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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gesunder Menschenverstand.

Schlüsse, daß der Gedanke einer hinreichend starken Defensivstellung berechtigter
Interessen gegen parlamentarische Verbindungen der Gegeninteressenten berechtigt
sei -- siehe Volkswirtschaftsrat. Auch der Forderung, daß Gesetze, welche einer
sorgfältigen technischen Beratung bedürfen, zuerst in den Oberhäusern, und zwar
unter Ausschluß der Öffentlichkeit, zu beraten seien, schließt Holtzendorff sich an,
tritt aber, da der Reichstag ein Oberhaus nicht hat, für die Idee der Reali-
sirung des Staatsrates als vorberatender Behörde ein.

Durchaus treffend ist die Bemerkung, daß das Bedürfnis zu glauben nicht
etwa verschwunden, sondern von dem kirchlichen auf das politische Gebiet über¬
gegangen sei. Die Demokratie könne nur auf religiöser Autorität, wie im klas¬
sischen Altertum und bei den Puritanern, oder "auf der Personifikation des
Unfchlbarkeitsglaubens in einzelnen Demagogen, niemals auf dem bloßen Ge¬
danken der atomistischen Gleichberechtigung ruhen." Konsequenterweise geht er
ebenso dem allgemeinen gleichen Wahlrecht zu Leibe.

Mit diesen verständigen Anschauungen steht freilich manches in einem
Widerspruche, der dem Verfasser selbst aufgefallen sein müßte, wenn er anstatt
in losen Sätzen die Themata im Zusammenhange besprochen hätte. Die Ursache
der -- halb und halb zugegebenen -- "überwiegenden Schädlichkeit der Bered¬
samkeit im öffentlichen Leben" soll in folgendem aufgedeckt werden. "Je mehr
man in halbfreien, unter dem Mißbräuche parlamentarischer Formen regierten
Staaten die politischen Parteien durch Fernhaltung von praktischen Geschäften
ans das Gebiet bloßer Meinungsäußerungen hinüberdrängt, desto mehr stärkt
man die Bedeutung der Parteirede in der öffentlichen Meinung. Verkehrt ist
es sogar vom Standpunkte des Autokraten, wenn Parteiführern die Gelegenheit
zur Verwirklichung ihrer Forderungen grundsätzlich trotz sonst vorhandener per¬
sönlicher Fähigkeit entzogen wird. Für seine Worte fühlt sich nur derjenige
politisch verantwortlich, der möglicherweise berufen sein kann, sie in Handlungen
umzusetzen." Und weiter: "Es ist politischer Sophismus, daß wir die Maßregeln
andrer nur dann kritisiren dürfen, wenn wir selbst imstande sind, es besser zu
machen. Mit diesem Einwände würde der schlechte Schauspieler ein sachver¬
ständiges Publikum entwaffnen können." Sollte man glauben, daß diese Sätze
aus der Feder desselben Mannes geflossen sind, welcher so einsichtig über das
Regieren der Parlamente gesprochen hat? Wir denken, wer eine politische Rolle
spielt, muß sich für seine Worte unter allen Umständen verantwortlich wissen;
und wenn der Wähler sich allenfalls auf dem Standpunkt des Zuschauers im
Theater stellen kann, welcher nur kritisirt, und die Zumutung, es besser zu
machen, von sich ablehnt: der Gewählte hat dieses Recht nicht, er ist eben ge¬
wählt worden, um zu sagen, nicht bloß was, sondern auch wie es besser zu
machen wäre. In Mißkredit gebracht wird die Veredtsamkeit gerade durch die¬
jenigen Personen, welche über alles reden, aber nie verantwortlich sein wollen.
Und wie sollen wir uns das Heranziehen der Oppositionsmänner zu den prak-


Gesunder Menschenverstand.

Schlüsse, daß der Gedanke einer hinreichend starken Defensivstellung berechtigter
Interessen gegen parlamentarische Verbindungen der Gegeninteressenten berechtigt
sei — siehe Volkswirtschaftsrat. Auch der Forderung, daß Gesetze, welche einer
sorgfältigen technischen Beratung bedürfen, zuerst in den Oberhäusern, und zwar
unter Ausschluß der Öffentlichkeit, zu beraten seien, schließt Holtzendorff sich an,
tritt aber, da der Reichstag ein Oberhaus nicht hat, für die Idee der Reali-
sirung des Staatsrates als vorberatender Behörde ein.

Durchaus treffend ist die Bemerkung, daß das Bedürfnis zu glauben nicht
etwa verschwunden, sondern von dem kirchlichen auf das politische Gebiet über¬
gegangen sei. Die Demokratie könne nur auf religiöser Autorität, wie im klas¬
sischen Altertum und bei den Puritanern, oder „auf der Personifikation des
Unfchlbarkeitsglaubens in einzelnen Demagogen, niemals auf dem bloßen Ge¬
danken der atomistischen Gleichberechtigung ruhen." Konsequenterweise geht er
ebenso dem allgemeinen gleichen Wahlrecht zu Leibe.

Mit diesen verständigen Anschauungen steht freilich manches in einem
Widerspruche, der dem Verfasser selbst aufgefallen sein müßte, wenn er anstatt
in losen Sätzen die Themata im Zusammenhange besprochen hätte. Die Ursache
der — halb und halb zugegebenen — „überwiegenden Schädlichkeit der Bered¬
samkeit im öffentlichen Leben" soll in folgendem aufgedeckt werden. „Je mehr
man in halbfreien, unter dem Mißbräuche parlamentarischer Formen regierten
Staaten die politischen Parteien durch Fernhaltung von praktischen Geschäften
ans das Gebiet bloßer Meinungsäußerungen hinüberdrängt, desto mehr stärkt
man die Bedeutung der Parteirede in der öffentlichen Meinung. Verkehrt ist
es sogar vom Standpunkte des Autokraten, wenn Parteiführern die Gelegenheit
zur Verwirklichung ihrer Forderungen grundsätzlich trotz sonst vorhandener per¬
sönlicher Fähigkeit entzogen wird. Für seine Worte fühlt sich nur derjenige
politisch verantwortlich, der möglicherweise berufen sein kann, sie in Handlungen
umzusetzen." Und weiter: „Es ist politischer Sophismus, daß wir die Maßregeln
andrer nur dann kritisiren dürfen, wenn wir selbst imstande sind, es besser zu
machen. Mit diesem Einwände würde der schlechte Schauspieler ein sachver¬
ständiges Publikum entwaffnen können." Sollte man glauben, daß diese Sätze
aus der Feder desselben Mannes geflossen sind, welcher so einsichtig über das
Regieren der Parlamente gesprochen hat? Wir denken, wer eine politische Rolle
spielt, muß sich für seine Worte unter allen Umständen verantwortlich wissen;
und wenn der Wähler sich allenfalls auf dem Standpunkt des Zuschauers im
Theater stellen kann, welcher nur kritisirt, und die Zumutung, es besser zu
machen, von sich ablehnt: der Gewählte hat dieses Recht nicht, er ist eben ge¬
wählt worden, um zu sagen, nicht bloß was, sondern auch wie es besser zu
machen wäre. In Mißkredit gebracht wird die Veredtsamkeit gerade durch die¬
jenigen Personen, welche über alles reden, aber nie verantwortlich sein wollen.
Und wie sollen wir uns das Heranziehen der Oppositionsmänner zu den prak-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/516>, abgerufen am 28.07.2024.