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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust,

zweifelhaft, wie der Dichter, als ihm zuerst das magische Motiv aufgegangen
war und sich in seinem Geiste weitcrsparm, seinen Faust aus dem Wege der
Magie heraufzuführen gedachte, der keinen Sterblichen an ein gedeihliches, mit
der sterblichen Natur verträgliches Ziel führen kann. Vielleicht, daß die Geister-
Welt, anstatt dem durstigen Faust sich spröde und höhnisch zu verschließen, ihm
eine Stimme warnender, aber zugleich tröstlich erleuchtender Weisheit gesendet
hätte über das, was dem Sterblichen ziemt und möglich ist. Denn das dürfen
wir mit voller Überzeugung als sicher hinstellen: als der Dichter der Ver¬
zweiflung des Faust so ergreifende Töne zu leihen wußte, war er über diese
Verzweiflung schon hinaus, war er hinaus auch über die Forderung, welche
Faust an das Wissen stellt, und aus welcher dessen Verzweiflung entspringt.
Der Dichter besaß bereits die Ahnung des Weges, auf welchem die Vereinigung
des Endlichen und Unendlichen im irdischen Leben liegt, desselben Weges, den
er später unzählige mal am schönsten unter allen Dichtern und Weisen der Welt
gezeigt hat. Daß aber der Versuch des Faust, auf dem Wege der Magie den
Schranken der Endlichkeit und ihres toten Wissens zu entspringen, in der ersten
Gestalt der Faustdichtung ein tragisches Ende nahm -- was wir hier voraus¬
setzen und wofür wir später Gründe angeben werden --, diese Notwendigkeit
floß aus dem dritten Thema der ursprünglichen Faustdichtung, das wir nun
ins Auge zu fassen haben.




Jm Frühjahr 1770 war Goethe nach Straßburg gegangen und dort in
Verkehr mit Herder gekommen, vor dem er den in seinem Busen entstehenden
Faust verbarg. Im Oktober desselben Jahres beginnt das Idyll von Sesen-
heim, welches im August des folgendes Jahres mit der Trennung von Friederike
Brion endigte. Der Jüngling hatte einem aufblühenden Mädchen Teilnahme
gezeigt, dadurch und durch den Eindruck seiner reichen und liebenswürdigen
Persönlichkeit das Herz des Mädchens an sich gezogen, dann aber nicht den
Schritt zu einer dauernden Verbindung gethan, sondern den Umgang abge¬
brochen. Ein Vorgang, wie er im Leben unzähligem"! vorgekommen ist und
vorkommen wird. Nur machte die ungewöhnliche Persönlichkeit des Jünglings
und sein späterer Ruhm bei der tiefen Natur des Mädchens den Eindruck nicht
nur zu einem unvergeßlichen, sondern zu einem das spätere Leben Friederikens
allein erfüllenden. In hundert Fällen dieser Art geht das Unrecht des Mannes
in der Erregung bestimmter Hoffnungen viel weiter, und die Welt verzeiht es,
weil sie nicht anders kann. Eine edle Natur aber verzeiht sich ein fondes von
ihr begangenes Unrecht schwer und straft sich durch die Selbstqual der Über^
treibung des Unrechtes in allen Ursachen und Folgen. Auch diese Pein hat
der jugendliche Goethe erlebt, und man darf glauben, daß es einen Augenblick
gegeben hat, wo seine ganze Seele erbebte vor dem Schreck über die Keime,


Die Entstehung des Faust,

zweifelhaft, wie der Dichter, als ihm zuerst das magische Motiv aufgegangen
war und sich in seinem Geiste weitcrsparm, seinen Faust aus dem Wege der
Magie heraufzuführen gedachte, der keinen Sterblichen an ein gedeihliches, mit
der sterblichen Natur verträgliches Ziel führen kann. Vielleicht, daß die Geister-
Welt, anstatt dem durstigen Faust sich spröde und höhnisch zu verschließen, ihm
eine Stimme warnender, aber zugleich tröstlich erleuchtender Weisheit gesendet
hätte über das, was dem Sterblichen ziemt und möglich ist. Denn das dürfen
wir mit voller Überzeugung als sicher hinstellen: als der Dichter der Ver¬
zweiflung des Faust so ergreifende Töne zu leihen wußte, war er über diese
Verzweiflung schon hinaus, war er hinaus auch über die Forderung, welche
Faust an das Wissen stellt, und aus welcher dessen Verzweiflung entspringt.
Der Dichter besaß bereits die Ahnung des Weges, auf welchem die Vereinigung
des Endlichen und Unendlichen im irdischen Leben liegt, desselben Weges, den
er später unzählige mal am schönsten unter allen Dichtern und Weisen der Welt
gezeigt hat. Daß aber der Versuch des Faust, auf dem Wege der Magie den
Schranken der Endlichkeit und ihres toten Wissens zu entspringen, in der ersten
Gestalt der Faustdichtung ein tragisches Ende nahm — was wir hier voraus¬
setzen und wofür wir später Gründe angeben werden —, diese Notwendigkeit
floß aus dem dritten Thema der ursprünglichen Faustdichtung, das wir nun
ins Auge zu fassen haben.




