Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Gesunder Menschenverstand.

Elegant vor, nahete und lorgnettirt, wirft alle Waaren durcheinander, wobei er
einen Brillantring blitzen läßt, und befiehlt endlich, daß ihm das Kostbarste in
das vornehmste Hotel geschickt werde. Der gesunde Menschenverstand würde
dem Kaufmann raten, in dem zweiten Falle noch vorsichtiger zu sein als im
ersten, dn es bekanntlich auch falsche und gestohlene Brillanten giebt. Der
Kaufmann aber sühlt sich durch eine so noble Kundschaft höchlich geehrt. Und
der welterfahrene Geschäftsführer des Hotels, welcher soeben seinen Untergebenen
eingeschärft hat, wohl aufzupassen, damit der zu Fuß vom Bahnhof gekommene
und demgemäß in das oberste Stockwerk verwiesene Gast nicht etwa die Bett¬
wüsche in seiner Reisetasche davontrage, ist ganz Unterwürfigkeit gegen den
Herrn Baron, streckt ihm Geld vor, weil dessen Wechsel unbegreiflicherweise
ausgeblieben ist, und -- Ka"fmann und Gastwirt machen ein sehr erstauntes
Gesicht, wenn sie erfahren, daß ein vagabundirender Friseurgehilfe sie geprellt
hat. Und so gehen Leute hinter dem Rücken ihres Arztes zur weisen Frau
oder lassen sich "brieflich" von einem Hufschmied kuriren, lauschen den Orakel¬
sprüchen eines Spiels Karten oder des Kaffeesatzes; oder sie besetzen Lotterie¬
nummern nach dem untrüglichen System irgendeines dunkeln Ehrenmannes, oder
vertrauen ihre Ersparnisse einem Börscnmanne an, welcher ihnen hundert Prozent
Interessen verspricht, obgleich nichts als gesunder Menschenverstand dazu gehört,
zu begreifen, daß jene Wohlthäter den Stein der Weisen, wenn sie ihn hätten,
zuerst benutzen würden, um sich selbst in den Besitz von Milliarden zu bringen.

Das sind lauter alltägliche Dinge. Und in der Politik vollends geht es
überall so zu, als ob der Menschenverstand ausgestorben wäre. Und doch
"können die wichtigsten Streitfragen des öffentlichen Lebens ohne Beteiligung des
gesunden Menschenverstandes endgiltig nicht gelöst werden."

Dieser Wohl unanfechtbare Satz ist der Vorrede zu einem Büchlei" ent¬
nommen, welches Franz von Holtzendorff in München unter dem Titel
Zeitglossen des gesunden Menschenverstandes soeben hat erscheinen
lassen (München, Th. Ackermann, 1884). Diese Glossen, welche in acht Ab¬
schnitten Staatstheorien und Staatspraxis, Staatsmoral und Staatsrecht,
Parlamentarismus "ut Parteiwesen, Religion und Glauben, Kirche und Klerus,
Wissenschaft und Volksbildung, Gesellschaft und Kulturwesen, endlich Vermischtes
("Erratische Zeitglossen") behandeln, sind zum Teil schon in verschiednen Zeit¬
schriften abgedruckt gewesen, und der Verfasser scheint selbst leise Zweifel zu
hegen, ob der Gedanke, jene "ans der Vergessenheit hervorzuziehen und mit
andern ihresgleichen zusammenzustellen," richtig gewesen sei. Aufrichtig ge¬
sprochen, können wir diese Frage nicht bejahen. Der Verfasser will doch Pro¬
paganda machen; unsre Zeit aber, und vornehmlich diejenigen Kreise und Indi¬
viduen, welchen Lektionen des gesunden Menschenverstandes am notwendigsten
wären, scheinen uns wenig geneigt, ein politisches Andachtsbuch zur Hand zu
nehmen. Wer auf die Menge wirken will, muß sich der Presse und der Vereine


Gesunder Menschenverstand.

