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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Politische Wettorfahnen.

Pair und Militärgouvcrnenr in Lille ernannt. In eben jene Stcidt wollten
im März 1815 die bourbonischen Prinzen einen Teil der trcugebliebencn Truppen
werfen, der Gouverneur verhinderte dies und "rettete Lille dem Kaiser," wie das
.louriml as l'IZmxirö rühmte; dafür speiste er am 27. März beim Kaiser in
den Tuilerien. Daß er wenige Jahre später abermals Pair werden, 1830
Karl X. stürzen helfen und Minister Ludwig Philipps werden sollte, konnte
der Verfasser des vietionuairs nicht voraussehen.

Antoine Pierre Augustin de Piis übertrifft bei weitem den Präfekten bei
Scribe. Er war Sekretär des Grafen Artois, Polizeibeamter unter dem Di¬
rektorium, dem Konsnlat, dem Kaiserreich, der ersten Restauration und während
der hundert Tage. Aber deswegen allein würden wir ihn nicht namhaft machen.
Der Musenalmanach für 1795 enthielt ein Gedicht voll glühender republikanischer
Phrasen vom Citvheu Piis, 1810 besang der Chevalier Piis die Vermählung
Napoleons, 1811 die Geburt des Königs von Rom, 1314 lieferte er zur
Melodie des Koa Woh los Ka^ für seine Landsleute einen Text, dessen erste
Strophe schließt:


lisos )-sux sollt volouis,
Nos eng,ux SVS,N0tu8>
Ros eozurs vMiouis,
Vivo I^plus!

Unter der Republik erschienen von ihm Chansons voll Jubel darüber, daß man
bald keine Glocke mehr hören werde, weil alle zu Kanonen umgegossen würden,
und unter dem Kaiserreich besang er eine Glocke, die der Polizeipräfekt einer
Kirche zum Geschenk gemacht hatte. Kann man mehr verlangen?

Doch genug und übergenug. Oder wäre es nötig, dem Leser noch jenen
Senat in Erinnerung zu bringen, welchem Napoleon selbst das Zeugnis aus¬
stellte, er habe jeden Wink als Befehl betrachtet und immer mehr gethan, als
von ihm verlangt worden? Oder Siebes? Oder Soult? Oder gar den Gro߬
meister der ganzen Gilde, Talleyrand?

In unsrer Blütenlese sind allerdings nicht sämtliche Kategorien der ganzen
Sammlung vertreten. Der Herausgeber derselben verzeiht auch den Musikern
nicht, welche etwa eine Kantate auf Napoleons Vermählung und eine andre
auf Ludwigs XVIII. Rückkehr komponirt haben; nicht den Soldatenmalcrn, welche
jede Heerschau malten; nicht den Bibliothekaren und Professoren, welche, ohne
sich in Politik zu mischen, das Amt, welches ihnen der Kaiser anvertraut hatte,
1814 und 1815 weiter verwalteten n. s. w. Mit Recht führt er zu Gunsten
des General Victor und andrer an, daß sie, nachdem Napoleon einmal dem Thron
entsagt hatte, dem Könige ihren Schwur hielten. Allein in hundert andern
Fällen hat es den Anschein, als erkenne er nur denjenigen als Charakter an,
welcher die einmal ergriffene Partei über das Vaterland stelle, während der


Grcuzboien IV. 18W. 83
Politische Wettorfahnen.

Pair und Militärgouvcrnenr in Lille ernannt. In eben jene Stcidt wollten
im März 1815 die bourbonischen Prinzen einen Teil der trcugebliebencn Truppen
werfen, der Gouverneur verhinderte dies und „rettete Lille dem Kaiser," wie das
.louriml as l'IZmxirö rühmte; dafür speiste er am 27. März beim Kaiser in
den Tuilerien. Daß er wenige Jahre später abermals Pair werden, 1830
Karl X. stürzen helfen und Minister Ludwig Philipps werden sollte, konnte
der Verfasser des vietionuairs nicht voraussehen.

Antoine Pierre Augustin de Piis übertrifft bei weitem den Präfekten bei
Scribe. Er war Sekretär des Grafen Artois, Polizeibeamter unter dem Di¬
rektorium, dem Konsnlat, dem Kaiserreich, der ersten Restauration und während
der hundert Tage. Aber deswegen allein würden wir ihn nicht namhaft machen.
Der Musenalmanach für 1795 enthielt ein Gedicht voll glühender republikanischer
Phrasen vom Citvheu Piis, 1810 besang der Chevalier Piis die Vermählung
Napoleons, 1811 die Geburt des Königs von Rom, 1314 lieferte er zur
Melodie des Koa Woh los Ka^ für seine Landsleute einen Text, dessen erste
Strophe schließt:


lisos )-sux sollt volouis,
Nos eng,ux SVS,N0tu8>
Ros eozurs vMiouis,
Vivo I^plus!

