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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Unsre Parteien.

liberale Prinzip vorgeherrscht. Die konservativen Parteien, Fürst Bismarck an
der Spitze, akkomodirten sich mehr oder minder dem liberalen Gedanken. In
diesem Sinne ist es nicht unrichtig, wenn man die Gesetzgebung jener Jahre
vorzugsweise als ein Werk der nationalliberalen Partei bezeichnet. Trotzdem
nun, daß im großen Ganzen diese Gesetzgebung einen mächtigen Fortschritt in der
Entwicklung unsers Vaterlandes in sich schließt, daß anch die nationalliberale
Partei bei derselben im allgemeinen bemüht gewesen ist, eine maßvolle Stellung
einzunehmen und Extreme zu vermeiden, ist es doch unverkennbar, daß man
dabei in manchem mit dem Liberalismus zu weit gegangen ist. Seit einer
Reihe von Jahren ist man bereits in einer Korrektur dieser Gesetzgebung be¬
griffen, von welcher wir glauben möchten, daß sie die Mehrzahl des deutschen
Volkes für sich hat. Vielleicht wird es gut sein, wenn wir zur Aufklärung
der Sache einmal auf den ganzen Verlauf dieser Dinge zurückblicken.

Die im Jahre 1869 erlassene Gewerbeordnung war ein durchaus frei¬
sinniges Gesetz und ist im wesentlichen nach den Wünschen der liberalen Parteien
gestaltet worden. Wer aber kann in Abrede stellen, daß die durch sie eingeführten
"Freiheiten" auch Schattenseiten entwickelt und in einem nicht unerheblichen
Teile des deutschen Volkes eine starke Gegenbewegung wachgerufen haben? Fast
Jahr für Jahr hat die Reichsregierung sich veranlaßt gesehen, dem Reichstage
Novellen zu diesem Gesetze vorzulegen, um manchen Ausschreitungen der Gewerbe¬
freiheit zu begegnen, und der Reichstag hat nicht umhin gekonnt, diesen Vor¬
lagen in den meisten Punkten beizustimmen. Auch die nationalliberale Partei
hat zum großen Teil ihre Zustimmung gegeben. Diejenigen Liberalen aber,
welche zur Wahrung ihrer Prinzipientreue widerstreben zu müssen glaubten,
haben damit schwerlich im Sinne der Mehrzahl unsers Volkes gehandelt. Die
Aufhebung der Zinsbeschränkuugen war eine Forderung des Liberalismus.
Was ist daraus geworden? Nach Verlauf einer Anzahl von Jahren war der
Wucher so üppig emporgeblüht, daß man wieder zu einem Wuchergesetze griff,
welches, trotz aller gegen dessen mangelhafte Faktur obwaltenden Bedenken, im
Reichstage Annahme fand. Die völlige Freigebung der Bildung und Or¬
ganisation von Aktiengesellschaften entsprach dem liberalen Programm. Aber
schon während der sogenannten Gründerzeit ergaben sich daraus sehr fühlbare
Mißstände, und jetzt ist ein Gesetz in Verhandlung, welches jene Freiheit wieder
einzuschränken bestimmt ist. Die Einführung des Unterstützungswohnsitzes
und die Zerstörung des bis dahin in ganz Deutschland, mit Ausnahme Alt¬
preußens, geltenden Heimatsrechts war eine radikale Durchführung des liberalen
Freizügigkeitsprinzips, welche freilich nicht allein von den Liberalen, sondern
auch von den altpreußischen Konservativen im Interesse ihrer Gutsbezirke ge¬
fordert wurde. Manche daraus hervorgegangenen Mißstände sind längere Zeit
stillschweigend ertragen worden. Jetzt ist ein Mißstand daraus entstanden,
der so leicht nicht übersehen werden kann: das mächtig herangewachsene


Unsre Parteien.

liberale Prinzip vorgeherrscht. Die konservativen Parteien, Fürst Bismarck an
der Spitze, akkomodirten sich mehr oder minder dem liberalen Gedanken. In
diesem Sinne ist es nicht unrichtig, wenn man die Gesetzgebung jener Jahre
vorzugsweise als ein Werk der nationalliberalen Partei bezeichnet. Trotzdem
nun, daß im großen Ganzen diese Gesetzgebung einen mächtigen Fortschritt in der
Entwicklung unsers Vaterlandes in sich schließt, daß anch die nationalliberale
Partei bei derselben im allgemeinen bemüht gewesen ist, eine maßvolle Stellung
einzunehmen und Extreme zu vermeiden, ist es doch unverkennbar, daß man
dabei in manchem mit dem Liberalismus zu weit gegangen ist. Seit einer
Reihe von Jahren ist man bereits in einer Korrektur dieser Gesetzgebung be¬
griffen, von welcher wir glauben möchten, daß sie die Mehrzahl des deutschen
Volkes für sich hat. Vielleicht wird es gut sein, wenn wir zur Aufklärung
der Sache einmal auf den ganzen Verlauf dieser Dinge zurückblicken.

