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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

die auf dem Wege lagen, von dem er, schneller als andere aus einem gefähr¬
lichen Traume erwachend, zurückgekehrt war. Aus diesem Gemütszustande, glaube
ich, ist die Tragödie Gretchen entstanden.

Im zwölften Buche von Dichtung und Wahrheit heißt es: "Gretchen hatte
mau mir genommen, Annette mich verlassen; hier war ich zum erstenmal schuldig;
ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche
einer düstern Reue, bei dem Maugel einer gewohnten erquicklichen Liebe, höchst
peinlich, ja unerträglich." Bald darauf heißt es: "Ich setzte die hergebrachte
poetische Beichte wieder fort, um durch diese selbstquälerische Büßung einer
innern Absolution würdig zu werden. Die beiden Marien in Götz von Ber-
lichingen und Clavigo und die beiden schlechten Figuren, die ihre Liebhaber
spielen, möchten wohl Resultate solcher reuigen Betrachtungen gewesen sein."

Das Hauptstück der Beichte war der Faust, und wenn der Dichter diesen
nicht nennt, so versteht man das Gebot der Zartheit, welches ihm Schweigen
auferlegte über jede innere Beziehung der Tragödie Gretchen zu dem Erlebnis
seiner Liebe mit Friederike Briou, ein Gebot, das ihn bis ans Lebensende be¬
gleiten mußte und begleitet hat.

Wenn der Dichter sich fragte, weshalb er dem Gefühle, das ihn zu Frie-
derike Brion gezogen, nicht nachgeben konnte, um sich und sie zu beglücken, so
sand er die Antwort, die wir heute finden und die für soviele ähnliche Fälle
gilt. Eine männliche Natur, mit reichen Kräften ausgestattet, die nur auf
mannichfaltigen Schauplätzen des Lebens sich ausbilden können, darf nicht im
Jünglingsalter in den Ehestand treten und darf am wenigsten den Lebensbund
mit einer weiblichen Natur eingehen, der bei seltener Tiefe und Armut doch
Gedeihen und Glück allein beschieden ist in früh befestigten, gleichbleibenden
Verhältnissen eines durchaus ruhigen Lebensganges. Es gehört aber zu der
Strenge, die eine edle Natur in solchem Fall gegen sich übt und üben muß
und sogar bis zur Qual treibt, sich alles, woraus das begangene Unrecht floß,
als Unrecht, als hassenswerte Eigenschaft anzurechnen. So trat vor dem Geiste
des Dichters das reiche Streben seiner Natur, welches ihm die Verbindung
mit Friederike unmöglich machte, wenn es ihm als Objekt vor Augen stand,
auf die natürlichste Weise in Verbindung mit dem Streben seines Faust nach
einer unendlichen Fülle und Ganzheit des Wissens und Lebens. Dieses
Streben, aus der reichsten Anlage des Genius stammend, die höchste Gabe,
die die Gottheit verleiht, wurde nun zur tragischen Sünde, zur Eigenschaft, aus
der nicht nur Unrecht durch unglückselige Verkettung fließt, sondern die an sich
zum Unrecht führt.

Faust verlangt von den Geistern, mit denen er durch das Mittel der Magie
in Verkehr tritt, die Kraft des unendlichen Lebens im Schauen und Genießen.
Es wird gewarnt vor dieser Kraft, weil der irdische Geist, in die irdische
Schranke der Empfindung gebannt, von dieser Kraft zerstört werden muß, wie


Die Entstehung des Faust.

die auf dem Wege lagen, von dem er, schneller als andere aus einem gefähr¬
lichen Traume erwachend, zurückgekehrt war. Aus diesem Gemütszustande, glaube
ich, ist die Tragödie Gretchen entstanden.

Im zwölften Buche von Dichtung und Wahrheit heißt es: „Gretchen hatte
mau mir genommen, Annette mich verlassen; hier war ich zum erstenmal schuldig;
ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche
einer düstern Reue, bei dem Maugel einer gewohnten erquicklichen Liebe, höchst
peinlich, ja unerträglich." Bald darauf heißt es: „Ich setzte die hergebrachte
poetische Beichte wieder fort, um durch diese selbstquälerische Büßung einer
innern Absolution würdig zu werden. Die beiden Marien in Götz von Ber-
lichingen und Clavigo und die beiden schlechten Figuren, die ihre Liebhaber
spielen, möchten wohl Resultate solcher reuigen Betrachtungen gewesen sein."

Das Hauptstück der Beichte war der Faust, und wenn der Dichter diesen
nicht nennt, so versteht man das Gebot der Zartheit, welches ihm Schweigen
auferlegte über jede innere Beziehung der Tragödie Gretchen zu dem Erlebnis
seiner Liebe mit Friederike Briou, ein Gebot, das ihn bis ans Lebensende be¬
gleiten mußte und begleitet hat.

