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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

Wer er empfand den Moment der Verzweiflung mit der Intensität des Genius,
dem der innere Reichtum, solange er die Pforten zu den Außendingen nicht
findet, die peinlichsten Qualen bereitet.

Was stellt also diese Faustverzweiflung dar? Stellt sie den subjektiven
Durchgangspunkt einer individuellen, zum Teil durch Zufälligkeiten in ihrer Ent¬
wicklung bedingten Persönlichkeit dar? Stellt sie die Empörung gegen einen
historischen Zustand der Wissenschaft dar, der für immer überwunden ist, der
nicht wiederkommt? Beide Betrachtungsweisen wären vollkommen falsch. Die
Faustverzweiflung, wenn auch in individuell verschiedner Erscheinungsweise, wird
keinen: Wissenden erspart, das heißt keinem, in den des Wissens schöpferische
Fähigkeit gelegt ist und der den schweren Schritt vom Wissensdrang zur Wissens¬
arbeit thun muß. Die Mittelmäßigkeit, die nie so hochmütig war wie heute,
verweist den zum Wissen Angelegten, der an der Wissensfählgkeit verzweifelt,
ganz einfach an das Sitzfleisch, mit der renommistischen Lüge, als ob sie selbst
dasselbe angestrengt hätte, während sie sich nur frech auf den Stuhl der Pythia
gesetzt hat. Aber für den Wissensdurstigen, der noch kein Wissender ist, giebt
es, wenn er wissensfähig ist, keine andre Vorschrift, als abzuwarten, bis der
innere Schacht sich öffnet, der zur produktive,? Berührung mit dem Einzelnen
führt. Die pathologischen Erscheinungen jedoch, welche diesen Zustand mehr
oder minder heftig begleiten, wird keine Vorschrift je verhüten. Die Faustvcr-
zweiflung ist daher ein ewiges Entwicklungsmomeut der Menschheit, aber der
aristokratischen Menschheit, der ungeheuern Minderheit der mit der Schöpfer¬
kraft begnadeten Naturen. Und so wissen wir schon aus dem Grundmotiv,
warum Goethes Faustdichtung zu den ewig anziehenden Werken der Weltlite¬
ratur gehören wird. Denn diese Eigenschaft entspringt aus einem tiefesoterischcn,
aristokratischen Gehalt, der in allergreifenden, das populäre Gefühl mächtig
rührenden Akkorden niedergelegt ist. Zuweilen freilich wird der Pöbel unge¬
duldig, daß ihn Akkorde rühren, daß er Worden lauschen soll, deren Sinn ihm
ein Rätsel bleibt. Dann beginnt er unter der Anführung hochmütiger Halb-
wisser, denen das Gefühl der Ausgeschlossenhcit vom Höchsten am ärgerlichsten
ist, einen unanständigen Lärm, um das himmlische Orchester zum Schweigen
zu bringen.

Der Faust schildert auch nicht einen historischen Mangel der Wissenschaft,
über den die glückliche Gegenwart sich glücklich für immer erhoben hätte. Nur
die seltenen wahren Meister der Wissenschaft sind Wissende, das iimwtoruiQ
xsous versinkt immer wieder in den toten Wust der Kenntnisse, mit dem es
geistlos hantirt, indem es seine Modifikatiönchen, seine Verstellungen und Ver¬
unstaltungen für wahre Produktionen und echte Gestaltungen hält. Die Wissen¬
schaft der "Jetztzeit" trägt in tausend Erscheinungen den Stempel derjenigen,
an der Faust verzweifelte. Nur in zwei Dingen unterscheidet sie sich: es fehlt
ihr ebensosehr der geheimnisvoll anziehende Eindruck der Arbeitsmittel als die


Grenzboten IV. 1833. 62
Die Entstehung des Faust.

Wer er empfand den Moment der Verzweiflung mit der Intensität des Genius,
dem der innere Reichtum, solange er die Pforten zu den Außendingen nicht
findet, die peinlichsten Qualen bereitet.

Was stellt also diese Faustverzweiflung dar? Stellt sie den subjektiven
Durchgangspunkt einer individuellen, zum Teil durch Zufälligkeiten in ihrer Ent¬
wicklung bedingten Persönlichkeit dar? Stellt sie die Empörung gegen einen
historischen Zustand der Wissenschaft dar, der für immer überwunden ist, der
nicht wiederkommt? Beide Betrachtungsweisen wären vollkommen falsch. Die
Faustverzweiflung, wenn auch in individuell verschiedner Erscheinungsweise, wird
keinen: Wissenden erspart, das heißt keinem, in den des Wissens schöpferische
Fähigkeit gelegt ist und der den schweren Schritt vom Wissensdrang zur Wissens¬
arbeit thun muß. Die Mittelmäßigkeit, die nie so hochmütig war wie heute,
verweist den zum Wissen Angelegten, der an der Wissensfählgkeit verzweifelt,
ganz einfach an das Sitzfleisch, mit der renommistischen Lüge, als ob sie selbst
dasselbe angestrengt hätte, während sie sich nur frech auf den Stuhl der Pythia
gesetzt hat. Aber für den Wissensdurstigen, der noch kein Wissender ist, giebt
es, wenn er wissensfähig ist, keine andre Vorschrift, als abzuwarten, bis der
innere Schacht sich öffnet, der zur produktive,? Berührung mit dem Einzelnen
führt. Die pathologischen Erscheinungen jedoch, welche diesen Zustand mehr
oder minder heftig begleiten, wird keine Vorschrift je verhüten. Die Faustvcr-
zweiflung ist daher ein ewiges Entwicklungsmomeut der Menschheit, aber der
aristokratischen Menschheit, der ungeheuern Minderheit der mit der Schöpfer¬
kraft begnadeten Naturen. Und so wissen wir schon aus dem Grundmotiv,
warum Goethes Faustdichtung zu den ewig anziehenden Werken der Weltlite¬
ratur gehören wird. Denn diese Eigenschaft entspringt aus einem tiefesoterischcn,
aristokratischen Gehalt, der in allergreifenden, das populäre Gefühl mächtig
rührenden Akkorden niedergelegt ist. Zuweilen freilich wird der Pöbel unge¬
duldig, daß ihn Akkorde rühren, daß er Worden lauschen soll, deren Sinn ihm
ein Rätsel bleibt. Dann beginnt er unter der Anführung hochmütiger Halb-
wisser, denen das Gefühl der Ausgeschlossenhcit vom Höchsten am ärgerlichsten
ist, einen unanständigen Lärm, um das himmlische Orchester zum Schweigen
zu bringen.

