Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Gesunder Menschenverstand.

es recht aufstillend, daß mit dem Hinwerfen von Maximen oder Reflexionen
wenig Nutzen geschafft wird. Das Thema ist wichtig genug und ladet zu gründ¬
licher Erörterung ein; anstatt einer solcher giebt der Zusatz, daß vor allem die
Regierungen aufhören müßten, "das öffentliche Recht im Interesse ihrer Herr¬
schaft als bloße Nützlichkeitssache zu handhaben," dem Manne mit laxer Moral
die willkommene Ausrede an die Hand, er werde aufhören, die Staatskasse zu
schädigen und sich auf die Seite der Revolutionäre zu stellen, sobald die Re¬
gierung ihm mit gutem Beispiel vorangehe! Wenig "veiter begegnet uns der
Satz: "Im stärksten Gegensatz zur Freiheit bewegt sich die Vorstellung, daß
jeder Einzelne alles das beliebig thun und unterlassen dürfe, was nicht gegen
eine bestimmte Vorschrift des Strafgesetzgcbers verstößt." Wäre es nicht er¬
sprießlicher gewesen, die beiden Sätze (den letztern mit einer kleinen sprachlichen
Korrektur) gemeinsam abzuhandeln?

In die Klasse der Geschmacklosigkeiten gehört wieder: "Das Recht gleicht
der zarten Pflanze, die der Pflege bedarf, um zu gedeihe". Eben deswegen
sprechen wir von der Rechtspflege wie von der Krankenpflege"! Wenn einer
von Auerbachs philosophirenden Bauern sich eine solche Vermengung der ver-
schiednen Bedeutungen von "pflegen" zu Schulden kommen ließe, würden wir
uns weniger wundern. Den Vergleich zwischen Raubmenschen, Raubtieren,
Wölfen im Schafspelz, die "durch rücksichtslose Ausbeutung wirtschaftlicher Über¬
legenheit unter dem Titel wohlthätiger Konkurrenz die Selbsterhaltungsfähigkeit
andrer vernichten" u. s, w., könnte man schon gelten lassen, wenn der Verfasser
nur nicht gar so wohlgefällig bei demselben verweilte. Hingegen dürfen wir ihm
rückhaltlos zustimmen, wenn er predigt: "Nicht Teilung der Gewalten, sondern
ganz im Gegenteil Zusammenwirken der politischen Lebensorgane für den Staats¬
zweck, ist das Prinzip der modernen Wanderer" ist offenbar Druckfehlers Ver-
fassungsgebung. ... Die verkehrteste aller Bestrebungen wäre die, auf die Macht¬
losigkeit der Regierungen planmäßig hinzuarbeiten. Denn Ohnmacht der Regierung
bedeutet gleichzeitig Unfreiheit der Nationen." Und, dies ergänzend: "Der
naturgemäße Einfluß der Parlamente kann in festländischen Staaten nicht dahin
zielen, daß sie selbst regieren und zu diesem Zwecke nach abhängigen und jeder¬
zeit willfährigen Regierungsorganen trachten. .. . Das deutsche Reichsgericht
hat in richtiger Würdigung der Sachlage entschieden, daß deutschen Staats¬
beamten die öffentliche Agitation für irgend eine regierende oder nichtregierende
Partei durch den reinen Begriff des Staatsamtes verwehrt ist. Staatsamt und
Parteiamt schließen einander aus. . . . Ein Fehler des modernen konstitutionellen
Systems liegt darin, daß wirklich vorhandene Interessengegensätze durch die ge¬
setzliche Fiktion eines einheitlichen, in den Kammern waltenden Volkswillens er¬
stickt werden sollen. Unhaltbar gegenüber der Wirklichkeit des Lebens ist die
Lehre, daß jeder Volksvertreter unabhängig von wirtschaftlichen und lokalen
Interessen das ganze Volk vertrete." Und diese Betrachtung führt zu den,


Grenzboten IV. 1883. "4
Gesunder Menschenverstand.