Elegant vor, nahete und lorgnettirt, wirft alle Waaren durcheinander, wobei er
einen Brillantring blitzen läßt, und befiehlt endlich, daß ihm das Kostbarste in
das vornehmste Hotel geschickt werde. Der gesunde Menschenverstand würde
dem Kaufmann raten, in dem zweiten Falle noch vorsichtiger zu sein als im
ersten, dn es bekanntlich auch falsche und gestohlene Brillanten giebt. Der
Kaufmann aber sühlt sich durch eine so noble Kundschaft höchlich geehrt. Und
der welterfahrene Geschäftsführer des Hotels, welcher soeben seinen Untergebenen
eingeschärft hat, wohl aufzupassen, damit der zu Fuß vom Bahnhof gekommene
und demgemäß in das oberste Stockwerk verwiesene Gast nicht etwa die Bett¬
wüsche in seiner Reisetasche davontrage, ist ganz Unterwürfigkeit gegen den
Herrn Baron, streckt ihm Geld vor, weil dessen Wechsel unbegreiflicherweise
ausgeblieben ist, und — Ka»fmann und Gastwirt machen ein sehr erstauntes
Gesicht, wenn sie erfahren, daß ein vagabundirender Friseurgehilfe sie geprellt
hat. Und so gehen Leute hinter dem Rücken ihres Arztes zur weisen Frau
oder lassen sich „brieflich" von einem Hufschmied kuriren, lauschen den Orakel¬
sprüchen eines Spiels Karten oder des Kaffeesatzes; oder sie besetzen Lotterie¬
nummern nach dem untrüglichen System irgendeines dunkeln Ehrenmannes, oder
vertrauen ihre Ersparnisse einem Börscnmanne an, welcher ihnen hundert Prozent
Interessen verspricht, obgleich nichts als gesunder Menschenverstand dazu gehört,
zu begreifen, daß jene Wohlthäter den Stein der Weisen, wenn sie ihn hätten,
zuerst benutzen würden, um sich selbst in den Besitz von Milliarden zu bringen.

Das sind lauter alltägliche Dinge. Und in der Politik vollends geht es
überall so zu, als ob der Menschenverstand ausgestorben wäre. Und doch
„können die wichtigsten Streitfragen des öffentlichen Lebens ohne Beteiligung des
gesunden Menschenverstandes endgiltig nicht gelöst werden."

Dieser Wohl unanfechtbare Satz ist der Vorrede zu einem Büchlei» ent¬
nommen, welches Franz von Holtzendorff in München unter dem Titel
Zeitglossen des gesunden Menschenverstandes soeben hat erscheinen
lassen (München, Th. Ackermann, 1884). Diese Glossen, welche in acht Ab¬
schnitten Staatstheorien und Staatspraxis, Staatsmoral und Staatsrecht,
Parlamentarismus »ut Parteiwesen, Religion und Glauben, Kirche und Klerus,
Wissenschaft und Volksbildung, Gesellschaft und Kulturwesen, endlich Vermischtes
(„Erratische Zeitglossen") behandeln, sind zum Teil schon in verschiednen Zeit¬
schriften abgedruckt gewesen, und der Verfasser scheint selbst leise Zweifel zu
hegen, ob der Gedanke, jene „ans der Vergessenheit hervorzuziehen und mit
andern ihresgleichen zusammenzustellen," richtig gewesen sei. Aufrichtig ge¬
sprochen, können wir diese Frage nicht bejahen. Der Verfasser will doch Pro¬
paganda machen; unsre Zeit aber, und vornehmlich diejenigen Kreise und Indi¬
viduen, welchen Lektionen des gesunden Menschenverstandes am notwendigsten
wären, scheinen uns wenig geneigt, ein politisches Andachtsbuch zur Hand zu
nehmen. Wer auf die Menge wirken will, muß sich der Presse und der Vereine


