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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

mein Herz kennest und meine Seele, warum an den Schandgesellcn mich schmieden,
der sich am Schaden weidet und am Verderben sich letzt?" Zwei Fragen erheben
sich diesen Spuren gegenüber. Zuerst: Wie konnte der Dichter unterlassen, sie
zu tilgen? Zweitens: Wie konnten sie solange unbemerkt bleiben? Die erste
Schrift, welche die Bedeutung derselben erkennt, erschien 1837.

Gegenüber der ersten Frage können wir nur eine gewisse Sorglosigkeit des
Dichters annehmen, die ihm überhaupt im Punkte der äußeren Korrektheit eigen
war, die er aber bei der Faustdichtung geradezu als eine Bedingung zur Voll¬
endung dieses, in seiner Idee und in seinen poetischen Elementen gegen den
ursprünglichen Kern über des Dichters Erwartung sich erweiternden Werkes
ansah. Er hat sich offenbar der Zuversicht überlassen, daß niemand so leicht
das ursprüngliche Gewebe der Faustdichtung erraten und von dem späteren
Gewebe trennen werde, daß der Leser vielmehr die Anrede an den Geist auf
eine unbestimmte Imagination Fausts zurückführen könne.

Gegenüber der zweiten Frage könnte man darauf verweisen, daß immerhin
dreißig Jahre vergehen dürfen, bevor eine Dichtung wie der Faust mit analy¬
tischer Absicht gelesen wird. Es ist aber noch eine andre, gehaltvollere Be¬
merkung auf diese Frage zu machen. Der menschliche Geist -- und das ist
nicht etwa sein Mangel, sondern sein Vorzug -- wird durch keine äußern Zeichen^
angeregt oder geleitet, deren Gegenstand nicht einem Vorbilde im Innern des
Wahrnehmenden entspricht. In den angeführten Stellen ist der Hinweis auf
ein andres Verhältnis Fausts zum Erdgeist, als es die jetzige Dichtung be¬
gründet, so beredt wie nur möglich. Aber die äußere Beredsamkeit einiger sonst
vereinzelten Spuren blieb allen Hörern stumm, bis ein philosophischer Denker
bei dem Versuch, in die Idee der Faustdichttmg einzudringen, gewahrte, daß die
Andeutung der Idee und die Ausführung in dem Gedicht selbst wenigstens zum
Teil sich nicht decken. So kam er auf die richtige Vermutung, daß eine dem
Gedichte ursprünglich zu Grunde gelegte Idee später aus der herrschenden
Stellung in demselben verdrängt, aber nicht in allen Spuren beseitigt worden sei.

Der Philosoph, von dem wir sprechen, ist Ch. H. Weiße, der seine Ge¬
danken über den Faust in einer Schrift niederlegte: "Kritik und Erläuterung
des Goethischen Faust," welche 1337 zu Leipzig erschien. Weiße, einer der
ältesten von den sogenannten Neuschellingianern, also ein Anhänger der späteren
Lehre Schellings, welche in dem Bösen ein dem Göttlichen entgegengesetztes
Positive und damit eine geheimnisvolle geistige Tiefe voraussetzte, suchte diese
Idee im Faust wieder und fand sich weder durch die Goethische Auffassung
der Persönlichkeit Fausts noch der Persönlichkeit des Mephistopheles befriedigt.
Er fand, daß die volkstümliche Faustsage, indem sie Fausts Streben als sünd¬
hafte Vermessenheit auffaßt und straft, tiefer sei als Goethes Dichtung. Weiße
nahm an, daß Goethe die Sage im Sinne seines Jahrhunderts, des Jahr¬
hunderts der Aufklärung, und zugleich nach rein persönlichen Anschauungen um-


Die Entstehung des Faust.

mein Herz kennest und meine Seele, warum an den Schandgesellcn mich schmieden,
der sich am Schaden weidet und am Verderben sich letzt?" Zwei Fragen erheben
sich diesen Spuren gegenüber. Zuerst: Wie konnte der Dichter unterlassen, sie
zu tilgen? Zweitens: Wie konnten sie solange unbemerkt bleiben? Die erste
Schrift, welche die Bedeutung derselben erkennt, erschien 1837.

Gegenüber der ersten Frage können wir nur eine gewisse Sorglosigkeit des
Dichters annehmen, die ihm überhaupt im Punkte der äußeren Korrektheit eigen
war, die er aber bei der Faustdichtung geradezu als eine Bedingung zur Voll¬
endung dieses, in seiner Idee und in seinen poetischen Elementen gegen den
ursprünglichen Kern über des Dichters Erwartung sich erweiternden Werkes
ansah. Er hat sich offenbar der Zuversicht überlassen, daß niemand so leicht
das ursprüngliche Gewebe der Faustdichtung erraten und von dem späteren
Gewebe trennen werde, daß der Leser vielmehr die Anrede an den Geist auf
eine unbestimmte Imagination Fausts zurückführen könne.

