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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Unsre Parteien.

Landstreichertum. Die Heilmittel, die man dagegen vorschlägt (Arbeiterkolo¬
nien :c.), werden schwerlich ausreichend wirken. Kann aber das Übel nicht in
andrer Weise geheilt werden, so wird man auch hier an eine Änderung der
Gesetzgebung denken und vielleicht in einem gewissen Maße auf das alte Hei¬
matsrecht (welches Baiern sich garnicht hat nehmen lassen) zurückkommen
müssen.

Auch bei der Gestaltung des deutschen Strafgesetzbuches haben in vielen
Beziehungen die liberalen Parteien den Ausschlag gegeben. Bereits im Jahre
1875 legte aber die Reichsregierung dem Reichstage einen Gesetzentwurf vor,
welcher die Zügel der Strafrechtspflege wieder straffer anzuziehen bestimmt war.
Und man konnte nicht umhin, denselben in den meisten Punkten anzunehmen.
Nur in einer Frage hatte bei Erlaß des Strafgesetzbuchs Fürst Bismarck dem
lebhaften Begehren der liberalen Parteien nicht nachgegeben. Das war die
Frage der Todesstrafe, deren Beibehaltung für die allerschwersten Fälle er un¬
bedingt forderte. An dieser Frage drohte das ganze Werk zu scheitern. Ein
kleiner Teil der Liberalen rettete es, indem er bei dritter Lesung sich dem
Wunsche des Reichskanzlers fügte. Gleichwohl hatte die liberale Partei durch
ihre erste, die Todesstrafe verwerfende Abstimmung in gewissem Sinne ihr Ziel
erreicht. Kaiser Wilhelm in seiner angebornen Milde, und vielleicht auch mit
Rücksicht auf jenes Votum des Reichstages, ließ lange Jahre hindurch kein
Todesurteil vollziehen, und die übrigen deutschen Fürsten folgten seinem Beispiel.
Thatsächlich war also die Todesstrafe in Deutschland abgeschafft. Da kamen
die furchtbaren Attentate des Jahres 1878 und ließen einen tiefen Blick thun
in die Verwilderung unsers Volkes. Seitdem ist die Todesstrafe wieder in
einzelnen Fälle vollzogen worden. Täuschen wir uns nicht, so hat es dem
Rechtsbewußtsein des deutschen Volkes nicht widersprochen, daß ein Hödel und
nicht minder ein Conrad und Sobbe ihre Verbrechen mit dem Leben büßten.
Hat doch auch neuerdings das Schweizer Volk in seiner Mehrheit für die
Wiedereinführung der Todesstrafe gestimmt.

Aber noch einen weit tieferen Einschnitt in die liberale Gesetzgebung der
letzten Jahre haben jene Attentate herbeigeführt. Nach anfänglichem, ihr so
verhängnisvoll gewordenem Weigern mußte sich die nationalliberale Partei
entschließen, dem Sozialistengesetze zuzustimmen. Sie vermochte dem Andrange
der Thatsachen nicht zu widerstehen. Preßfreiheit, Vereins- und Versammlungs¬
recht, Freiheit des Aufenthalts, diese drei Grundpfeiler des liberalen Glaubens¬
bekenntnisses, wurden für eine große Zahl von Staatsangehörigen beseitigt.

Wir führen das alles an, nicht um daraus gegen die liberalen Parteien
irgendeinen Vorwurf zu entnehmen. Bei einer so umfassenden Gesetzgebung
ist es ja äußerst schwer, überall das richtige Maß zu finden. Auch hängen die
Erfolge eines Gesetzes mitunter von einem zufälligen Verlauf der Dinge ab,
den niemand berechnen kann. Wohl aber möchten wir an die rückläufige Be-


Unsre Parteien.

Landstreichertum. Die Heilmittel, die man dagegen vorschlägt (Arbeiterkolo¬
nien :c.), werden schwerlich ausreichend wirken. Kann aber das Übel nicht in
andrer Weise geheilt werden, so wird man auch hier an eine Änderung der
Gesetzgebung denken und vielleicht in einem gewissen Maße auf das alte Hei¬
matsrecht (welches Baiern sich garnicht hat nehmen lassen) zurückkommen
müssen.

Auch bei der Gestaltung des deutschen Strafgesetzbuches haben in vielen
Beziehungen die liberalen Parteien den Ausschlag gegeben. Bereits im Jahre
1875 legte aber die Reichsregierung dem Reichstage einen Gesetzentwurf vor,
welcher die Zügel der Strafrechtspflege wieder straffer anzuziehen bestimmt war.
Und man konnte nicht umhin, denselben in den meisten Punkten anzunehmen.
Nur in einer Frage hatte bei Erlaß des Strafgesetzbuchs Fürst Bismarck dem
lebhaften Begehren der liberalen Parteien nicht nachgegeben. Das war die
Frage der Todesstrafe, deren Beibehaltung für die allerschwersten Fälle er un¬
bedingt forderte. An dieser Frage drohte das ganze Werk zu scheitern. Ein
kleiner Teil der Liberalen rettete es, indem er bei dritter Lesung sich dem
Wunsche des Reichskanzlers fügte. Gleichwohl hatte die liberale Partei durch
ihre erste, die Todesstrafe verwerfende Abstimmung in gewissem Sinne ihr Ziel
erreicht. Kaiser Wilhelm in seiner angebornen Milde, und vielleicht auch mit
Rücksicht auf jenes Votum des Reichstages, ließ lange Jahre hindurch kein
Todesurteil vollziehen, und die übrigen deutschen Fürsten folgten seinem Beispiel.
Thatsächlich war also die Todesstrafe in Deutschland abgeschafft. Da kamen
die furchtbaren Attentate des Jahres 1878 und ließen einen tiefen Blick thun
in die Verwilderung unsers Volkes. Seitdem ist die Todesstrafe wieder in
einzelnen Fälle vollzogen worden. Täuschen wir uns nicht, so hat es dem
Rechtsbewußtsein des deutschen Volkes nicht widersprochen, daß ein Hödel und
nicht minder ein Conrad und Sobbe ihre Verbrechen mit dem Leben büßten.
Hat doch auch neuerdings das Schweizer Volk in seiner Mehrheit für die
Wiedereinführung der Todesstrafe gestimmt.

