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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gesunder Menschenverstand.

bedienen und darf nicht ermüden, der Unwahrheit und Unklarheit, dem Unsinn
und Unflat, die täglich dem "Volke" aufgetischt werden, immer wieder die Wahr¬
heit und den Menschenverstand entgegenzusetzen. Mit dem Anschlagen einer
Anzahl von Thesen ist heutzutage kaum mehr etwas zu erzielen. Hundertmal
müssen dieselben Wahrheiten wiederholt, aber das Gold muß jedesmal umge¬
prägt werden.

Zudem ist keineswegs alles Gold, was Holtzendorff bringt, und auch das
Gepräge oft nichts weniger als mustergiltig. Gleich auf der zweiten Seite
fühlen wir uns gedrungen, ein großes Fragezeichen zu machen, wenn er, in dem
oben zitirten Satze fortfahrend, behauptet, ohne hinreichend starken Zusatz von
gesundem Menschenverstand sei "die öffentliche Meinung einflußlos." Selbst¬
verständlich können wir uns auf eine Polemik über diesen Punkt nicht einlassen,
da wir nicht wissen, was der Verfasser unter öffentlicher Meinung versteht und
auf wen sie Einfluß ausüben soll. An Sätzen, welche an ähnlichen Unklar¬
heiten leiden und daher in die Kategorie der Phrase fallen, ist kein Mangel.
Sodann macht sich ein Hang zum Geistreicheln bemerkbar und verleitet den
Verfasser zu den wunderlichsten Stilblüten. Bei der Frage nach dem Wert und
Unwert der Beredtsamkeit heißt es: "Schon in alter Zeit entschied man sich
für den Bimetallismus, der im Sprichwort das Reden für Silber und das
Schweigen für Gold erklärte." Wie ihn Herr Bamberger um diese Wendung
beneiden wird! Ein andermal lesen wir gar von "dem niemals unterbrochenen
Opfer der Selbstsucht durch das Schlachtmesser der Liebe, das den Haß
tötet und die ewige Güte in uns ihr tägliches Auferstehungsfest feiern läßt."

Dem größten Teile der 206 Aphorismen muß man jedoch aufmerksame
Leser wünschen; solchen werden zwar die Schwächen des Glossators nicht ent¬
gehen, sie werden aber auch manche Anregung zum Nachdenken empfangen. Wir
begnügen uns auf einzelne Stellen hinzudeuten. Seite 74 unter dem Schlag¬
wort "Partei Bismarck" wird das Wort Lessings über sein Verhältnis zu
Klopstock angezogen: weil er denselben für ein großes Genie erkenne, brauche
er ihm nicht überall Recht zu geben, vielmehr sei er gerade darum gegen ihn
auf seiner Hut. Das heißt im Munde des Politikers: Einer Partei, deren
Haupt Bismarck ist, kann ich mich nicht anschließen, für mich giebt es nur die
Partei Holtzendorff. Oder würde er die Bedenken vielleicht fallen lassen gegen¬
über einem Parteiführer, der kein Genie wäre? Und doch steht Seite 26 unter
der Devise des Prinzen von Wales "Ich bien'" das gute Wort: "Es ist
würdiger im Staat, großen Männern zu dienen, als über kleine Geister zu
herrschen." Dann und wann kommt etwas zum Vorschein wie Ranküne gegen
den Staatsmann, der nicht genug Respekt vor den Professoren hat!

Sehr richtig wird die Vorstellung, "daß es dem gebildeten Manne gezieme,
mit Staatsverbrechern stets zu sympathisiren," mit der Ansicht des Schmugglers
verglichen, die Staatskasse zu benachteiligen sei kein Übel. Allein eben da wird


Gesunder Menschenverstand.

bedienen und darf nicht ermüden, der Unwahrheit und Unklarheit, dem Unsinn
und Unflat, die täglich dem „Volke" aufgetischt werden, immer wieder die Wahr¬
heit und den Menschenverstand entgegenzusetzen. Mit dem Anschlagen einer
Anzahl von Thesen ist heutzutage kaum mehr etwas zu erzielen. Hundertmal
müssen dieselben Wahrheiten wiederholt, aber das Gold muß jedesmal umge¬
prägt werden.

Zudem ist keineswegs alles Gold, was Holtzendorff bringt, und auch das
Gepräge oft nichts weniger als mustergiltig. Gleich auf der zweiten Seite
fühlen wir uns gedrungen, ein großes Fragezeichen zu machen, wenn er, in dem
oben zitirten Satze fortfahrend, behauptet, ohne hinreichend starken Zusatz von
gesundem Menschenverstand sei „die öffentliche Meinung einflußlos." Selbst¬
verständlich können wir uns auf eine Polemik über diesen Punkt nicht einlassen,
da wir nicht wissen, was der Verfasser unter öffentlicher Meinung versteht und
auf wen sie Einfluß ausüben soll. An Sätzen, welche an ähnlichen Unklar¬
heiten leiden und daher in die Kategorie der Phrase fallen, ist kein Mangel.
Sodann macht sich ein Hang zum Geistreicheln bemerkbar und verleitet den
Verfasser zu den wunderlichsten Stilblüten. Bei der Frage nach dem Wert und
Unwert der Beredtsamkeit heißt es: „Schon in alter Zeit entschied man sich
für den Bimetallismus, der im Sprichwort das Reden für Silber und das
Schweigen für Gold erklärte." Wie ihn Herr Bamberger um diese Wendung
beneiden wird! Ein andermal lesen wir gar von „dem niemals unterbrochenen
Opfer der Selbstsucht durch das Schlachtmesser der Liebe, das den Haß
tötet und die ewige Güte in uns ihr tägliches Auferstehungsfest feiern läßt."