Der Faust schildert auch nicht einen historischen Mangel der Wissenschaft,
über den die glückliche Gegenwart sich glücklich für immer erhoben hätte. Nur
die seltenen wahren Meister der Wissenschaft sind Wissende, das iimwtoruiQ
xsous versinkt immer wieder in den toten Wust der Kenntnisse, mit dem es
geistlos hantirt, indem es seine Modifikatiönchen, seine Verstellungen und Ver¬
unstaltungen für wahre Produktionen und echte Gestaltungen hält. Die Wissen¬
schaft der „Jetztzeit" trägt in tausend Erscheinungen den Stempel derjenigen,
an der Faust verzweifelte. Nur in zwei Dingen unterscheidet sie sich: es fehlt
ihr ebensosehr der geheimnisvoll anziehende Eindruck der Arbeitsmittel als die


Grenzboten IV. 1833. 62
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[0499] Die Entstehung des Faust. Wer er empfand den Moment der Verzweiflung mit der Intensität des Genius, dem der innere Reichtum, solange er die Pforten zu den Außendingen nicht findet, die peinlichsten Qualen bereitet. Was stellt also diese Faustverzweiflung dar? Stellt sie den subjektiven Durchgangspunkt einer individuellen, zum Teil durch Zufälligkeiten in ihrer Ent¬ wicklung bedingten Persönlichkeit dar? Stellt sie die Empörung gegen einen historischen Zustand der Wissenschaft dar, der für immer überwunden ist, der nicht wiederkommt? Beide Betrachtungsweisen wären vollkommen falsch. Die Faustverzweiflung, wenn auch in individuell verschiedner Erscheinungsweise, wird keinen: Wissenden erspart, das heißt keinem, in den des Wissens schöpferische Fähigkeit gelegt ist und der den schweren Schritt vom Wissensdrang zur Wissens¬ arbeit thun muß. Die Mittelmäßigkeit, die nie so hochmütig war wie heute, verweist den zum Wissen Angelegten, der an der Wissensfählgkeit verzweifelt, ganz einfach an das Sitzfleisch, mit der renommistischen Lüge, als ob sie selbst dasselbe angestrengt hätte, während sie sich nur frech auf den Stuhl der Pythia gesetzt hat. Aber für den Wissensdurstigen, der noch kein Wissender ist, giebt es, wenn er wissensfähig ist, keine andre Vorschrift, als abzuwarten, bis der innere Schacht sich öffnet, der zur produktive,? Berührung mit dem Einzelnen führt. Die pathologischen Erscheinungen jedoch, welche diesen Zustand mehr oder minder heftig begleiten, wird keine Vorschrift je verhüten. Die Faustvcr- zweiflung ist daher ein ewiges Entwicklungsmomeut der Menschheit, aber der aristokratischen Menschheit, der ungeheuern Minderheit der mit der Schöpfer¬ kraft begnadeten Naturen. Und so wissen wir schon aus dem Grundmotiv, warum Goethes Faustdichtung zu den ewig anziehenden Werken der Weltlite¬ ratur gehören wird. Denn diese Eigenschaft entspringt aus einem tiefesoterischcn, aristokratischen Gehalt, der in allergreifenden, das populäre Gefühl mächtig rührenden Akkorden niedergelegt ist. Zuweilen freilich wird der Pöbel unge¬ duldig, daß ihn Akkorde rühren, daß er Worden lauschen soll, deren Sinn ihm ein Rätsel bleibt. Dann beginnt er unter der Anführung hochmütiger Halb- wisser, denen das Gefühl der Ausgeschlossenhcit vom Höchsten am ärgerlichsten ist, einen unanständigen Lärm, um das himmlische Orchester zum Schweigen zu bringen. Der Faust schildert auch nicht einen historischen Mangel der Wissenschaft, über den die glückliche Gegenwart sich glücklich für immer erhoben hätte. Nur die seltenen wahren Meister der Wissenschaft sind Wissende, das iimwtoruiQ xsous versinkt immer wieder in den toten Wust der Kenntnisse, mit dem es geistlos hantirt, indem es seine Modifikatiönchen, seine Verstellungen und Ver¬ unstaltungen für wahre Produktionen und echte Gestaltungen hält. Die Wissen¬ schaft der „Jetztzeit" trägt in tausend Erscheinungen den Stempel derjenigen, an der Faust verzweifelte. Nur in zwei Dingen unterscheidet sie sich: es fehlt ihr ebensosehr der geheimnisvoll anziehende Eindruck der Arbeitsmittel als die Grenzboten IV. 1833. 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/499>, abgerufen am 01.09.2024.