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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

weiter studiren und ein solider Professor oder andrer Nahrungsbeflissener werden
sollen; auf diesem Wege komme man zu etwas. Der Faustische Famulus, der
diesen Standpunkt vertrat, ist der Typus eines unsterblichen Geschlechts. Er
selbst präsentirte noch die gläubige, liebenswürdig bescheidene Spezies. Mit
tausend Lappen von "kritisch" zerrissenen Prachtgewändern barbarisch aufgeputzt,
schlägt er heute in vielfach widerlichen Exemplaren das schreiend mißharmonische
Pfauenrad und hebt den impertinenten Blick sogar selbstbewundernd von den
häßlichen Füßen.

Wenden wir uns von diesem greulichen Gesellen weg. Was ist der Grund,
der eine nach lebendiger Erkenntnis dürstende Seele an allen Schätzen des
Wissens, die eine lange Vergangenheit gesammelt, verzweifeln lassen wird? Der
Gard ist: Das Wissen kann weder gelernt noch gelehrt werden. Das Wissen,
nicht die tote Kenntnis, ist ein schöpferischer Akt, der sich im individuellen Geist
erzeugen muß durch die Berührung des innern schaffenden Triebes mit den
homogenen Elementen der Außenwelt. Nur der schaffende individuelle Geist ist
der wissende. Alles nur von außen aufgenommene Wissen ist nur scheinbar, ist
nicht Wissen, ist höchstens tote Kenntnis. Der Wissenden sind immerdar wenige
in der Menschheit, und zwischen dem dem vollen, freien Schaffen entspringenden
Wissen bis zur Kenntnis, die keines ihrer Elemente durchdringt, liegen vielfältige
Grade. Klein im Verhältnis bleibt die Zahl der in irgend einem Grade
Wissenden, verschwindend klein die Zahl der wahrhaft Wissenden. Der indivi¬
duelle Geist aber, in dessen Busen der schaffende Wissenstrieb sich regt, die
Ahnung einer vollendeten Welterkenntnis, er empfindet, weil alles Jrtisch-Leben¬
dige unter dem Gesetz der Entwicklung steht, zuerst eine ungeheure Sehnsucht
nach den freien Auen einer geistesdurchdrungenen Welt. Der schaffende Trieb
irrt gleichsam umher und findet keineswegs sogleich die richtigen Elemente, an
denen er den Versuch lebendiger Durchdringung erfolgreich ansetzen und von
denen er immer erfolgreicher fortschreiten kann. Der in die Schranken der
Natur gebannte Geist verfällt vielmehr mit ausnahmsloser Notwendigkeit, wenn
anch nur einen Augenblick, dem Irrtum, die freie, lebendige Welt außer sich
finde" zu können; er sucht den Führer, der ihn zu diesem seligen Anblick geleite.
Er sucht ihn in allen Büchern, bei allen Lehrern und kann ihn nicht finden.
So entsteht ein Augenblick der Verzweiflung, bis unversehens nach kürzerer
oder längerer Frist der innere Genius den Weg der natürlichen Verbindung
mit den äußeren Dingen entdeckt, indem er in ihnen das Freie nicht mehr als
durchsichtigen Gegenstand zu finden erwartet, aber auch nicht mehr, weil er
diesen Gegenstand nicht findet, die Dinge sogleich als tote Schlacke verwirft,
sondern den innern Trieb in sie hineinlegt, den sie dafür mit holden Schranken,
um wiederum Goethisch zu reden, umfangen und so die lebendigen Gestalten
hervorbringen. Jener Moment der Verzweiflung ist es, den Goethe in einer
Epoche empfand, die im Verhältnis zu seinem Leben mir ein Augenblick war.


Die Entstehung des Faust.

weiter studiren und ein solider Professor oder andrer Nahrungsbeflissener werden
sollen; auf diesem Wege komme man zu etwas. Der Faustische Famulus, der
diesen Standpunkt vertrat, ist der Typus eines unsterblichen Geschlechts. Er
selbst präsentirte noch die gläubige, liebenswürdig bescheidene Spezies. Mit
tausend Lappen von „kritisch" zerrissenen Prachtgewändern barbarisch aufgeputzt,
schlägt er heute in vielfach widerlichen Exemplaren das schreiend mißharmonische
Pfauenrad und hebt den impertinenten Blick sogar selbstbewundernd von den
häßlichen Füßen.