Jm Frühjahr 1770 war Goethe nach Straßburg gegangen und dort in
Verkehr mit Herder gekommen, vor dem er den in seinem Busen entstehenden
Faust verbarg. Im Oktober desselben Jahres beginnt das Idyll von Sesen-
heim, welches im August des folgendes Jahres mit der Trennung von Friederike
Brion endigte. Der Jüngling hatte einem aufblühenden Mädchen Teilnahme
gezeigt, dadurch und durch den Eindruck seiner reichen und liebenswürdigen
Persönlichkeit das Herz des Mädchens an sich gezogen, dann aber nicht den
Schritt zu einer dauernden Verbindung gethan, sondern den Umgang abge¬
brochen. Ein Vorgang, wie er im Leben unzähligem«! vorgekommen ist und
vorkommen wird. Nur machte die ungewöhnliche Persönlichkeit des Jünglings
und sein späterer Ruhm bei der tiefen Natur des Mädchens den Eindruck nicht
nur zu einem unvergeßlichen, sondern zu einem das spätere Leben Friederikens
allein erfüllenden. In hundert Fällen dieser Art geht das Unrecht des Mannes
in der Erregung bestimmter Hoffnungen viel weiter, und die Welt verzeiht es,
weil sie nicht anders kann. Eine edle Natur aber verzeiht sich ein fondes von
ihr begangenes Unrecht schwer und straft sich durch die Selbstqual der Über^
treibung des Unrechtes in allen Ursachen und Folgen. Auch diese Pein hat
der jugendliche Goethe erlebt, und man darf glauben, daß es einen Augenblick
gegeben hat, wo seine ganze Seele erbebte vor dem Schreck über die Keime,


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[0501] Die Entstehung des Faust, zweifelhaft, wie der Dichter, als ihm zuerst das magische Motiv aufgegangen war und sich in seinem Geiste weitcrsparm, seinen Faust aus dem Wege der Magie heraufzuführen gedachte, der keinen Sterblichen an ein gedeihliches, mit der sterblichen Natur verträgliches Ziel führen kann. Vielleicht, daß die Geister- Welt, anstatt dem durstigen Faust sich spröde und höhnisch zu verschließen, ihm eine Stimme warnender, aber zugleich tröstlich erleuchtender Weisheit gesendet hätte über das, was dem Sterblichen ziemt und möglich ist. Denn das dürfen wir mit voller Überzeugung als sicher hinstellen: als der Dichter der Ver¬ zweiflung des Faust so ergreifende Töne zu leihen wußte, war er über diese Verzweiflung schon hinaus, war er hinaus auch über die Forderung, welche Faust an das Wissen stellt, und aus welcher dessen Verzweiflung entspringt. Der Dichter besaß bereits die Ahnung des Weges, auf welchem die Vereinigung des Endlichen und Unendlichen im irdischen Leben liegt, desselben Weges, den er später unzählige mal am schönsten unter allen Dichtern und Weisen der Welt gezeigt hat. Daß aber der Versuch des Faust, auf dem Wege der Magie den Schranken der Endlichkeit und ihres toten Wissens zu entspringen, in der ersten Gestalt der Faustdichtung ein tragisches Ende nahm — was wir hier voraus¬ setzen und wofür wir später Gründe angeben werden —, diese Notwendigkeit floß aus dem dritten Thema der ursprünglichen Faustdichtung, das wir nun ins Auge zu fassen haben. Jm Frühjahr 1770 war Goethe nach Straßburg gegangen und dort in Verkehr mit Herder gekommen, vor dem er den in seinem Busen entstehenden Faust verbarg. Im Oktober desselben Jahres beginnt das Idyll von Sesen- heim, welches im August des folgendes Jahres mit der Trennung von Friederike Brion endigte. Der Jüngling hatte einem aufblühenden Mädchen Teilnahme gezeigt, dadurch und durch den Eindruck seiner reichen und liebenswürdigen Persönlichkeit das Herz des Mädchens an sich gezogen, dann aber nicht den Schritt zu einer dauernden Verbindung gethan, sondern den Umgang abge¬ brochen. Ein Vorgang, wie er im Leben unzähligem«! vorgekommen ist und vorkommen wird. Nur machte die ungewöhnliche Persönlichkeit des Jünglings und sein späterer Ruhm bei der tiefen Natur des Mädchens den Eindruck nicht nur zu einem unvergeßlichen, sondern zu einem das spätere Leben Friederikens allein erfüllenden. In hundert Fällen dieser Art geht das Unrecht des Mannes in der Erregung bestimmter Hoffnungen viel weiter, und die Welt verzeiht es, weil sie nicht anders kann. Eine edle Natur aber verzeiht sich ein fondes von ihr begangenes Unrecht schwer und straft sich durch die Selbstqual der Über^ treibung des Unrechtes in allen Ursachen und Folgen. Auch diese Pein hat der jugendliche Goethe erlebt, und man darf glauben, daß es einen Augenblick gegeben hat, wo seine ganze Seele erbebte vor dem Schreck über die Keime,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/501>, abgerufen am 28.07.2024.