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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Der neue Merlin.

So lag Merlin still unter den Wipfeln des Waldes, und wenn er nicht in
den Hunderten von Jahren gestorben ist, träumt er dort heute noch von Viviane.

Die Gesellschaft hatte still und zuletzt mit verhaltenem Atem der Erzäh¬
lung ihres Landsmannes gelauscht. Als Friedrich jetzt schwieg, klang ein tiefer
Seufzer dicht neben ihm. Überrascht wandte er sich um, aber er wußte, daß
hier Gertruds Onkel saß, der über ein Ammenmärchen nicht aufstöhnen würde.
In der That hatte sich der Gutsbesitzer von seinem Stuhl erhoben und schüt¬
telte mit komischer Miene seine große, schwerfällige Gestalt.

Es ist Zeit, daß wir aufbrechen! sagte er, sonst wächst auch über uns Gras!
Ihre verwünschte Geschichte wird mich wie ein Gespenst in meinen Wald be¬
gleiten, da giebts auch etliche Stellen, an denen man bald genug von Gott
und aller Welt vergessen werden könnte. Kommt, kommt, Kinder, wir müssen
zu Abend noch auf der Pmzzci sein und unsern Erzähler seinem Schicksal befehlen!

Die andern gaben ihre Bereitwilligkeit zur Heimkehr laut zu erkennen.
Doktor Carstens wechselte einige leise Worte mit Gertrud und versprach, schon
in den nächsten Tagen nach Venedig zu kommen. Darüber überhörte er beinahe
die scheltenden Worte, mit denen Gertruds Freundinnen, die beweglichen beiden
Schwestern des Rechtsanwnlts, auf ihn einsprachen. Man merke, daß ein Mann
seine Geschichte erfunden habe, um die Flatterhaftigkeit der Frauen ins schlimmste
Licht zu setzen. Dabei sahen die jungen Mädchen den Kunsthistoriker so an,
als ob sie ihn im Verdacht hätten, erst an diesem Nachmittage der Erfinder der
altersgrauen Geschichte geworden zu sein. Doktor Carstens versprach lachend,
wenn sie alle daheim sein würden, das Alter seiner Erzählung nachzuweisen.
Im Grunde war er in diesem Augenblicke, wo er die Gesellschaft aus dem
Garten hinweg und zum Landeplatz der Gondeln geleiten mußte, ein wenig be¬
fangen. Es fiel ihm schwerer als er gemeint hatte, die Geliebte mit der froh¬
bewegten Gesellschaft davonfahren zu lassen und hier in der weltfernen Stille
zurückzubleiben.

Er dachte einen Augenblick daran, Gertrud diesen Abend nach Venedig zu
begleiten und morgen in aller Frühe zu seinen Studien nach Torcello zurück¬
zukehren. Aber Signor Constantini, sein Gastfreund, nach dem er und die
andern umschauten, zeigte sich nicht wieder, und es erschien dem Gaste doch un¬
erlaubt, uur durch den Diener einen so plötzlichen Entschluß mitteilen zu lassen.
So zwang er sich zu bleiben und suchte nur die Eile zu mäßigen, in welcher
die Gesellschaft ans der Laube und dem abendstillen Garten aufbrach. Um die
niedergehende Sonne begannen sich die Wolken purpurn zu färben, durch den
blauen Nachmittagshimmel zogen hellere, blaßgrüne Streifen. Da der Herr
des schönen Besitztums nicht wieder sichtbar ward, trug man Doktor Carstens
den Dank aller an ihn auf, und es war natürlich, daß während des Weges
durch die Insel die Gespräche vielfach bei dem Manne verweilten, welcher der
übrigen Bewohnerschaft von Torcello so wenig glich.


Grenzboten IV 1883. 73
Der neue Merlin.

So lag Merlin still unter den Wipfeln des Waldes, und wenn er nicht in
den Hunderten von Jahren gestorben ist, träumt er dort heute noch von Viviane.

Die Gesellschaft hatte still und zuletzt mit verhaltenem Atem der Erzäh¬
lung ihres Landsmannes gelauscht. Als Friedrich jetzt schwieg, klang ein tiefer
Seufzer dicht neben ihm. Überrascht wandte er sich um, aber er wußte, daß
hier Gertruds Onkel saß, der über ein Ammenmärchen nicht aufstöhnen würde.
In der That hatte sich der Gutsbesitzer von seinem Stuhl erhoben und schüt¬
telte mit komischer Miene seine große, schwerfällige Gestalt.

Es ist Zeit, daß wir aufbrechen! sagte er, sonst wächst auch über uns Gras!
Ihre verwünschte Geschichte wird mich wie ein Gespenst in meinen Wald be¬
gleiten, da giebts auch etliche Stellen, an denen man bald genug von Gott
und aller Welt vergessen werden könnte. Kommt, kommt, Kinder, wir müssen
zu Abend noch auf der Pmzzci sein und unsern Erzähler seinem Schicksal befehlen!