Aber noch einen weit tieferen Einschnitt in die liberale Gesetzgebung der
letzten Jahre haben jene Attentate herbeigeführt. Nach anfänglichem, ihr so
verhängnisvoll gewordenem Weigern mußte sich die nationalliberale Partei
entschließen, dem Sozialistengesetze zuzustimmen. Sie vermochte dem Andrange
der Thatsachen nicht zu widerstehen. Preßfreiheit, Vereins- und Versammlungs¬
recht, Freiheit des Aufenthalts, diese drei Grundpfeiler des liberalen Glaubens¬
bekenntnisses, wurden für eine große Zahl von Staatsangehörigen beseitigt.

Wir führen das alles an, nicht um daraus gegen die liberalen Parteien
irgendeinen Vorwurf zu entnehmen. Bei einer so umfassenden Gesetzgebung
ist es ja äußerst schwer, überall das richtige Maß zu finden. Auch hängen die
Erfolge eines Gesetzes mitunter von einem zufälligen Verlauf der Dinge ab,
den niemand berechnen kann. Wohl aber möchten wir an die rückläufige Be-


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[0485] Unsre Parteien. Landstreichertum. Die Heilmittel, die man dagegen vorschlägt (Arbeiterkolo¬ nien :c.), werden schwerlich ausreichend wirken. Kann aber das Übel nicht in andrer Weise geheilt werden, so wird man auch hier an eine Änderung der Gesetzgebung denken und vielleicht in einem gewissen Maße auf das alte Hei¬ matsrecht (welches Baiern sich garnicht hat nehmen lassen) zurückkommen müssen. Auch bei der Gestaltung des deutschen Strafgesetzbuches haben in vielen Beziehungen die liberalen Parteien den Ausschlag gegeben. Bereits im Jahre 1875 legte aber die Reichsregierung dem Reichstage einen Gesetzentwurf vor, welcher die Zügel der Strafrechtspflege wieder straffer anzuziehen bestimmt war. Und man konnte nicht umhin, denselben in den meisten Punkten anzunehmen. Nur in einer Frage hatte bei Erlaß des Strafgesetzbuchs Fürst Bismarck dem lebhaften Begehren der liberalen Parteien nicht nachgegeben. Das war die Frage der Todesstrafe, deren Beibehaltung für die allerschwersten Fälle er un¬ bedingt forderte. An dieser Frage drohte das ganze Werk zu scheitern. Ein kleiner Teil der Liberalen rettete es, indem er bei dritter Lesung sich dem Wunsche des Reichskanzlers fügte. Gleichwohl hatte die liberale Partei durch ihre erste, die Todesstrafe verwerfende Abstimmung in gewissem Sinne ihr Ziel erreicht. Kaiser Wilhelm in seiner angebornen Milde, und vielleicht auch mit Rücksicht auf jenes Votum des Reichstages, ließ lange Jahre hindurch kein Todesurteil vollziehen, und die übrigen deutschen Fürsten folgten seinem Beispiel. Thatsächlich war also die Todesstrafe in Deutschland abgeschafft. Da kamen die furchtbaren Attentate des Jahres 1878 und ließen einen tiefen Blick thun in die Verwilderung unsers Volkes. Seitdem ist die Todesstrafe wieder in einzelnen Fälle vollzogen worden. Täuschen wir uns nicht, so hat es dem Rechtsbewußtsein des deutschen Volkes nicht widersprochen, daß ein Hödel und nicht minder ein Conrad und Sobbe ihre Verbrechen mit dem Leben büßten. Hat doch auch neuerdings das Schweizer Volk in seiner Mehrheit für die Wiedereinführung der Todesstrafe gestimmt. Aber noch einen weit tieferen Einschnitt in die liberale Gesetzgebung der letzten Jahre haben jene Attentate herbeigeführt. Nach anfänglichem, ihr so verhängnisvoll gewordenem Weigern mußte sich die nationalliberale Partei entschließen, dem Sozialistengesetze zuzustimmen. Sie vermochte dem Andrange der Thatsachen nicht zu widerstehen. Preßfreiheit, Vereins- und Versammlungs¬ recht, Freiheit des Aufenthalts, diese drei Grundpfeiler des liberalen Glaubens¬ bekenntnisses, wurden für eine große Zahl von Staatsangehörigen beseitigt. Wir führen das alles an, nicht um daraus gegen die liberalen Parteien irgendeinen Vorwurf zu entnehmen. Bei einer so umfassenden Gesetzgebung ist es ja äußerst schwer, überall das richtige Maß zu finden. Auch hängen die Erfolge eines Gesetzes mitunter von einem zufälligen Verlauf der Dinge ab, den niemand berechnen kann. Wohl aber möchten wir an die rückläufige Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/485>, abgerufen am 28.07.2024.