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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

leiseste Ahnung ihrer Schranken und jede Spur der daraus hervorgehenden
Bescheidenheit.




Die allen Künsten gemeinsame Natur des Kunstwerkes tritt uns Modernen
am deutlichsten aus den Werken der Tonkunst entgegen. Die Themen einer
Dichtung, einer dramatischen Dichtung zumal, lassen sich durch den Vergleich
mit den Themen eines symphonischen Gebildes, wenn sie dem Vergleich ge¬
wachsen sind, mit besondrer Deutlichkeit zum Bewußtsein bringen.

Auf das graue, düstere, heftig bewegte und aufbäumende, dann wieder me¬
lancholisch hinschleichende Mollthema der Verzweiflung baut sich im Faust und
wechselt mit ihm ein strahlendes, mutiges und doch wieder in Moll versinkendes
Thema. Dieses zweite Thema ist der Glaube Fausts an die Magie und der
wirkliche Verkehr, in welchen er durch das Mittel der Magie mit einer höhern
Geisterwelt tritt. Die Dichtung betritt hier den Boden eines phantastischen
Glaubens, dessen Vorstellungen oder Einbildungen sie als lebendige Thatsachen,
als wirkliche Vorgänge behandelt. Diese Aufnahme einer phantastischen Welt
muß der Dichtung erlaubt sein und ist ihr erlaubt. Sie hat dabei nur zwei
Bedingungen oder Gesetze zu beobachte". Die erste Bedingung ist, daß der
Zusammenhang, das Lebensgesetz der phantastischen Welt, möge es unter welchem
Einfluß immer ersonnen sein, eingehalten werde; die zweite Bedingung ist, daß
die ethische Natur des Menschen, wenn auch unter anderen als den Bedin¬
gungen des natürlichen Lebens, hier nur umso energischer zum Vorschein komme.

Faust erhebt sich zum Verkehr mit einer höheren Geisterwelt. Er hat sich
der Mittel zu diesem Verkehr, welche der Apparat der Magie darbietet, bemäch¬
tigt. Wir müssen aber noch fragen, nachdem wir das allgemeine Recht der
Dichtung, ein phantastisches Element dieser Art aufzunehmen, für außer Zweifel
erklärt haben, zu welchem Zweck der Dichter hier zu diesem Mittel gegriffen
hat, und ob er sich desselben in seinem Falle mit Recht und mit richtiger An¬
wendung bedient hat. Der jugendliche Goethe, als er das magische Motiv in
seine Faustdichtung aufnahm, hat sicherlich nicht daran gedacht, seinen Helden
durch die Magie von jener Pein der Endlichkeit zu erlösen, die der nach dem
Schauen des lebendigen Ganzen dürstende, in die toten Schranken eines kleinen
Ich eingeschlossene Geist empfindet. Jene Überweisen, welche dem Dichter zum
Vorwurf machen, daß er an das Wissen unmögliche Anforderungen stelle, sollten
vielmehr erkennen, wie die frühe Weisheit des Genius sich darin zeigt, daß der
Dichter den verzweifelnden Faust auf einen Weg führt, wo die unmittelbare
Anschauung des freien Lebens zwar am Ziele liegt, wo aber auch ihre Unver¬
träglichkeit mit der Natur des endlichen Geistes offenbar wird. So klingt das
stolze Motiv der Magie wiederum in Moll, in Resignation aus. In Resigna¬
tion, aber noch nicht in neue Verzweiflung, in tragische Zerstörung. Es bleibt


Die Entstehung des Faust.

leiseste Ahnung ihrer Schranken und jede Spur der daraus hervorgehenden
Bescheidenheit.




Die allen Künsten gemeinsame Natur des Kunstwerkes tritt uns Modernen
am deutlichsten aus den Werken der Tonkunst entgegen. Die Themen einer
Dichtung, einer dramatischen Dichtung zumal, lassen sich durch den Vergleich
mit den Themen eines symphonischen Gebildes, wenn sie dem Vergleich ge¬
wachsen sind, mit besondrer Deutlichkeit zum Bewußtsein bringen.

Auf das graue, düstere, heftig bewegte und aufbäumende, dann wieder me¬
lancholisch hinschleichende Mollthema der Verzweiflung baut sich im Faust und
wechselt mit ihm ein strahlendes, mutiges und doch wieder in Moll versinkendes
Thema. Dieses zweite Thema ist der Glaube Fausts an die Magie und der
wirkliche Verkehr, in welchen er durch das Mittel der Magie mit einer höhern
Geisterwelt tritt. Die Dichtung betritt hier den Boden eines phantastischen
Glaubens, dessen Vorstellungen oder Einbildungen sie als lebendige Thatsachen,
als wirkliche Vorgänge behandelt. Diese Aufnahme einer phantastischen Welt
muß der Dichtung erlaubt sein und ist ihr erlaubt. Sie hat dabei nur zwei
Bedingungen oder Gesetze zu beobachte». Die erste Bedingung ist, daß der
Zusammenhang, das Lebensgesetz der phantastischen Welt, möge es unter welchem
Einfluß immer ersonnen sein, eingehalten werde; die zweite Bedingung ist, daß
die ethische Natur des Menschen, wenn auch unter anderen als den Bedin¬
gungen des natürlichen Lebens, hier nur umso energischer zum Vorschein komme.

Faust erhebt sich zum Verkehr mit einer höheren Geisterwelt. Er hat sich
der Mittel zu diesem Verkehr, welche der Apparat der Magie darbietet, bemäch¬
tigt. Wir müssen aber noch fragen, nachdem wir das allgemeine Recht der
Dichtung, ein phantastisches Element dieser Art aufzunehmen, für außer Zweifel
erklärt haben, zu welchem Zweck der Dichter hier zu diesem Mittel gegriffen
hat, und ob er sich desselben in seinem Falle mit Recht und mit richtiger An¬
wendung bedient hat. Der jugendliche Goethe, als er das magische Motiv in
seine Faustdichtung aufnahm, hat sicherlich nicht daran gedacht, seinen Helden
durch die Magie von jener Pein der Endlichkeit zu erlösen, die der nach dem
Schauen des lebendigen Ganzen dürstende, in die toten Schranken eines kleinen
Ich eingeschlossene Geist empfindet. Jene Überweisen, welche dem Dichter zum
Vorwurf machen, daß er an das Wissen unmögliche Anforderungen stelle, sollten
vielmehr erkennen, wie die frühe Weisheit des Genius sich darin zeigt, daß der
Dichter den verzweifelnden Faust auf einen Weg führt, wo die unmittelbare
Anschauung des freien Lebens zwar am Ziele liegt, wo aber auch ihre Unver¬
träglichkeit mit der Natur des endlichen Geistes offenbar wird. So klingt das
stolze Motiv der Magie wiederum in Moll, in Resignation aus. In Resigna¬
tion, aber noch nicht in neue Verzweiflung, in tragische Zerstörung. Es bleibt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/500>, abgerufen am 28.07.2024.