Die andern gaben ihre Bereitwilligkeit zur Heimkehr laut zu erkennen.
Doktor Carstens wechselte einige leise Worte mit Gertrud und versprach, schon
in den nächsten Tagen nach Venedig zu kommen. Darüber überhörte er beinahe
die scheltenden Worte, mit denen Gertruds Freundinnen, die beweglichen beiden
Schwestern des Rechtsanwnlts, auf ihn einsprachen. Man merke, daß ein Mann
seine Geschichte erfunden habe, um die Flatterhaftigkeit der Frauen ins schlimmste
Licht zu setzen. Dabei sahen die jungen Mädchen den Kunsthistoriker so an,
als ob sie ihn im Verdacht hätten, erst an diesem Nachmittage der Erfinder der
altersgrauen Geschichte geworden zu sein. Doktor Carstens versprach lachend,
wenn sie alle daheim sein würden, das Alter seiner Erzählung nachzuweisen.
Im Grunde war er in diesem Augenblicke, wo er die Gesellschaft aus dem
Garten hinweg und zum Landeplatz der Gondeln geleiten mußte, ein wenig be¬
fangen. Es fiel ihm schwerer als er gemeint hatte, die Geliebte mit der froh¬
bewegten Gesellschaft davonfahren zu lassen und hier in der weltfernen Stille
zurückzubleiben.

Er dachte einen Augenblick daran, Gertrud diesen Abend nach Venedig zu
begleiten und morgen in aller Frühe zu seinen Studien nach Torcello zurück¬
zukehren. Aber Signor Constantini, sein Gastfreund, nach dem er und die
andern umschauten, zeigte sich nicht wieder, und es erschien dem Gaste doch un¬
erlaubt, uur durch den Diener einen so plötzlichen Entschluß mitteilen zu lassen.
So zwang er sich zu bleiben und suchte nur die Eile zu mäßigen, in welcher
die Gesellschaft ans der Laube und dem abendstillen Garten aufbrach. Um die
niedergehende Sonne begannen sich die Wolken purpurn zu färben, durch den
blauen Nachmittagshimmel zogen hellere, blaßgrüne Streifen. Da der Herr
des schönen Besitztums nicht wieder sichtbar ward, trug man Doktor Carstens
den Dank aller an ihn auf, und es war natürlich, daß während des Weges
durch die Insel die Gespräche vielfach bei dem Manne verweilten, welcher der
übrigen Bewohnerschaft von Torcello so wenig glich.


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[0587] Der neue Merlin. So lag Merlin still unter den Wipfeln des Waldes, und wenn er nicht in den Hunderten von Jahren gestorben ist, träumt er dort heute noch von Viviane. Die Gesellschaft hatte still und zuletzt mit verhaltenem Atem der Erzäh¬ lung ihres Landsmannes gelauscht. Als Friedrich jetzt schwieg, klang ein tiefer Seufzer dicht neben ihm. Überrascht wandte er sich um, aber er wußte, daß hier Gertruds Onkel saß, der über ein Ammenmärchen nicht aufstöhnen würde. In der That hatte sich der Gutsbesitzer von seinem Stuhl erhoben und schüt¬ telte mit komischer Miene seine große, schwerfällige Gestalt. Es ist Zeit, daß wir aufbrechen! sagte er, sonst wächst auch über uns Gras! Ihre verwünschte Geschichte wird mich wie ein Gespenst in meinen Wald be¬ gleiten, da giebts auch etliche Stellen, an denen man bald genug von Gott und aller Welt vergessen werden könnte. Kommt, kommt, Kinder, wir müssen zu Abend noch auf der Pmzzci sein und unsern Erzähler seinem Schicksal befehlen! Die andern gaben ihre Bereitwilligkeit zur Heimkehr laut zu erkennen. Doktor Carstens wechselte einige leise Worte mit Gertrud und versprach, schon in den nächsten Tagen nach Venedig zu kommen. Darüber überhörte er beinahe die scheltenden Worte, mit denen Gertruds Freundinnen, die beweglichen beiden Schwestern des Rechtsanwnlts, auf ihn einsprachen. Man merke, daß ein Mann seine Geschichte erfunden habe, um die Flatterhaftigkeit der Frauen ins schlimmste Licht zu setzen. Dabei sahen die jungen Mädchen den Kunsthistoriker so an, als ob sie ihn im Verdacht hätten, erst an diesem Nachmittage der Erfinder der altersgrauen Geschichte geworden zu sein. Doktor Carstens versprach lachend, wenn sie alle daheim sein würden, das Alter seiner Erzählung nachzuweisen. Im Grunde war er in diesem Augenblicke, wo er die Gesellschaft aus dem Garten hinweg und zum Landeplatz der Gondeln geleiten mußte, ein wenig be¬ fangen. Es fiel ihm schwerer als er gemeint hatte, die Geliebte mit der froh¬ bewegten Gesellschaft davonfahren zu lassen und hier in der weltfernen Stille zurückzubleiben. Er dachte einen Augenblick daran, Gertrud diesen Abend nach Venedig zu begleiten und morgen in aller Frühe zu seinen Studien nach Torcello zurück¬ zukehren. Aber Signor Constantini, sein Gastfreund, nach dem er und die andern umschauten, zeigte sich nicht wieder, und es erschien dem Gaste doch un¬ erlaubt, uur durch den Diener einen so plötzlichen Entschluß mitteilen zu lassen. So zwang er sich zu bleiben und suchte nur die Eile zu mäßigen, in welcher die Gesellschaft ans der Laube und dem abendstillen Garten aufbrach. Um die niedergehende Sonne begannen sich die Wolken purpurn zu färben, durch den blauen Nachmittagshimmel zogen hellere, blaßgrüne Streifen. Da der Herr des schönen Besitztums nicht wieder sichtbar ward, trug man Doktor Carstens den Dank aller an ihn auf, und es war natürlich, daß während des Weges durch die Insel die Gespräche vielfach bei dem Manne verweilten, welcher der übrigen Bewohnerschaft von Torcello so wenig glich. Grenzboten IV 1883. 73

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/587>, abgerufen am 28.07.2024.