Dem größten Teile der 206 Aphorismen muß man jedoch aufmerksame
Leser wünschen; solchen werden zwar die Schwächen des Glossators nicht ent¬
gehen, sie werden aber auch manche Anregung zum Nachdenken empfangen. Wir
begnügen uns auf einzelne Stellen hinzudeuten. Seite 74 unter dem Schlag¬
wort „Partei Bismarck" wird das Wort Lessings über sein Verhältnis zu
Klopstock angezogen: weil er denselben für ein großes Genie erkenne, brauche
er ihm nicht überall Recht zu geben, vielmehr sei er gerade darum gegen ihn
auf seiner Hut. Das heißt im Munde des Politikers: Einer Partei, deren
Haupt Bismarck ist, kann ich mich nicht anschließen, für mich giebt es nur die
Partei Holtzendorff. Oder würde er die Bedenken vielleicht fallen lassen gegen¬
über einem Parteiführer, der kein Genie wäre? Und doch steht Seite 26 unter
der Devise des Prinzen von Wales „Ich bien'" das gute Wort: „Es ist
würdiger im Staat, großen Männern zu dienen, als über kleine Geister zu
herrschen." Dann und wann kommt etwas zum Vorschein wie Ranküne gegen
den Staatsmann, der nicht genug Respekt vor den Professoren hat!

Sehr richtig wird die Vorstellung, „daß es dem gebildeten Manne gezieme,
mit Staatsverbrechern stets zu sympathisiren," mit der Ansicht des Schmugglers
verglichen, die Staatskasse zu benachteiligen sei kein Übel. Allein eben da wird


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[0514] Gesunder Menschenverstand. bedienen und darf nicht ermüden, der Unwahrheit und Unklarheit, dem Unsinn und Unflat, die täglich dem „Volke" aufgetischt werden, immer wieder die Wahr¬ heit und den Menschenverstand entgegenzusetzen. Mit dem Anschlagen einer Anzahl von Thesen ist heutzutage kaum mehr etwas zu erzielen. Hundertmal müssen dieselben Wahrheiten wiederholt, aber das Gold muß jedesmal umge¬ prägt werden. Zudem ist keineswegs alles Gold, was Holtzendorff bringt, und auch das Gepräge oft nichts weniger als mustergiltig. Gleich auf der zweiten Seite fühlen wir uns gedrungen, ein großes Fragezeichen zu machen, wenn er, in dem oben zitirten Satze fortfahrend, behauptet, ohne hinreichend starken Zusatz von gesundem Menschenverstand sei „die öffentliche Meinung einflußlos." Selbst¬ verständlich können wir uns auf eine Polemik über diesen Punkt nicht einlassen, da wir nicht wissen, was der Verfasser unter öffentlicher Meinung versteht und auf wen sie Einfluß ausüben soll. An Sätzen, welche an ähnlichen Unklar¬ heiten leiden und daher in die Kategorie der Phrase fallen, ist kein Mangel. Sodann macht sich ein Hang zum Geistreicheln bemerkbar und verleitet den Verfasser zu den wunderlichsten Stilblüten. Bei der Frage nach dem Wert und Unwert der Beredtsamkeit heißt es: „Schon in alter Zeit entschied man sich für den Bimetallismus, der im Sprichwort das Reden für Silber und das Schweigen für Gold erklärte." Wie ihn Herr Bamberger um diese Wendung beneiden wird! Ein andermal lesen wir gar von „dem niemals unterbrochenen Opfer der Selbstsucht durch das Schlachtmesser der Liebe, das den Haß tötet und die ewige Güte in uns ihr tägliches Auferstehungsfest feiern läßt." Dem größten Teile der 206 Aphorismen muß man jedoch aufmerksame Leser wünschen; solchen werden zwar die Schwächen des Glossators nicht ent¬ gehen, sie werden aber auch manche Anregung zum Nachdenken empfangen. Wir begnügen uns auf einzelne Stellen hinzudeuten. Seite 74 unter dem Schlag¬ wort „Partei Bismarck" wird das Wort Lessings über sein Verhältnis zu Klopstock angezogen: weil er denselben für ein großes Genie erkenne, brauche er ihm nicht überall Recht zu geben, vielmehr sei er gerade darum gegen ihn auf seiner Hut. Das heißt im Munde des Politikers: Einer Partei, deren Haupt Bismarck ist, kann ich mich nicht anschließen, für mich giebt es nur die Partei Holtzendorff. Oder würde er die Bedenken vielleicht fallen lassen gegen¬ über einem Parteiführer, der kein Genie wäre? Und doch steht Seite 26 unter der Devise des Prinzen von Wales „Ich bien'" das gute Wort: „Es ist würdiger im Staat, großen Männern zu dienen, als über kleine Geister zu herrschen." Dann und wann kommt etwas zum Vorschein wie Ranküne gegen den Staatsmann, der nicht genug Respekt vor den Professoren hat! Sehr richtig wird die Vorstellung, „daß es dem gebildeten Manne gezieme, mit Staatsverbrechern stets zu sympathisiren," mit der Ansicht des Schmugglers verglichen, die Staatskasse zu benachteiligen sei kein Übel. Allein eben da wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/514>, abgerufen am 01.09.2024.