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0513" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154678"/>
          <fw type="header" place="top"> Gesunder Menschenverstand.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1539" prev="#ID_1538"> Elegant vor, nahete und lorgnettirt, wirft alle Waaren durcheinander, wobei er<lb/>
einen Brillantring blitzen läßt, und befiehlt endlich, daß ihm das Kostbarste in<lb/>
das vornehmste Hotel geschickt werde. Der gesunde Menschenverstand würde<lb/>
dem Kaufmann raten, in dem zweiten Falle noch vorsichtiger zu sein als im<lb/>
ersten, dn es bekanntlich auch falsche und gestohlene Brillanten giebt. Der<lb/>
Kaufmann aber sühlt sich durch eine so noble Kundschaft höchlich geehrt. Und<lb/>
der welterfahrene Geschäftsführer des Hotels, welcher soeben seinen Untergebenen<lb/>
eingeschärft hat, wohl aufzupassen, damit der zu Fuß vom Bahnhof gekommene<lb/>
und demgemäß in das oberste Stockwerk verwiesene Gast nicht etwa die Bett¬<lb/>
wüsche in seiner Reisetasche davontrage, ist ganz Unterwürfigkeit gegen den<lb/>
Herrn Baron, streckt ihm Geld vor, weil dessen Wechsel unbegreiflicherweise<lb/>
ausgeblieben ist, und &#x2014; Ka»fmann und Gastwirt machen ein sehr erstauntes<lb/>
Gesicht, wenn sie erfahren, daß ein vagabundirender Friseurgehilfe sie geprellt<lb/>
hat. Und so gehen Leute hinter dem Rücken ihres Arztes zur weisen Frau<lb/>
oder lassen sich &#x201E;brieflich" von einem Hufschmied kuriren, lauschen den Orakel¬<lb/>
sprüchen eines Spiels Karten oder des Kaffeesatzes; oder sie besetzen Lotterie¬<lb/>
nummern nach dem untrüglichen System irgendeines dunkeln Ehrenmannes, oder<lb/>
vertrauen ihre Ersparnisse einem Börscnmanne an, welcher ihnen hundert Prozent<lb/>
Interessen verspricht, obgleich nichts als gesunder Menschenverstand dazu gehört,<lb/>
zu begreifen, daß jene Wohlthäter den Stein der Weisen, wenn sie ihn hätten,<lb/>
zuerst benutzen würden, um sich selbst in den Besitz von Milliarden zu bringen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1540"> Das sind lauter alltägliche Dinge. Und in der Politik vollends geht es<lb/>
überall so zu, als ob der Menschenverstand ausgestorben wäre. Und doch<lb/>
&#x201E;können die wichtigsten Streitfragen des öffentlichen Lebens ohne Beteiligung des<lb/>
gesunden Menschenverstandes endgiltig nicht gelöst werden."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1541" next="#ID_1542"> Dieser Wohl unanfechtbare Satz ist der Vorrede zu einem Büchlei» ent¬<lb/>
nommen, welches Franz von Holtzendorff in München unter dem Titel<lb/>
Zeitglossen des gesunden Menschenverstandes soeben hat erscheinen<lb/>
lassen (München, Th. Ackermann, 1884). Diese Glossen, welche in acht Ab¬<lb/>
schnitten Staatstheorien und Staatspraxis, Staatsmoral und Staatsrecht,<lb/>
Parlamentarismus »ut Parteiwesen, Religion und Glauben, Kirche und Klerus,<lb/>
Wissenschaft und Volksbildung, Gesellschaft und Kulturwesen, endlich Vermischtes<lb/>
(&#x201E;Erratische Zeitglossen") behandeln, sind zum Teil schon in verschiednen Zeit¬<lb/>
schriften abgedruckt gewesen, und der Verfasser scheint selbst leise Zweifel zu<lb/>
hegen, ob der Gedanke, jene &#x201E;ans der Vergessenheit hervorzuziehen und mit<lb/>
andern ihresgleichen zusammenzustellen," richtig gewesen sei. Aufrichtig ge¬<lb/>
sprochen, können wir diese Frage nicht bejahen. Der Verfasser will doch Pro¬<lb/>
paganda machen; unsre Zeit aber, und vornehmlich diejenigen Kreise und Indi¬<lb/>
