Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der neue Merlin.

Gertrud, die wieder ein der Seite des jungen Mannes ging, sagte nach¬
denklich:

An Ihrer Stelle würde mich Signor Felice beinahe mehr interessiren als
der Dom von Torcello. Er scheint ein seltsamer Mann mit einem seltenen
Schicksal.

Vielleicht nicht so selten, als Sie glauben, liebe Gertrud! erwiederte Friedrich.
Diese alten Italiener sind wundersame Gesellen. In jedem Landstädtchen finden
Sie ein paar halbverfallene Palazzi und stille Patrizierhäuscr, in denen bald
ein Einzelner, bald ein älteres Paar, bald eine ganze Familie in einer Zurttck-
gezogenheit leben, die bei uus geheimnisvoll heißen würde.

Das Mädchen hörte die Belehrung ruhig an, sie durfte nicht zweifeln,
daß ihr Geliebter mehr von seinem Gastfreund wisse als sie selbst. Bereits
standen sie und Friedrich nach kurzem Gange an den? kleinen Steindämme, wo
die schwarzen Fahrzeuge und die Gondoliere ihrer harrten. Um sie her schwirrten
die Danksagungen und heitern Grüße der Begleiter, und so begnügte sich Ger¬
trud, das herzliche Abschiedswort des jungen Mannes leise zu erwiedern. Doktor
Carstens blieb am Ufer stehen und sah der buntbelebten kleinen Flotte so lange
nach, als er im Abendsonncnlicht noch den Kopf und das schöne blonde Haar
Gertruds unterscheiden konnte. Langsam und zögernd schlug er deu Rückweg
nach Signor Constantinis Garten ein; die Erlebnisse des Tages, das Wieder¬
sehen seiner Geliebten, selbst seine Erzählung von vorhin hatten ihn erregt. Er
wußte nicht, was ihn zwang, heute jedem Laut, den Gertrud im Laufe des
Tages zu ihm gesprochen hatte, nachzusinnen. Es war ein fremder Tropfen
in seinem frischen Blute, und er sagte sich schließlich, daß er schon zu lauge auf
der Insel verweile, und daß ihn der Gegensatz des frischen Lebens, das heute
gewaltet, und der tiefen Einsamkeit so wunderlich stimme und bewege.

So schritt er nachdenklich zu der Stelle zurück, an der er vorhin neben
Gertrud gestanden. Die Lorbcrzweige, welche sich um ihre Stirn gewiegt hatte",
spielten zwischen dem Bogen der Laube und berührten seine Wangen; die
Ufersäume der Insel leuchteten in der Abendsonne kräftig braunrot, die Lagune
aber schimmerte in allen Farben.

Der junge Deutsche blickte rückwärts über den Rasenhügel aus das Hans
mit den wenigen Fenstern und den schweren dunkeln Vorhängen dahinter und
um sich auf die dichten Hecken und hohen Cypressen. Der Platz kam ihm
unsäglich beschränkt und jetzt, wo die Sonne nicht mehr in den grünen Winkel
hereindrang, unsäglich düster vor. Merlins Weißdornhecke kann nicht enger
gewesen sein! dachte er. Und dann flog es durch sein Hirn: Was heißt denn
eng oder weit? Wenn nun Gertrud mich für immer, ohne Wechsel, ohne
weitere Aussicht in eine kleine deutsche Universitätsstadt bannte, wäre ich viel
besser dran? Wir haben gut mutig sein, solange uns die Hoffnung aufwärts
treibt und uns jenseits des Berges die Erfüllung vorspiegelt. Doch wenn jeder


Der neue Merlin.

Gertrud, die wieder ein der Seite des jungen Mannes ging, sagte nach¬
denklich:

An Ihrer Stelle würde mich Signor Felice beinahe mehr interessiren als
der Dom von Torcello. Er scheint ein seltsamer Mann mit einem seltenen
Schicksal.

Vielleicht nicht so selten, als Sie glauben, liebe Gertrud! erwiederte Friedrich.
Diese alten Italiener sind wundersame Gesellen. In jedem Landstädtchen finden
Sie ein paar halbverfallene Palazzi und stille Patrizierhäuscr, in denen bald
ein Einzelner, bald ein älteres Paar, bald eine ganze Familie in einer Zurttck-
gezogenheit leben, die bei uus geheimnisvoll heißen würde.