Die im Jahre 1869 erlassene Gewerbeordnung war ein durchaus frei¬
sinniges Gesetz und ist im wesentlichen nach den Wünschen der liberalen Parteien
gestaltet worden. Wer aber kann in Abrede stellen, daß die durch sie eingeführten
„Freiheiten" auch Schattenseiten entwickelt und in einem nicht unerheblichen
Teile des deutschen Volkes eine starke Gegenbewegung wachgerufen haben? Fast
Jahr für Jahr hat die Reichsregierung sich veranlaßt gesehen, dem Reichstage
Novellen zu diesem Gesetze vorzulegen, um manchen Ausschreitungen der Gewerbe¬
freiheit zu begegnen, und der Reichstag hat nicht umhin gekonnt, diesen Vor¬
lagen in den meisten Punkten beizustimmen. Auch die nationalliberale Partei
hat zum großen Teil ihre Zustimmung gegeben. Diejenigen Liberalen aber,
welche zur Wahrung ihrer Prinzipientreue widerstreben zu müssen glaubten,
haben damit schwerlich im Sinne der Mehrzahl unsers Volkes gehandelt. Die
Aufhebung der Zinsbeschränkuugen war eine Forderung des Liberalismus.
Was ist daraus geworden? Nach Verlauf einer Anzahl von Jahren war der
Wucher so üppig emporgeblüht, daß man wieder zu einem Wuchergesetze griff,
welches, trotz aller gegen dessen mangelhafte Faktur obwaltenden Bedenken, im
Reichstage Annahme fand. Die völlige Freigebung der Bildung und Or¬
ganisation von Aktiengesellschaften entsprach dem liberalen Programm. Aber
schon während der sogenannten Gründerzeit ergaben sich daraus sehr fühlbare
Mißstände, und jetzt ist ein Gesetz in Verhandlung, welches jene Freiheit wieder
einzuschränken bestimmt ist. Die Einführung des Unterstützungswohnsitzes
und die Zerstörung des bis dahin in ganz Deutschland, mit Ausnahme Alt¬
preußens, geltenden Heimatsrechts war eine radikale Durchführung des liberalen
Freizügigkeitsprinzips, welche freilich nicht allein von den Liberalen, sondern
auch von den altpreußischen Konservativen im Interesse ihrer Gutsbezirke ge¬
fordert wurde. Manche daraus hervorgegangenen Mißstände sind längere Zeit
stillschweigend ertragen worden. Jetzt ist ein Mißstand daraus entstanden,
der so leicht nicht übersehen werden kann: das mächtig herangewachsene


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[0484] Unsre Parteien. liberale Prinzip vorgeherrscht. Die konservativen Parteien, Fürst Bismarck an der Spitze, akkomodirten sich mehr oder minder dem liberalen Gedanken. In diesem Sinne ist es nicht unrichtig, wenn man die Gesetzgebung jener Jahre vorzugsweise als ein Werk der nationalliberalen Partei bezeichnet. Trotzdem nun, daß im großen Ganzen diese Gesetzgebung einen mächtigen Fortschritt in der Entwicklung unsers Vaterlandes in sich schließt, daß anch die nationalliberale Partei bei derselben im allgemeinen bemüht gewesen ist, eine maßvolle Stellung einzunehmen und Extreme zu vermeiden, ist es doch unverkennbar, daß man dabei in manchem mit dem Liberalismus zu weit gegangen ist. Seit einer Reihe von Jahren ist man bereits in einer Korrektur dieser Gesetzgebung be¬ griffen, von welcher wir glauben möchten, daß sie die Mehrzahl des deutschen Volkes für sich hat. Vielleicht wird es gut sein, wenn wir zur Aufklärung der Sache einmal auf den ganzen Verlauf dieser Dinge zurückblicken. Die im Jahre 1869 erlassene Gewerbeordnung war ein durchaus frei¬ sinniges Gesetz und ist im wesentlichen nach den Wünschen der liberalen Parteien gestaltet worden. Wer aber kann in Abrede stellen, daß die durch sie eingeführten „Freiheiten" auch Schattenseiten entwickelt und in einem nicht unerheblichen Teile des deutschen Volkes eine starke Gegenbewegung wachgerufen haben? Fast Jahr für Jahr hat die Reichsregierung sich veranlaßt gesehen, dem Reichstage Novellen zu diesem Gesetze vorzulegen, um manchen Ausschreitungen der Gewerbe¬ freiheit zu begegnen, und der Reichstag hat nicht umhin gekonnt, diesen Vor¬ lagen in den meisten Punkten beizustimmen. Auch die nationalliberale Partei hat zum großen Teil ihre Zustimmung gegeben. Diejenigen Liberalen aber, welche zur Wahrung ihrer Prinzipientreue widerstreben zu müssen glaubten, haben damit schwerlich im Sinne der Mehrzahl unsers Volkes gehandelt. Die Aufhebung der Zinsbeschränkuugen war eine Forderung des Liberalismus. Was ist daraus geworden? Nach Verlauf einer Anzahl von Jahren war der Wucher so üppig emporgeblüht, daß man wieder zu einem Wuchergesetze griff, welches, trotz aller gegen dessen mangelhafte Faktur obwaltenden Bedenken, im Reichstage Annahme fand. Die völlige Freigebung der Bildung und Or¬ ganisation von Aktiengesellschaften entsprach dem liberalen Programm. Aber schon während der sogenannten Gründerzeit ergaben sich daraus sehr fühlbare Mißstände, und jetzt ist ein Gesetz in Verhandlung, welches jene Freiheit wieder einzuschränken bestimmt ist. Die Einführung des Unterstützungswohnsitzes und die Zerstörung des bis dahin in ganz Deutschland, mit Ausnahme Alt¬ preußens, geltenden Heimatsrechts war eine radikale Durchführung des liberalen Freizügigkeitsprinzips, welche freilich nicht allein von den Liberalen, sondern auch von den altpreußischen Konservativen im Interesse ihrer Gutsbezirke ge¬ fordert wurde. Manche daraus hervorgegangenen Mißstände sind längere Zeit stillschweigend ertragen worden. Jetzt ist ein Mißstand daraus entstanden, der so leicht nicht übersehen werden kann: das mächtig herangewachsene

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/484>, abgerufen am 01.09.2024.