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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Politische Wetterfahnen.

Billigdenkendc zugeben muß, daß die Franzosen im allgemeinen in der Zeit
von 1790 bis 1815 sich in der Lage der öffentlichen Beamten eines Landes
befanden, welches von Feinden okknpirt ist. Der Einzelne konnte es nicht ändern,
daß Gewaltthat auf Gewaltthat folgte, die Gewalt selbst aus einer Hand in
die andre ging und die Regierungsformen wie Kleidermoden einander folgten.
Zudem läßt der anonyme Verfasser nicht gelten, daß die Erfahrung auf das
politische Glaubensbekenntnis Einfluß nehmen dürfe, konsequenter hierin als
unsre Radikalen, welche jeden in die Acht thun, der sich überzeugen läßt, daß
die Monarchie bessere Garantie bietet als die Republik, hingegen den preisen,
welcher den entgegengesetzten Entwicklungsgang durchmacht.

Weshalb wir aber dem Buche soviel Aufmerksamkeit zugewandt haben,
ist dies. Nicht leicht irgendwo wird eindringlicher gepredigt, welches Unglück
es für die Franzosen ist, daß sie in der großen Revolution den Sinn für eine
gesetzmüßige Grundlage der öffentlichen Zustände verloren haben. Als das
Buch erschien, konnte man glauben, jene gesetzmäßige Grundlage wiedergewonnen
zu haben. Der Monarch nahm den Thron kraft seines Erbrechtes ein, durch
die Anerkennung organischer Einrichtungen, der Umwälzung in den Besitzver¬
hältnissen u. s. w. war eine Brücke über ein Vierteljahrhundert hinweg gebaut.
Aber die Thatsache, daß der von Napoleon eingesetzte Senat es wagen konnte,
diesen mit Berufung auf Akte, welche mit Zustimmung des Senats erfolgt
waren, abzusetzen, daß der Senat die Soldaten und Beamten dieses Eides
entband, paßte besser zu den aus der Revolution gewonnenen Vorstellungen;
Frankreich, sagte Talleyrand, hatte Ludwig XVIII. gerufen, Frankreich konnte
ihn oder seinen Nachfolger mich wieder fortschicken. Und wie fest diese Lehre
sitzt, beweist die Geschichte des letzten halben Jahrhunderts. In allen Parteien
lebt unverkennbar eine Ahnung, daß endlich wieder eine Schutzwehr gegen den
unbeständigen Willen der "Nation" oder derer, die sich zu ihren Wortführern
aufwerfen, aufgebaut werden müsse; jede Partei stützt sich auf historisches Recht,
da jede schon wenigstens einmal die Macht anerkanntermaßen besessen hat. Aber
keine Partei gewinnt, wenn sie am Ruder ist, über sich, thatsächlich und formell
an den frühern Rechtszustand anzuknüpfen, eine Rechtskontinuität wieder zu
begründen und sich einen bessern Titel zu verschaffen als den der Usurpation.
Freilich macht jede neue Umwälzung das Werk schwieriger. Aber so lange
nicht eine Regierung den Weg sucht und findet, das Recht, welches der Besitz
ihr verleiht, in ein unanfechtbares, legales zu verwandeln, sich als Rechtsnach¬
folger ihrer Vorgänger zu legitimiren, so lange ist ein Ende der Umwälzungen
nicht abzusehen.

Bekanntlich giebt es auch in Deutschland Leute, welche noch immer nicht
begreifen, daß in diesem Mangel des Rechtsbodens das Hauptunglück Frankreichs
besteht, vielmehr gern Deutschland in ähnliche Bahnen führen möchten.




Politische Wetterfahnen.

Billigdenkendc zugeben muß, daß die Franzosen im allgemeinen in der Zeit
von 1790 bis 1815 sich in der Lage der öffentlichen Beamten eines Landes
befanden, welches von Feinden okknpirt ist. Der Einzelne konnte es nicht ändern,
daß Gewaltthat auf Gewaltthat folgte, die Gewalt selbst aus einer Hand in
die andre ging und die Regierungsformen wie Kleidermoden einander folgten.
Zudem läßt der anonyme Verfasser nicht gelten, daß die Erfahrung auf das
politische Glaubensbekenntnis Einfluß nehmen dürfe, konsequenter hierin als
unsre Radikalen, welche jeden in die Acht thun, der sich überzeugen läßt, daß
die Monarchie bessere Garantie bietet als die Republik, hingegen den preisen,
welcher den entgegengesetzten Entwicklungsgang durchmacht.

Weshalb wir aber dem Buche soviel Aufmerksamkeit zugewandt haben,
ist dies. Nicht leicht irgendwo wird eindringlicher gepredigt, welches Unglück
es für die Franzosen ist, daß sie in der großen Revolution den Sinn für eine
gesetzmüßige Grundlage der öffentlichen Zustände verloren haben. Als das
Buch erschien, konnte man glauben, jene gesetzmäßige Grundlage wiedergewonnen
zu haben. Der Monarch nahm den Thron kraft seines Erbrechtes ein, durch
die Anerkennung organischer Einrichtungen, der Umwälzung in den Besitzver¬
hältnissen u. s. w. war eine Brücke über ein Vierteljahrhundert hinweg gebaut.
Aber die Thatsache, daß der von Napoleon eingesetzte Senat es wagen konnte,
diesen mit Berufung auf Akte, welche mit Zustimmung des Senats erfolgt
waren, abzusetzen, daß der Senat die Soldaten und Beamten dieses Eides
entband, paßte besser zu den aus der Revolution gewonnenen Vorstellungen;
Frankreich, sagte Talleyrand, hatte Ludwig XVIII. gerufen, Frankreich konnte
ihn oder seinen Nachfolger mich wieder fortschicken. Und wie fest diese Lehre
sitzt, beweist die Geschichte des letzten halben Jahrhunderts. In allen Parteien
lebt unverkennbar eine Ahnung, daß endlich wieder eine Schutzwehr gegen den
unbeständigen Willen der „Nation" oder derer, die sich zu ihren Wortführern
aufwerfen, aufgebaut werden müsse; jede Partei stützt sich auf historisches Recht,
da jede schon wenigstens einmal die Macht anerkanntermaßen besessen hat. Aber
keine Partei gewinnt, wenn sie am Ruder ist, über sich, thatsächlich und formell
an den frühern Rechtszustand anzuknüpfen, eine Rechtskontinuität wieder zu
begründen und sich einen bessern Titel zu verschaffen als den der Usurpation.
Freilich macht jede neue Umwälzung das Werk schwieriger. Aber so lange
nicht eine Regierung den Weg sucht und findet, das Recht, welches der Besitz
ihr verleiht, in ein unanfechtbares, legales zu verwandeln, sich als Rechtsnach¬
folger ihrer Vorgänger zu legitimiren, so lange ist ein Ende der Umwälzungen
nicht abzusehen.

Bekanntlich giebt es auch in Deutschland Leute, welche noch immer nicht
begreifen, daß in diesem Mangel des Rechtsbodens das Hauptunglück Frankreichs
besteht, vielmehr gern Deutschland in ähnliche Bahnen führen möchten.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/668>, abgerufen am 28.07.2024.