Gegenüber der zweiten Frage könnte man darauf verweisen, daß immerhin
dreißig Jahre vergehen dürfen, bevor eine Dichtung wie der Faust mit analy¬
tischer Absicht gelesen wird. Es ist aber noch eine andre, gehaltvollere Be¬
merkung auf diese Frage zu machen. Der menschliche Geist — und das ist
nicht etwa sein Mangel, sondern sein Vorzug — wird durch keine äußern Zeichen^
angeregt oder geleitet, deren Gegenstand nicht einem Vorbilde im Innern des
Wahrnehmenden entspricht. In den angeführten Stellen ist der Hinweis auf
ein andres Verhältnis Fausts zum Erdgeist, als es die jetzige Dichtung be¬
gründet, so beredt wie nur möglich. Aber die äußere Beredsamkeit einiger sonst
vereinzelten Spuren blieb allen Hörern stumm, bis ein philosophischer Denker
bei dem Versuch, in die Idee der Faustdichttmg einzudringen, gewahrte, daß die
Andeutung der Idee und die Ausführung in dem Gedicht selbst wenigstens zum
Teil sich nicht decken. So kam er auf die richtige Vermutung, daß eine dem
Gedichte ursprünglich zu Grunde gelegte Idee später aus der herrschenden
Stellung in demselben verdrängt, aber nicht in allen Spuren beseitigt worden sei.

Der Philosoph, von dem wir sprechen, ist Ch. H. Weiße, der seine Ge¬
danken über den Faust in einer Schrift niederlegte: „Kritik und Erläuterung
des Goethischen Faust," welche 1337 zu Leipzig erschien. Weiße, einer der
ältesten von den sogenannten Neuschellingianern, also ein Anhänger der späteren
Lehre Schellings, welche in dem Bösen ein dem Göttlichen entgegengesetztes
Positive und damit eine geheimnisvolle geistige Tiefe voraussetzte, suchte diese
Idee im Faust wieder und fand sich weder durch die Goethische Auffassung
der Persönlichkeit Fausts noch der Persönlichkeit des Mephistopheles befriedigt.
Er fand, daß die volkstümliche Faustsage, indem sie Fausts Streben als sünd¬
hafte Vermessenheit auffaßt und straft, tiefer sei als Goethes Dichtung. Weiße
nahm an, daß Goethe die Sage im Sinne seines Jahrhunderts, des Jahr¬
hunderts der Aufklärung, und zugleich nach rein persönlichen Anschauungen um-


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[0506] Die Entstehung des Faust. mein Herz kennest und meine Seele, warum an den Schandgesellcn mich schmieden, der sich am Schaden weidet und am Verderben sich letzt?" Zwei Fragen erheben sich diesen Spuren gegenüber. Zuerst: Wie konnte der Dichter unterlassen, sie zu tilgen? Zweitens: Wie konnten sie solange unbemerkt bleiben? Die erste Schrift, welche die Bedeutung derselben erkennt, erschien 1837. Gegenüber der ersten Frage können wir nur eine gewisse Sorglosigkeit des Dichters annehmen, die ihm überhaupt im Punkte der äußeren Korrektheit eigen war, die er aber bei der Faustdichtung geradezu als eine Bedingung zur Voll¬ endung dieses, in seiner Idee und in seinen poetischen Elementen gegen den ursprünglichen Kern über des Dichters Erwartung sich erweiternden Werkes ansah. Er hat sich offenbar der Zuversicht überlassen, daß niemand so leicht das ursprüngliche Gewebe der Faustdichtung erraten und von dem späteren Gewebe trennen werde, daß der Leser vielmehr die Anrede an den Geist auf eine unbestimmte Imagination Fausts zurückführen könne. Gegenüber der zweiten Frage könnte man darauf verweisen, daß immerhin dreißig Jahre vergehen dürfen, bevor eine Dichtung wie der Faust mit analy¬ tischer Absicht gelesen wird. Es ist aber noch eine andre, gehaltvollere Be¬ merkung auf diese Frage zu machen. Der menschliche Geist — und das ist nicht etwa sein Mangel, sondern sein Vorzug — wird durch keine äußern Zeichen^ angeregt oder geleitet, deren Gegenstand nicht einem Vorbilde im Innern des Wahrnehmenden entspricht. In den angeführten Stellen ist der Hinweis auf ein andres Verhältnis Fausts zum Erdgeist, als es die jetzige Dichtung be¬ gründet, so beredt wie nur möglich. Aber die äußere Beredsamkeit einiger sonst vereinzelten Spuren blieb allen Hörern stumm, bis ein philosophischer Denker bei dem Versuch, in die Idee der Faustdichttmg einzudringen, gewahrte, daß die Andeutung der Idee und die Ausführung in dem Gedicht selbst wenigstens zum Teil sich nicht decken. So kam er auf die richtige Vermutung, daß eine dem Gedichte ursprünglich zu Grunde gelegte Idee später aus der herrschenden Stellung in demselben verdrängt, aber nicht in allen Spuren beseitigt worden sei. Der Philosoph, von dem wir sprechen, ist Ch. H. Weiße, der seine Ge¬ danken über den Faust in einer Schrift niederlegte: „Kritik und Erläuterung des Goethischen Faust," welche 1337 zu Leipzig erschien. Weiße, einer der ältesten von den sogenannten Neuschellingianern, also ein Anhänger der späteren Lehre Schellings, welche in dem Bösen ein dem Göttlichen entgegengesetztes Positive und damit eine geheimnisvolle geistige Tiefe voraussetzte, suchte diese Idee im Faust wieder und fand sich weder durch die Goethische Auffassung der Persönlichkeit Fausts noch der Persönlichkeit des Mephistopheles befriedigt. Er fand, daß die volkstümliche Faustsage, indem sie Fausts Streben als sünd¬ hafte Vermessenheit auffaßt und straft, tiefer sei als Goethes Dichtung. Weiße nahm an, daß Goethe die Sage im Sinne seines Jahrhunderts, des Jahr¬ hunderts der Aufklärung, und zugleich nach rein persönlichen Anschauungen um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/506>, abgerufen am 28.07.2024.