Wenn der Dichter sich fragte, weshalb er dem Gefühle, das ihn zu Frie-
derike Brion gezogen, nicht nachgeben konnte, um sich und sie zu beglücken, so
sand er die Antwort, die wir heute finden und die für soviele ähnliche Fälle
gilt. Eine männliche Natur, mit reichen Kräften ausgestattet, die nur auf
mannichfaltigen Schauplätzen des Lebens sich ausbilden können, darf nicht im
Jünglingsalter in den Ehestand treten und darf am wenigsten den Lebensbund
mit einer weiblichen Natur eingehen, der bei seltener Tiefe und Armut doch
Gedeihen und Glück allein beschieden ist in früh befestigten, gleichbleibenden
Verhältnissen eines durchaus ruhigen Lebensganges. Es gehört aber zu der
Strenge, die eine edle Natur in solchem Fall gegen sich übt und üben muß
und sogar bis zur Qual treibt, sich alles, woraus das begangene Unrecht floß,
als Unrecht, als hassenswerte Eigenschaft anzurechnen. So trat vor dem Geiste
des Dichters das reiche Streben seiner Natur, welches ihm die Verbindung
mit Friederike unmöglich machte, wenn es ihm als Objekt vor Augen stand,
auf die natürlichste Weise in Verbindung mit dem Streben seines Faust nach
einer unendlichen Fülle und Ganzheit des Wissens und Lebens. Dieses
Streben, aus der reichsten Anlage des Genius stammend, die höchste Gabe,
die die Gottheit verleiht, wurde nun zur tragischen Sünde, zur Eigenschaft, aus
der nicht nur Unrecht durch unglückselige Verkettung fließt, sondern die an sich
zum Unrecht führt.

Faust verlangt von den Geistern, mit denen er durch das Mittel der Magie
in Verkehr tritt, die Kraft des unendlichen Lebens im Schauen und Genießen.
Es wird gewarnt vor dieser Kraft, weil der irdische Geist, in die irdische
Schranke der Empfindung gebannt, von dieser Kraft zerstört werden muß, wie


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[0502] Die Entstehung des Faust. die auf dem Wege lagen, von dem er, schneller als andere aus einem gefähr¬ lichen Traume erwachend, zurückgekehrt war. Aus diesem Gemütszustande, glaube ich, ist die Tragödie Gretchen entstanden. Im zwölften Buche von Dichtung und Wahrheit heißt es: „Gretchen hatte mau mir genommen, Annette mich verlassen; hier war ich zum erstenmal schuldig; ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche einer düstern Reue, bei dem Maugel einer gewohnten erquicklichen Liebe, höchst peinlich, ja unerträglich." Bald darauf heißt es: „Ich setzte die hergebrachte poetische Beichte wieder fort, um durch diese selbstquälerische Büßung einer innern Absolution würdig zu werden. Die beiden Marien in Götz von Ber- lichingen und Clavigo und die beiden schlechten Figuren, die ihre Liebhaber spielen, möchten wohl Resultate solcher reuigen Betrachtungen gewesen sein." Das Hauptstück der Beichte war der Faust, und wenn der Dichter diesen nicht nennt, so versteht man das Gebot der Zartheit, welches ihm Schweigen auferlegte über jede innere Beziehung der Tragödie Gretchen zu dem Erlebnis seiner Liebe mit Friederike Briou, ein Gebot, das ihn bis ans Lebensende be¬ gleiten mußte und begleitet hat. Wenn der Dichter sich fragte, weshalb er dem Gefühle, das ihn zu Frie- derike Brion gezogen, nicht nachgeben konnte, um sich und sie zu beglücken, so sand er die Antwort, die wir heute finden und die für soviele ähnliche Fälle gilt. Eine männliche Natur, mit reichen Kräften ausgestattet, die nur auf mannichfaltigen Schauplätzen des Lebens sich ausbilden können, darf nicht im Jünglingsalter in den Ehestand treten und darf am wenigsten den Lebensbund mit einer weiblichen Natur eingehen, der bei seltener Tiefe und Armut doch Gedeihen und Glück allein beschieden ist in früh befestigten, gleichbleibenden Verhältnissen eines durchaus ruhigen Lebensganges. Es gehört aber zu der Strenge, die eine edle Natur in solchem Fall gegen sich übt und üben muß und sogar bis zur Qual treibt, sich alles, woraus das begangene Unrecht floß, als Unrecht, als hassenswerte Eigenschaft anzurechnen. So trat vor dem Geiste des Dichters das reiche Streben seiner Natur, welches ihm die Verbindung mit Friederike unmöglich machte, wenn es ihm als Objekt vor Augen stand, auf die natürlichste Weise in Verbindung mit dem Streben seines Faust nach einer unendlichen Fülle und Ganzheit des Wissens und Lebens. Dieses Streben, aus der reichsten Anlage des Genius stammend, die höchste Gabe, die die Gottheit verleiht, wurde nun zur tragischen Sünde, zur Eigenschaft, aus der nicht nur Unrecht durch unglückselige Verkettung fließt, sondern die an sich zum Unrecht führt. Faust verlangt von den Geistern, mit denen er durch das Mittel der Magie in Verkehr tritt, die Kraft des unendlichen Lebens im Schauen und Genießen. Es wird gewarnt vor dieser Kraft, weil der irdische Geist, in die irdische Schranke der Empfindung gebannt, von dieser Kraft zerstört werden muß, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/502>, abgerufen am 01.09.2024.