Das Mädchen hörte die Belehrung ruhig an, sie durfte nicht zweifeln,
daß ihr Geliebter mehr von seinem Gastfreund wisse als sie selbst. Bereits
standen sie und Friedrich nach kurzem Gange an den? kleinen Steindämme, wo
die schwarzen Fahrzeuge und die Gondoliere ihrer harrten. Um sie her schwirrten
die Danksagungen und heitern Grüße der Begleiter, und so begnügte sich Ger¬
trud, das herzliche Abschiedswort des jungen Mannes leise zu erwiedern. Doktor
Carstens blieb am Ufer stehen und sah der buntbelebten kleinen Flotte so lange
nach, als er im Abendsonncnlicht noch den Kopf und das schöne blonde Haar
Gertruds unterscheiden konnte. Langsam und zögernd schlug er deu Rückweg
nach Signor Constantinis Garten ein; die Erlebnisse des Tages, das Wieder¬
sehen seiner Geliebten, selbst seine Erzählung von vorhin hatten ihn erregt. Er
wußte nicht, was ihn zwang, heute jedem Laut, den Gertrud im Laufe des
Tages zu ihm gesprochen hatte, nachzusinnen. Es war ein fremder Tropfen
in seinem frischen Blute, und er sagte sich schließlich, daß er schon zu lauge auf
der Insel verweile, und daß ihn der Gegensatz des frischen Lebens, das heute
gewaltet, und der tiefen Einsamkeit so wunderlich stimme und bewege.

So schritt er nachdenklich zu der Stelle zurück, an der er vorhin neben
Gertrud gestanden. Die Lorbcrzweige, welche sich um ihre Stirn gewiegt hatte»,
spielten zwischen dem Bogen der Laube und berührten seine Wangen; die
Ufersäume der Insel leuchteten in der Abendsonne kräftig braunrot, die Lagune
aber schimmerte in allen Farben.

Der junge Deutsche blickte rückwärts über den Rasenhügel aus das Hans
mit den wenigen Fenstern und den schweren dunkeln Vorhängen dahinter und
um sich auf die dichten Hecken und hohen Cypressen. Der Platz kam ihm
unsäglich beschränkt und jetzt, wo die Sonne nicht mehr in den grünen Winkel
hereindrang, unsäglich düster vor. Merlins Weißdornhecke kann nicht enger
gewesen sein! dachte er. Und dann flog es durch sein Hirn: Was heißt denn
eng oder weit? Wenn nun Gertrud mich für immer, ohne Wechsel, ohne
weitere Aussicht in eine kleine deutsche Universitätsstadt bannte, wäre ich viel
besser dran? Wir haben gut mutig sein, solange uns die Hoffnung aufwärts
treibt und uns jenseits des Berges die Erfüllung vorspiegelt. Doch wenn jeder


