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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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vie Entstehung des Faust.

gebildet habe. Mit voller Richtigkeit hebt Weiße hervor, daß das faustische
Streben an sich von Goethe als ein durchaus edles aufgefaßt werde. Nicht
minder richtig ist die Wahrnehmung Weißes, daß Mephistopheles in einer Reihe
von Szenen als ein individueller Charakter mit Fleisch und Blut erscheint, der
vom unterirdischen Gott nur soviel hat, als sich mit seiner poetischen Indivi¬
dualität verträgt, der zu Faust den kecken und frischen Ton munterer Gesellschaft
redet. "Den Grundzug von Mephistopheles' Charakter in diesen Szenen bildet
eine geistreiche Ironie, die, so boshaft und tückisch sie handeln kann, nie zur
eigentlichen Grausamkeit wird, nie das Böse um des Bösen willen, sondern immer
nur die mit demselben verbundene Übung des Scharfsinns, des Witzes und aller
Verstandeskräfte sucht und begehrt. Dabei ist er ununterbrochen frohsinnig und
wohlgemut, jeder Zug jenes Trübsinns, jener düstern Schwermut, welche der
christliche Volksglaube dem Teufel und allen bösen Geistern meent, bleibt ihm
ebenso fremd wie das phantastische Element, aus welchen, dieser Trübsinn stammt."
Weiße führt nun aus, daß die Verbindung des Faust mit Mephistopheles die
durchaus persönliche selbsterlebte Grundanschauung gewesen, aus der in Goethe
die Dichtung des Faust hervorging. Diese Anschauung samt den Gedanken, die
sich unmittelbar an sie knüpfen, sei das ursprüngliche Problem gewesen, welches
der Dichter durch seine Schöpfung zu lösen strebte. Aber er sei zuerst weit ent¬
fernt geblieben, in dem metaphysisch Bösen den Grund der Erscheinung des
Mephistopheles zu legen. Die Szenen -- dies findet Weiße mit glücklichem
Spürsinn heraus --, in welchen dieser Grund gelegt werden soll, gehören der
späteren Umbildung des Gedichtes an. Den wahren, tiefen, d. h. seinen eignen
Begriff des Bösen findet übrigens Weiße auch in der nachherigen Umbildung
des Gedichts keineswegs erreicht.

Da schon in dem ersten Entwurf der sagenhafte Charakter der Dichtung
für die Erscheinung des Mephistopheles die Anknüpfung an ein Allgemeines, an
eine philosophische Idee erforderte, so habe sich dem Dichter, anstatt des Bösen
der christlichen Sage, des Fürsten der Hölle -- Begriffe, die seiner Bildung,
seinem damaligen Gedankenkreise völlig entfremdet waren --, der Begriff des
Erdgeistes geboten. Nun zeigt Weiße zum erstenmale, aber natürlich mit un¬
bestreitbarem Erfolg, auf die soeben angeführten Stellen des Gedichts hin, um
aus denselben nachzuweisen, daß Mephistopheles ursprünglich der Diener des
Erdgeistes, einer an sich nicht bösen Macht, gewesen.

Die vou Weiße bemerkte Spur haben andre Ausleger zu verfolgen gesucht,
ohne dem ersten Entdecker immer die gebührende Ehre zu geben. Dafür haben
sie mit ihm das Schicksal geteilt, aus der Entdeckung nichts machen zu können.
Weiße sowenig als seine Nachfolger haben den Schlüssel weder zur ersten
Faustgestalt noch zu ihren Umbildungen gefunden. Weiße ist zur Auffindung
der Idee des späteren Faust auf allegorische Deutungen gekommen, die freilich
überkünstlich, aber andrerseits so geistreich ersonnen sind, daß sie nicht nur den


Grenzboten IV. 1333. S3
vie Entstehung des Faust.

gebildet habe. Mit voller Richtigkeit hebt Weiße hervor, daß das faustische
Streben an sich von Goethe als ein durchaus edles aufgefaßt werde. Nicht
minder richtig ist die Wahrnehmung Weißes, daß Mephistopheles in einer Reihe
von Szenen als ein individueller Charakter mit Fleisch und Blut erscheint, der
vom unterirdischen Gott nur soviel hat, als sich mit seiner poetischen Indivi¬
dualität verträgt, der zu Faust den kecken und frischen Ton munterer Gesellschaft
redet. „Den Grundzug von Mephistopheles' Charakter in diesen Szenen bildet
eine geistreiche Ironie, die, so boshaft und tückisch sie handeln kann, nie zur
eigentlichen Grausamkeit wird, nie das Böse um des Bösen willen, sondern immer
nur die mit demselben verbundene Übung des Scharfsinns, des Witzes und aller
Verstandeskräfte sucht und begehrt. Dabei ist er ununterbrochen frohsinnig und
wohlgemut, jeder Zug jenes Trübsinns, jener düstern Schwermut, welche der
christliche Volksglaube dem Teufel und allen bösen Geistern meent, bleibt ihm
ebenso fremd wie das phantastische Element, aus welchen, dieser Trübsinn stammt."
Weiße führt nun aus, daß die Verbindung des Faust mit Mephistopheles die
durchaus persönliche selbsterlebte Grundanschauung gewesen, aus der in Goethe
die Dichtung des Faust hervorging. Diese Anschauung samt den Gedanken, die
sich unmittelbar an sie knüpfen, sei das ursprüngliche Problem gewesen, welches
der Dichter durch seine Schöpfung zu lösen strebte. Aber er sei zuerst weit ent¬
fernt geblieben, in dem metaphysisch Bösen den Grund der Erscheinung des
Mephistopheles zu legen. Die Szenen — dies findet Weiße mit glücklichem
Spürsinn heraus —, in welchen dieser Grund gelegt werden soll, gehören der
späteren Umbildung des Gedichtes an. Den wahren, tiefen, d. h. seinen eignen
Begriff des Bösen findet übrigens Weiße auch in der nachherigen Umbildung
des Gedichts keineswegs erreicht.

Da schon in dem ersten Entwurf der sagenhafte Charakter der Dichtung
für die Erscheinung des Mephistopheles die Anknüpfung an ein Allgemeines, an
eine philosophische Idee erforderte, so habe sich dem Dichter, anstatt des Bösen
der christlichen Sage, des Fürsten der Hölle — Begriffe, die seiner Bildung,
seinem damaligen Gedankenkreise völlig entfremdet waren —, der Begriff des
Erdgeistes geboten. Nun zeigt Weiße zum erstenmale, aber natürlich mit un¬
bestreitbarem Erfolg, auf die soeben angeführten Stellen des Gedichts hin, um
aus denselben nachzuweisen, daß Mephistopheles ursprünglich der Diener des
Erdgeistes, einer an sich nicht bösen Macht, gewesen.

Die vou Weiße bemerkte Spur haben andre Ausleger zu verfolgen gesucht,
ohne dem ersten Entdecker immer die gebührende Ehre zu geben. Dafür haben
sie mit ihm das Schicksal geteilt, aus der Entdeckung nichts machen zu können.
Weiße sowenig als seine Nachfolger haben den Schlüssel weder zur ersten
Faustgestalt noch zu ihren Umbildungen gefunden. Weiße ist zur Auffindung
der Idee des späteren Faust auf allegorische Deutungen gekommen, die freilich
überkünstlich, aber andrerseits so geistreich ersonnen sind, daß sie nicht nur den


Grenzboten IV. 1333. S3
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/507>, abgerufen am 28.07.2024.