Wenden wir uns von diesem greulichen Gesellen weg. Was ist der Grund,
der eine nach lebendiger Erkenntnis dürstende Seele an allen Schätzen des
Wissens, die eine lange Vergangenheit gesammelt, verzweifeln lassen wird? Der
Gard ist: Das Wissen kann weder gelernt noch gelehrt werden. Das Wissen,
nicht die tote Kenntnis, ist ein schöpferischer Akt, der sich im individuellen Geist
erzeugen muß durch die Berührung des innern schaffenden Triebes mit den
homogenen Elementen der Außenwelt. Nur der schaffende individuelle Geist ist
der wissende. Alles nur von außen aufgenommene Wissen ist nur scheinbar, ist
nicht Wissen, ist höchstens tote Kenntnis. Der Wissenden sind immerdar wenige
in der Menschheit, und zwischen dem dem vollen, freien Schaffen entspringenden
Wissen bis zur Kenntnis, die keines ihrer Elemente durchdringt, liegen vielfältige
Grade. Klein im Verhältnis bleibt die Zahl der in irgend einem Grade
Wissenden, verschwindend klein die Zahl der wahrhaft Wissenden. Der indivi¬
duelle Geist aber, in dessen Busen der schaffende Wissenstrieb sich regt, die
Ahnung einer vollendeten Welterkenntnis, er empfindet, weil alles Jrtisch-Leben¬
dige unter dem Gesetz der Entwicklung steht, zuerst eine ungeheure Sehnsucht
nach den freien Auen einer geistesdurchdrungenen Welt. Der schaffende Trieb
irrt gleichsam umher und findet keineswegs sogleich die richtigen Elemente, an
denen er den Versuch lebendiger Durchdringung erfolgreich ansetzen und von
denen er immer erfolgreicher fortschreiten kann. Der in die Schranken der
Natur gebannte Geist verfällt vielmehr mit ausnahmsloser Notwendigkeit, wenn
anch nur einen Augenblick, dem Irrtum, die freie, lebendige Welt außer sich
finde» zu können; er sucht den Führer, der ihn zu diesem seligen Anblick geleite.
Er sucht ihn in allen Büchern, bei allen Lehrern und kann ihn nicht finden.
So entsteht ein Augenblick der Verzweiflung, bis unversehens nach kürzerer
oder längerer Frist der innere Genius den Weg der natürlichen Verbindung
mit den äußeren Dingen entdeckt, indem er in ihnen das Freie nicht mehr als
durchsichtigen Gegenstand zu finden erwartet, aber auch nicht mehr, weil er
diesen Gegenstand nicht findet, die Dinge sogleich als tote Schlacke verwirft,
sondern den innern Trieb in sie hineinlegt, den sie dafür mit holden Schranken,
um wiederum Goethisch zu reden, umfangen und so die lebendigen Gestalten
hervorbringen. Jener Moment der Verzweiflung ist es, den Goethe in einer
Epoche empfand, die im Verhältnis zu seinem Leben mir ein Augenblick war.


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[0498] Die Entstehung des Faust. weiter studiren und ein solider Professor oder andrer Nahrungsbeflissener werden sollen; auf diesem Wege komme man zu etwas. Der Faustische Famulus, der diesen Standpunkt vertrat, ist der Typus eines unsterblichen Geschlechts. Er selbst präsentirte noch die gläubige, liebenswürdig bescheidene Spezies. Mit tausend Lappen von „kritisch" zerrissenen Prachtgewändern barbarisch aufgeputzt, schlägt er heute in vielfach widerlichen Exemplaren das schreiend mißharmonische Pfauenrad und hebt den impertinenten Blick sogar selbstbewundernd von den häßlichen Füßen. Wenden wir uns von diesem greulichen Gesellen weg. Was ist der Grund, der eine nach lebendiger Erkenntnis dürstende Seele an allen Schätzen des Wissens, die eine lange Vergangenheit gesammelt, verzweifeln lassen wird? Der Gard ist: Das Wissen kann weder gelernt noch gelehrt werden. Das Wissen, nicht die tote Kenntnis, ist ein schöpferischer Akt, der sich im individuellen Geist erzeugen muß durch die Berührung des innern schaffenden Triebes mit den homogenen Elementen der Außenwelt. Nur der schaffende individuelle Geist ist der wissende. Alles nur von außen aufgenommene Wissen ist nur scheinbar, ist nicht Wissen, ist höchstens tote Kenntnis. Der Wissenden sind immerdar wenige in der Menschheit, und zwischen dem dem vollen, freien Schaffen entspringenden Wissen bis zur Kenntnis, die keines ihrer Elemente durchdringt, liegen vielfältige Grade. Klein im Verhältnis bleibt die Zahl der in irgend einem Grade Wissenden, verschwindend klein die Zahl der wahrhaft Wissenden. Der indivi¬ duelle Geist aber, in dessen Busen der schaffende Wissenstrieb sich regt, die Ahnung einer vollendeten Welterkenntnis, er empfindet, weil alles Jrtisch-Leben¬ dige unter dem Gesetz der Entwicklung steht, zuerst eine ungeheure Sehnsucht nach den freien Auen einer geistesdurchdrungenen Welt. Der schaffende Trieb irrt gleichsam umher und findet keineswegs sogleich die richtigen Elemente, an denen er den Versuch lebendiger Durchdringung erfolgreich ansetzen und von denen er immer erfolgreicher fortschreiten kann. Der in die Schranken der Natur gebannte Geist verfällt vielmehr mit ausnahmsloser Notwendigkeit, wenn anch nur einen Augenblick, dem Irrtum, die freie, lebendige Welt außer sich finde» zu können; er sucht den Führer, der ihn zu diesem seligen Anblick geleite. Er sucht ihn in allen Büchern, bei allen Lehrern und kann ihn nicht finden. So entsteht ein Augenblick der Verzweiflung, bis unversehens nach kürzerer oder längerer Frist der innere Genius den Weg der natürlichen Verbindung mit den äußeren Dingen entdeckt, indem er in ihnen das Freie nicht mehr als durchsichtigen Gegenstand zu finden erwartet, aber auch nicht mehr, weil er diesen Gegenstand nicht findet, die Dinge sogleich als tote Schlacke verwirft, sondern den innern Trieb in sie hineinlegt, den sie dafür mit holden Schranken, um wiederum Goethisch zu reden, umfangen und so die lebendigen Gestalten hervorbringen. Jener Moment der Verzweiflung ist es, den Goethe in einer Epoche empfand, die im Verhältnis zu seinem Leben mir ein Augenblick war.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/498>, abgerufen am 27.07.2024.