viduen, welchen Lektionen des gesunden Menschenverstandes am notwendigsten<lb/>
wären, scheinen uns wenig geneigt, ein politisches Andachtsbuch zur Hand zu<lb/>
nehmen. Wer auf die Menge wirken will, muß sich der Presse und der Vereine</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0513] Gesunder Menschenverstand. Elegant vor, nahete und lorgnettirt, wirft alle Waaren durcheinander, wobei er einen Brillantring blitzen läßt, und befiehlt endlich, daß ihm das Kostbarste in das vornehmste Hotel geschickt werde. Der gesunde Menschenverstand würde dem Kaufmann raten, in dem zweiten Falle noch vorsichtiger zu sein als im ersten, dn es bekanntlich auch falsche und gestohlene Brillanten giebt. Der Kaufmann aber sühlt sich durch eine so noble Kundschaft höchlich geehrt. Und der welterfahrene Geschäftsführer des Hotels, welcher soeben seinen Untergebenen eingeschärft hat, wohl aufzupassen, damit der zu Fuß vom Bahnhof gekommene und demgemäß in das oberste Stockwerk verwiesene Gast nicht etwa die Bett¬ wüsche in seiner Reisetasche davontrage, ist ganz Unterwürfigkeit gegen den Herrn Baron, streckt ihm Geld vor, weil dessen Wechsel unbegreiflicherweise ausgeblieben ist, und — Ka»fmann und Gastwirt machen ein sehr erstauntes Gesicht, wenn sie erfahren, daß ein vagabundirender Friseurgehilfe sie geprellt hat. Und so gehen Leute hinter dem Rücken ihres Arztes zur weisen Frau oder lassen sich „brieflich" von einem Hufschmied kuriren, lauschen den Orakel¬ sprüchen eines Spiels Karten oder des Kaffeesatzes; oder sie besetzen Lotterie¬ nummern nach dem untrüglichen System irgendeines dunkeln Ehrenmannes, oder vertrauen ihre Ersparnisse einem Börscnmanne an, welcher ihnen hundert Prozent Interessen verspricht, obgleich nichts als gesunder Menschenverstand dazu gehört, zu begreifen, daß jene Wohlthäter den Stein der Weisen, wenn sie ihn hätten, zuerst benutzen würden, um sich selbst in den Besitz von Milliarden zu bringen. Das sind lauter alltägliche Dinge. Und in der Politik vollends geht es überall so zu, als ob der Menschenverstand ausgestorben wäre. Und doch „können die wichtigsten Streitfragen des öffentlichen Lebens ohne Beteiligung des gesunden Menschenverstandes endgiltig nicht gelöst werden." Dieser Wohl unanfechtbare Satz ist der Vorrede zu einem Büchlei» ent¬ nommen, welches Franz von Holtzendorff in München unter dem Titel Zeitglossen des gesunden Menschenverstandes soeben hat erscheinen lassen (München, Th. Ackermann, 1884). Diese Glossen, welche in acht Ab¬ schnitten Staatstheorien und Staatspraxis, Staatsmoral und Staatsrecht, Parlamentarismus »ut Parteiwesen, Religion und Glauben, Kirche und Klerus, Wissenschaft und Volksbildung, Gesellschaft und Kulturwesen, endlich Vermischtes („Erratische Zeitglossen") behandeln, sind zum Teil schon in verschiednen Zeit¬ schriften abgedruckt gewesen, und der Verfasser scheint selbst leise Zweifel zu hegen, ob der Gedanke, jene „ans der Vergessenheit hervorzuziehen und mit andern ihresgleichen zusammenzustellen," richtig gewesen sei. Aufrichtig ge¬ sprochen, können wir diese Frage nicht bejahen. Der Verfasser will doch Pro¬ paganda machen; unsre Zeit aber, und vornehmlich diejenigen Kreise und Indi¬ viduen, welchen Lektionen des gesunden Menschenverstandes am notwendigsten wären, scheinen uns wenig geneigt, ein politisches Andachtsbuch zur Hand zu nehmen. Wer auf die Menge wirken will, muß sich der Presse und der Vereine

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/513
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/513>, abgerufen am 27.07.2024.