es recht aufstillend, daß mit dem Hinwerfen von Maximen oder Reflexionen
wenig Nutzen geschafft wird. Das Thema ist wichtig genug und ladet zu gründ¬
licher Erörterung ein; anstatt einer solcher giebt der Zusatz, daß vor allem die
Regierungen aufhören müßten, „das öffentliche Recht im Interesse ihrer Herr¬
schaft als bloße Nützlichkeitssache zu handhaben," dem Manne mit laxer Moral
die willkommene Ausrede an die Hand, er werde aufhören, die Staatskasse zu
schädigen und sich auf die Seite der Revolutionäre zu stellen, sobald die Re¬
gierung ihm mit gutem Beispiel vorangehe! Wenig »veiter begegnet uns der
Satz: „Im stärksten Gegensatz zur Freiheit bewegt sich die Vorstellung, daß
jeder Einzelne alles das beliebig thun und unterlassen dürfe, was nicht gegen
eine bestimmte Vorschrift des Strafgesetzgcbers verstößt." Wäre es nicht er¬
sprießlicher gewesen, die beiden Sätze (den letztern mit einer kleinen sprachlichen
Korrektur) gemeinsam abzuhandeln?

In die Klasse der Geschmacklosigkeiten gehört wieder: „Das Recht gleicht
der zarten Pflanze, die der Pflege bedarf, um zu gedeihe». Eben deswegen
sprechen wir von der Rechtspflege wie von der Krankenpflege"! Wenn einer
von Auerbachs philosophirenden Bauern sich eine solche Vermengung der ver-
schiednen Bedeutungen von „pflegen" zu Schulden kommen ließe, würden wir
uns weniger wundern. Den Vergleich zwischen Raubmenschen, Raubtieren,
Wölfen im Schafspelz, die „durch rücksichtslose Ausbeutung wirtschaftlicher Über¬
legenheit unter dem Titel wohlthätiger Konkurrenz die Selbsterhaltungsfähigkeit
andrer vernichten" u. s, w., könnte man schon gelten lassen, wenn der Verfasser
nur nicht gar so wohlgefällig bei demselben verweilte. Hingegen dürfen wir ihm
rückhaltlos zustimmen, wenn er predigt: „Nicht Teilung der Gewalten, sondern
ganz im Gegenteil Zusammenwirken der politischen Lebensorgane für den Staats¬
zweck, ist das Prinzip der modernen Wanderer« ist offenbar Druckfehlers Ver-
fassungsgebung. ... Die verkehrteste aller Bestrebungen wäre die, auf die Macht¬
losigkeit der Regierungen planmäßig hinzuarbeiten. Denn Ohnmacht der Regierung
bedeutet gleichzeitig Unfreiheit der Nationen." Und, dies ergänzend: „Der
naturgemäße Einfluß der Parlamente kann in festländischen Staaten nicht dahin
zielen, daß sie selbst regieren und zu diesem Zwecke nach abhängigen und jeder¬
zeit willfährigen Regierungsorganen trachten. .. . Das deutsche Reichsgericht
hat in richtiger Würdigung der Sachlage entschieden, daß deutschen Staats¬
beamten die öffentliche Agitation für irgend eine regierende oder nichtregierende
Partei durch den reinen Begriff des Staatsamtes verwehrt ist. Staatsamt und
Parteiamt schließen einander aus. . . . Ein Fehler des modernen konstitutionellen
Systems liegt darin, daß wirklich vorhandene Interessengegensätze durch die ge¬
setzliche Fiktion eines einheitlichen, in den Kammern waltenden Volkswillens er¬
stickt werden sollen. Unhaltbar gegenüber der Wirklichkeit des Lebens ist die
Lehre, daß jeder Volksvertreter unabhängig von wirtschaftlichen und lokalen
Interessen das ganze Volk vertrete." Und diese Betrachtung führt zu den,