Unter der Republik erschienen von ihm Chansons voll Jubel darüber, daß man
bald keine Glocke mehr hören werde, weil alle zu Kanonen umgegossen würden,
und unter dem Kaiserreich besang er eine Glocke, die der Polizeipräfekt einer
Kirche zum Geschenk gemacht hatte. Kann man mehr verlangen?

Doch genug und übergenug. Oder wäre es nötig, dem Leser noch jenen
Senat in Erinnerung zu bringen, welchem Napoleon selbst das Zeugnis aus¬
stellte, er habe jeden Wink als Befehl betrachtet und immer mehr gethan, als
von ihm verlangt worden? Oder Siebes? Oder Soult? Oder gar den Gro߬
meister der ganzen Gilde, Talleyrand?

In unsrer Blütenlese sind allerdings nicht sämtliche Kategorien der ganzen
Sammlung vertreten. Der Herausgeber derselben verzeiht auch den Musikern
nicht, welche etwa eine Kantate auf Napoleons Vermählung und eine andre
auf Ludwigs XVIII. Rückkehr komponirt haben; nicht den Soldatenmalcrn, welche
jede Heerschau malten; nicht den Bibliothekaren und Professoren, welche, ohne
sich in Politik zu mischen, das Amt, welches ihnen der Kaiser anvertraut hatte,
1814 und 1815 weiter verwalteten n. s. w. Mit Recht führt er zu Gunsten
des General Victor und andrer an, daß sie, nachdem Napoleon einmal dem Thron
entsagt hatte, dem Könige ihren Schwur hielten. Allein in hundert andern
Fällen hat es den Anschein, als erkenne er nur denjenigen als Charakter an,
welcher die einmal ergriffene Partei über das Vaterland stelle, während der


Grcuzboien IV. 18W. 83
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[0667] Politische Wettorfahnen. Pair und Militärgouvcrnenr in Lille ernannt. In eben jene Stcidt wollten im März 1815 die bourbonischen Prinzen einen Teil der trcugebliebencn Truppen werfen, der Gouverneur verhinderte dies und „rettete Lille dem Kaiser," wie das .louriml as l'IZmxirö rühmte; dafür speiste er am 27. März beim Kaiser in den Tuilerien. Daß er wenige Jahre später abermals Pair werden, 1830 Karl X. stürzen helfen und Minister Ludwig Philipps werden sollte, konnte der Verfasser des vietionuairs nicht voraussehen. Antoine Pierre Augustin de Piis übertrifft bei weitem den Präfekten bei Scribe. Er war Sekretär des Grafen Artois, Polizeibeamter unter dem Di¬ rektorium, dem Konsnlat, dem Kaiserreich, der ersten Restauration und während der hundert Tage. Aber deswegen allein würden wir ihn nicht namhaft machen. Der Musenalmanach für 1795 enthielt ein Gedicht voll glühender republikanischer Phrasen vom Citvheu Piis, 1810 besang der Chevalier Piis die Vermählung Napoleons, 1811 die Geburt des Königs von Rom, 1314 lieferte er zur Melodie des Koa Woh los Ka^ für seine Landsleute einen Text, dessen erste Strophe schließt: lisos )-sux sollt volouis, Nos eng,ux SVS,N0tu8> Ros eozurs vMiouis, Vivo I^plus! Unter der Republik erschienen von ihm Chansons voll Jubel darüber, daß man bald keine Glocke mehr hören werde, weil alle zu Kanonen umgegossen würden, und unter dem Kaiserreich besang er eine Glocke, die der Polizeipräfekt einer Kirche zum Geschenk gemacht hatte. Kann man mehr verlangen? Doch genug und übergenug. Oder wäre es nötig, dem Leser noch jenen Senat in Erinnerung zu bringen, welchem Napoleon selbst das Zeugnis aus¬ stellte, er habe jeden Wink als Befehl betrachtet und immer mehr gethan, als von ihm verlangt worden? Oder Siebes? Oder Soult? Oder gar den Gro߬ meister der ganzen Gilde, Talleyrand? In unsrer Blütenlese sind allerdings nicht sämtliche Kategorien der ganzen Sammlung vertreten. Der Herausgeber derselben verzeiht auch den Musikern nicht, welche etwa eine Kantate auf Napoleons Vermählung und eine andre auf Ludwigs XVIII. Rückkehr komponirt haben; nicht den Soldatenmalcrn, welche jede Heerschau malten; nicht den Bibliothekaren und Professoren, welche, ohne sich in Politik zu mischen, das Amt, welches ihnen der Kaiser anvertraut hatte, 1814 und 1815 weiter verwalteten n. s. w. Mit Recht führt er zu Gunsten des General Victor und andrer an, daß sie, nachdem Napoleon einmal dem Thron entsagt hatte, dem Könige ihren Schwur hielten. Allein in hundert andern Fällen hat es den Anschein, als erkenne er nur denjenigen als Charakter an, welcher die einmal ergriffene Partei über das Vaterland stelle, während der Grcuzboien IV. 18W. 83

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/667>, abgerufen am 28.07.2024.