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0588" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154753"/>
          <fw type="header" place="top"> Der neue Merlin.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1740"> Gertrud, die wieder ein der Seite des jungen Mannes ging, sagte nach¬<lb/>
denklich:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1741"> An Ihrer Stelle würde mich Signor Felice beinahe mehr interessiren als<lb/>
der Dom von Torcello. Er scheint ein seltsamer Mann mit einem seltenen<lb/>
Schicksal.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1742"> Vielleicht nicht so selten, als Sie glauben, liebe Gertrud! erwiederte Friedrich.<lb/>
Diese alten Italiener sind wundersame Gesellen. In jedem Landstädtchen finden<lb/>
Sie ein paar halbverfallene Palazzi und stille Patrizierhäuscr, in denen bald<lb/>
ein Einzelner, bald ein älteres Paar, bald eine ganze Familie in einer Zurttck-<lb/>
gezogenheit leben, die bei uus geheimnisvoll heißen würde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1743"> Das Mädchen hörte die Belehrung ruhig an, sie durfte nicht zweifeln,<lb/>
daß ihr Geliebter mehr von seinem Gastfreund wisse als sie selbst. Bereits<lb/>
standen sie und Friedrich nach kurzem Gange an den? kleinen Steindämme, wo<lb/>
die schwarzen Fahrzeuge und die Gondoliere ihrer harrten. Um sie her schwirrten<lb/>
die Danksagungen und heitern Grüße der Begleiter, und so begnügte sich Ger¬<lb/>
trud, das herzliche Abschiedswort des jungen Mannes leise zu erwiedern. Doktor<lb/>
Carstens blieb am Ufer stehen und sah der buntbelebten kleinen Flotte so lange<lb/>
nach, als er im Abendsonncnlicht noch den Kopf und das schöne blonde Haar<lb/>
Gertruds unterscheiden konnte. Langsam und zögernd schlug er deu Rückweg<lb/>
nach Signor Constantinis Garten ein; die Erlebnisse des Tages, das Wieder¬<lb/>
sehen seiner Geliebten, selbst seine Erzählung von vorhin hatten ihn erregt. Er<lb/>
wußte nicht, was ihn zwang, heute jedem Laut, den Gertrud im Laufe des<lb/>
Tages zu ihm gesprochen hatte, nachzusinnen. Es war ein fremder Tropfen<lb/>
in seinem frischen Blute, und er sagte sich schließlich, daß er schon zu lauge auf<lb/>
der Insel verweile, und daß ihn der Gegensatz des frischen Lebens, das heute<lb/>
gewaltet, und der tiefen Einsamkeit so wunderlich stimme und bewege.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1744"> So schritt er nachdenklich zu der Stelle zurück, an der er vorhin neben<lb/>
Gertrud gestanden. Die Lorbcrzweige, welche sich um ihre Stirn gewiegt hatte»,<lb/>
spielten zwischen dem Bogen der Laube und berührten seine Wangen; die<lb/>
Ufersäume der Insel leuchteten in der Abendsonne kräftig braunrot, die Lagune<lb/>
aber schimmerte in allen Farben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1745" next="#ID_1746"> Der junge Deutsche blickte rückwärts über den Rasenhügel aus das Hans<lb/>
mit den wenigen Fenstern und den schweren dunkeln Vorhängen dahinter und<lb/>
um sich auf die dichten Hecken und hohen Cypressen. Der Platz kam ihm<lb/>
unsäglich beschränkt und jetzt, wo die Sonne nicht mehr in den grünen Winkel<lb/>
hereindrang, unsäglich düster vor. Merlins Weißdornhecke kann nicht enger<lb/>
gewesen sein! dachte er. Und dann flog es durch sein Hirn: Was heißt denn<lb/>
eng oder weit? Wenn nun Gertrud mich für immer, ohne Wechsel, ohne<lb/>
weitere Aussicht in eine kleine deutsche Universitätsstadt bannte, wäre ich viel<lb/>
besser dran? Wir haben gut mutig sein, solange uns die Hoffnung aufwärts<lb/>
treibt und uns jenseits des Berges die Erfüllung vorspiegelt. Doch wenn jeder</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0588] Der neue Merlin. Gertrud, die wieder ein der Seite des jungen Mannes ging, sagte nach¬ denklich: An Ihrer Stelle würde mich Signor Felice beinahe mehr interessiren als der Dom von Torcello. Er scheint ein seltsamer Mann mit einem seltenen Schicksal. Vielleicht nicht so selten, als Sie glauben, liebe Gertrud! erwiederte Friedrich. Diese alten Italiener sind wundersame Gesellen. In jedem Landstädtchen finden Sie ein paar halbverfallene Palazzi und stille Patrizierhäuscr, in denen bald ein Einzelner, bald ein älteres Paar, bald eine ganze Familie in einer Zurttck- gezogenheit leben, die bei uus geheimnisvoll heißen würde. Das Mädchen hörte die Belehrung ruhig an, sie durfte nicht zweifeln, daß ihr Geliebter mehr von seinem Gastfreund wisse als sie selbst. Bereits standen sie und Friedrich nach kurzem Gange an den? kleinen Steindämme, wo die schwarzen Fahrzeuge und die Gondoliere ihrer harrten. Um sie her schwirrten die Danksagungen und heitern Grüße der Begleiter, und so begnügte sich Ger¬ trud, das herzliche Abschiedswort des jungen Mannes leise zu erwiedern. Doktor Carstens blieb am Ufer stehen und sah der buntbelebten kleinen Flotte so lange nach, als er im Abendsonncnlicht noch den Kopf und das schöne blonde Haar Gertruds unterscheiden konnte. Langsam und zögernd schlug er deu Rückweg nach Signor Constantinis Garten ein; die Erlebnisse des Tages, das Wieder¬ sehen seiner Geliebten, selbst seine Erzählung von vorhin hatten ihn erregt. Er wußte nicht, was ihn zwang, heute jedem Laut, den Gertrud im Laufe des Tages zu ihm gesprochen hatte, nachzusinnen. Es war ein fremder Tropfen in seinem frischen Blute, und er sagte sich schließlich, daß er schon zu lauge auf der Insel verweile, und daß ihn der Gegensatz des frischen Lebens, das heute gewaltet, und der tiefen Einsamkeit so wunderlich stimme und bewege. So schritt er nachdenklich zu der Stelle zurück, an der er vorhin neben Gertrud gestanden. Die Lorbcrzweige, welche sich um ihre Stirn gewiegt hatte», spielten zwischen dem Bogen der Laube und berührten seine Wangen; die Ufersäume der Insel leuchteten in der Abendsonne kräftig braunrot, die Lagune aber schimmerte in allen Farben. Der junge Deutsche blickte rückwärts über den Rasenhügel aus das Hans mit den wenigen Fenstern und den schweren dunkeln Vorhängen dahinter und um sich auf die dichten Hecken und hohen Cypressen. Der Platz kam ihm unsäglich beschränkt und jetzt, wo die Sonne nicht mehr in den grünen Winkel hereindrang, unsäglich düster vor. Merlins Weißdornhecke kann nicht enger gewesen sein! dachte er. Und dann flog es durch sein Hirn: Was heißt denn eng oder weit? Wenn nun Gertrud mich für immer, ohne Wechsel, ohne weitere Aussicht in eine kleine deutsche Universitätsstadt bannte, wäre ich viel besser dran? Wir haben gut mutig sein, solange uns die Hoffnung aufwärts treibt und uns jenseits des Berges die Erfüllung vorspiegelt. Doch wenn jeder

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/588
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/588>, abgerufen am 28.07.2024.