Grenzboten IV. 1883. «4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0515" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154680"/>
          <fw type="header" place="top"> Gesunder Menschenverstand.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1546" prev="#ID_1545"> es recht aufstillend, daß mit dem Hinwerfen von Maximen oder Reflexionen<lb/>
wenig Nutzen geschafft wird. Das Thema ist wichtig genug und ladet zu gründ¬<lb/>
licher Erörterung ein; anstatt einer solcher giebt der Zusatz, daß vor allem die<lb/>
Regierungen aufhören müßten, &#x201E;das öffentliche Recht im Interesse ihrer Herr¬<lb/>
schaft als bloße Nützlichkeitssache zu handhaben," dem Manne mit laxer Moral<lb/>
die willkommene Ausrede an die Hand, er werde aufhören, die Staatskasse zu<lb/>
schädigen und sich auf die Seite der Revolutionäre zu stellen, sobald die Re¬<lb/>
gierung ihm mit gutem Beispiel vorangehe! Wenig »veiter begegnet uns der<lb/>
Satz: &#x201E;Im stärksten Gegensatz zur Freiheit bewegt sich die Vorstellung, daß<lb/>
jeder Einzelne alles das beliebig thun und unterlassen dürfe, was nicht gegen<lb/>
eine bestimmte Vorschrift des Strafgesetzgcbers verstößt." Wäre es nicht er¬<lb/>
sprießlicher gewesen, die beiden Sätze (den letztern mit einer kleinen sprachlichen<lb/>
Korrektur) gemeinsam abzuhandeln?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1547" next="#ID_1548"> In die Klasse der Geschmacklosigkeiten gehört wieder: &#x201E;Das Recht gleicht<lb/>
der zarten Pflanze, die der Pflege bedarf, um zu gedeihe». Eben deswegen<lb/>
sprechen wir von der Rechtspflege wie von der Krankenpflege"! Wenn einer<lb/>
von Auerbachs philosophirenden Bauern sich eine solche Vermengung der ver-<lb/>
schiednen Bedeutungen von &#x201E;pflegen" zu Schulden kommen ließe, würden wir<lb/>
uns weniger wundern. Den Vergleich zwischen Raubmenschen, Raubtieren,<lb/>
Wölfen im Schafspelz, die &#x201E;durch rücksichtslose Ausbeutung wirtschaftlicher Über¬<lb/>
legenheit unter dem Titel wohlthätiger Konkurrenz die Selbsterhaltungsfähigkeit<lb/>
andrer vernichten" u. s, w., könnte man schon gelten lassen, wenn der Verfasser<lb/>
nur nicht gar so wohlgefällig bei demselben verweilte. Hingegen dürfen wir ihm<lb/>
rückhaltlos zustimmen, wenn er predigt: &#x201E;Nicht Teilung der Gewalten, sondern<lb/>
ganz im Gegenteil Zusammenwirken der politischen Lebensorgane für den Staats¬<lb/>
zweck, ist das Prinzip der modernen Wanderer« ist offenbar Druckfehlers Ver-<lb/>
fassungsgebung. ... Die verkehrteste aller Bestrebungen wäre die, auf die Macht¬<lb/>
losigkeit der Regierungen planmäßig hinzuarbeiten. Denn Ohnmacht der Regierung<lb/>
bedeutet gleichzeitig Unfreiheit der Nationen." Und, dies ergänzend: &#x201E;Der<lb/>
naturgemäße Einfluß der Parlamente kann in festländischen Staaten nicht dahin<lb/>
zielen, daß sie selbst regieren und zu diesem Zwecke nach abhängigen und jeder¬<lb/>
zeit willfährigen Regierungsorganen trachten. .. . Das deutsche Reichsgericht<lb/>
hat in richtiger Würdigung der Sachlage entschieden, daß deutschen Staats¬<lb/>
beamten die öffentliche Agitation für irgend eine regierende oder nichtregierende<lb/>
Partei durch den reinen Begriff des Staatsamtes verwehrt ist. Staatsamt und<lb/>
Parteiamt schließen einander aus. . . . Ein Fehler des modernen konstitutionellen<lb/>
Systems liegt darin, daß wirklich vorhandene Interessengegensätze durch die ge¬<lb/>
setzliche Fiktion eines einheitlichen, in den Kammern waltenden Volkswillens er¬<lb/>
stickt werden sollen. Unhaltbar gegenüber der Wirklichkeit des Lebens ist die<lb/>
