonolog handelt, der Frankfurter Zeit abspricht, um sie in diejenige Epoche der Weimarischen Zeit zu versetzen, wo die Iphigenie entstand. Schmidt giebt zwei Gründe an, welche dieses Datum notwendig machen sollen: erstens den Stil des Monologs, zweitens den Inhalt. Nichts ist indeß trügerischer, als bei Goethe aus der stilistischen Reife auf den spätern Ursprung einer Dichtung oder eines Dichtungsfragments schließen zu wollen. Es gab eine Zeit, wo man alles Reife womöglich nach der italienischen Reise datiren wollte, bis Schöll diesem Irrtum durch eine vortreffliche Abhandlung ein Ende machte. Aber wir dürfen die Reife Goethischer Werke auch nicht erst etwa aus dem Jahre 1776 oder 1777 datiren wollen. Es ist niemand anders als Julian Schmidt selbst gewesen, der auf das im Jahre 1771 entstandene Gedicht „Der Wandrer" hingewiesen hat als ein Zeugnis, wie früh der Dichter, wenn er wollte, oder sagen wir lieber, wenn ihm Stimmung und Gedanke darnach kamen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/677>, abgerufen am 28.07.2024.