Lehre, daß jeder Volksvertreter unabhängig von wirtschaftlichen und lokalen<lb/>
Interessen das ganze Volk vertrete." Und diese Betrachtung führt zu den,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1883. «4</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0515] Gesunder Menschenverstand. es recht aufstillend, daß mit dem Hinwerfen von Maximen oder Reflexionen wenig Nutzen geschafft wird. Das Thema ist wichtig genug und ladet zu gründ¬ licher Erörterung ein; anstatt einer solcher giebt der Zusatz, daß vor allem die Regierungen aufhören müßten, „das öffentliche Recht im Interesse ihrer Herr¬ schaft als bloße Nützlichkeitssache zu handhaben," dem Manne mit laxer Moral die willkommene Ausrede an die Hand, er werde aufhören, die Staatskasse zu schädigen und sich auf die Seite der Revolutionäre zu stellen, sobald die Re¬ gierung ihm mit gutem Beispiel vorangehe! Wenig »veiter begegnet uns der Satz: „Im stärksten Gegensatz zur Freiheit bewegt sich die Vorstellung, daß jeder Einzelne alles das beliebig thun und unterlassen dürfe, was nicht gegen eine bestimmte Vorschrift des Strafgesetzgcbers verstößt." Wäre es nicht er¬ sprießlicher gewesen, die beiden Sätze (den letztern mit einer kleinen sprachlichen Korrektur) gemeinsam abzuhandeln? In die Klasse der Geschmacklosigkeiten gehört wieder: „Das Recht gleicht der zarten Pflanze, die der Pflege bedarf, um zu gedeihe». Eben deswegen sprechen wir von der Rechtspflege wie von der Krankenpflege"! Wenn einer von Auerbachs philosophirenden Bauern sich eine solche Vermengung der ver- schiednen Bedeutungen von „pflegen" zu Schulden kommen ließe, würden wir uns weniger wundern. Den Vergleich zwischen Raubmenschen, Raubtieren, Wölfen im Schafspelz, die „durch rücksichtslose Ausbeutung wirtschaftlicher Über¬ legenheit unter dem Titel wohlthätiger Konkurrenz die Selbsterhaltungsfähigkeit andrer vernichten" u. s, w., könnte man schon gelten lassen, wenn der Verfasser nur nicht gar so wohlgefällig bei demselben verweilte. Hingegen dürfen wir ihm rückhaltlos zustimmen, wenn er predigt: „Nicht Teilung der Gewalten, sondern ganz im Gegenteil Zusammenwirken der politischen Lebensorgane für den Staats¬ zweck, ist das Prinzip der modernen Wanderer« ist offenbar Druckfehlers Ver- fassungsgebung. ... Die verkehrteste aller Bestrebungen wäre die, auf die Macht¬ losigkeit der Regierungen planmäßig hinzuarbeiten. Denn Ohnmacht der Regierung bedeutet gleichzeitig Unfreiheit der Nationen." Und, dies ergänzend: „Der naturgemäße Einfluß der Parlamente kann in festländischen Staaten nicht dahin zielen, daß sie selbst regieren und zu diesem Zwecke nach abhängigen und jeder¬ zeit willfährigen Regierungsorganen trachten. .. . Das deutsche Reichsgericht hat in richtiger Würdigung der Sachlage entschieden, daß deutschen Staats¬ beamten die öffentliche Agitation für irgend eine regierende oder nichtregierende Partei durch den reinen Begriff des Staatsamtes verwehrt ist. Staatsamt und Parteiamt schließen einander aus. . . . Ein Fehler des modernen konstitutionellen Systems liegt darin, daß wirklich vorhandene Interessengegensätze durch die ge¬ setzliche Fiktion eines einheitlichen, in den Kammern waltenden Volkswillens er¬ stickt werden sollen. Unhaltbar gegenüber der Wirklichkeit des Lebens ist die Lehre, daß jeder Volksvertreter unabhängig von wirtschaftlichen und lokalen Interessen das ganze Volk vertrete." Und diese Betrachtung führt zu den, Grenzboten IV. 1883. «4

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/515
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/515>, abgerufen am 28.07.2024.