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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Neuere Kunstliteratur.

R. Pietschmann ins Deutsche übersetzt worden (Verlag von F. A, Brockhaus
in Leipzig), Für uns Deutsche ist es eine beschämende Thatsache, daß wir uns
eine Geschichte der antiken Kunst aus dem Französischen Herüberholen müssen.
In Wirklichkeit existirt aber außer Overbecks Geschichte der griechischen Plastik
und Rebers Geschichte der antiken Baukunst keine zusammenfassende Darstellung
auch nur von gewissen Abteilungen der antiken Kunst, man müßte denn etwa
noch Woernmnns Geschichte der antiken Malerei hinzurechnen, welche einen Be¬
standteil des großen von Woermann begonnenen Handbuchs bildet. Wir Deut¬
schen haben aber gerade in der jüngsten Zeit nicht bloß durch unsre Ausgra¬
bungen, sondern auch durch literarische Vorarbeiten die weitaus wichtigsten und
zuverlässigsten Bausteine zu einer Geschichte der antiken Kunst geliefert. Nun
kommt ein formgewandter, entschlossener Franzose und erntet die Früchte von
Bäumen, die andre gepflanzt haben. Unter den deutschen Gelehrten herrscht
eine heilige Scheu vor abschließenden, systematischen Arbeiten. Mit einem wahren
Ameisenfleiße wird Material über Material zusammengetragen, aber jeder hütet
sich, aus Furcht vor einem andern, der möglicherweise im stillen schon das kri¬
tische Messer schleift, dieses Material zu einem brauchbaren Bau zusammenzu¬
fügen. Wir sind also wirklich auf die Arbeiten der Franzosen angewiesen, und
in diesem Falle können wir uns schließlich auch zufrieden geben, da Perrot nicht
einer jener oberflächlichen Vüchermacher ist, welche ihren Mangel an positivem
Wissen durch wohlklingende Phrasen zu verbergen suchen, sondern ein gründ¬
licher Gelehrter, dem man mit Vertrauen folgen kann. Er besitzt zugleich die
Gabe einer angenehmen Darstellung und, da er das Material, obgleich er kein
eigentlicher Ägyptolog ist, mit großer Sicherheit beherrscht, bietet er eine Fülle
von interessanten Einzelheiten, welche bis dahin wohl nur dem Spezialforscher
bekannt waren. Sein Buch ist die erste zusammenhängende Darstellung der
ägyptischen Kunst in allen ihren Erscheinungsformen, welche keineswegs so
wandellos, so starr und typisch gewesen ist, wie man nach oberflächlicher Kenntnis
der Denkmäler früher angenommen hat. Die ägyptische Kunst hat ebensogut
ihre realistische Periode gehabt, in welcher sie sich sogar zu einer fast vollstän¬
digen Unabhängigkeit von dem hieratischen Kanon hindurchzuringen wußte. Der
Architekt Chipiez hat die reiche Illustration des Buches (etwa 600 Abbildungen
im Text, 4 farbige und Is schwarze Tafeln) überwacht, und durch seine ge¬
schickten Restaurationen von Tempeln, Palästen und Kultstätten nicht wenig
dazu beigetragen, daß uns dieses Buch ein so lebendiges und anschauliches Bild
von der ägyptischen Kunst entrollt.

Diese Übersicht war bereits abgeschlossen, als uns noch der erste Band der
von Carl Aldenhoven besorgten deutschen Übersetzung derRaffaelbiographie
von Crowe und Cavalcaselle in die Hände kam (Verlag von S. Hirzel in
Leipzig), mit welcher die berühmten Forscher das Gebäude, an welchem sie seit
zwei Jahrzehnten arbeiten, offenbar zu krönen beabsichtigen. Das Selbst-


Neuere Kunstliteratur.

R. Pietschmann ins Deutsche übersetzt worden (Verlag von F. A, Brockhaus
in Leipzig), Für uns Deutsche ist es eine beschämende Thatsache, daß wir uns
eine Geschichte der antiken Kunst aus dem Französischen Herüberholen müssen.
In Wirklichkeit existirt aber außer Overbecks Geschichte der griechischen Plastik
und Rebers Geschichte der antiken Baukunst keine zusammenfassende Darstellung
auch nur von gewissen Abteilungen der antiken Kunst, man müßte denn etwa
noch Woernmnns Geschichte der antiken Malerei hinzurechnen, welche einen Be¬
standteil des großen von Woermann begonnenen Handbuchs bildet. Wir Deut¬
schen haben aber gerade in der jüngsten Zeit nicht bloß durch unsre Ausgra¬
bungen, sondern auch durch literarische Vorarbeiten die weitaus wichtigsten und
zuverlässigsten Bausteine zu einer Geschichte der antiken Kunst geliefert. Nun
kommt ein formgewandter, entschlossener Franzose und erntet die Früchte von
Bäumen, die andre gepflanzt haben. Unter den deutschen Gelehrten herrscht
eine heilige Scheu vor abschließenden, systematischen Arbeiten. Mit einem wahren
Ameisenfleiße wird Material über Material zusammengetragen, aber jeder hütet
sich, aus Furcht vor einem andern, der möglicherweise im stillen schon das kri¬
tische Messer schleift, dieses Material zu einem brauchbaren Bau zusammenzu¬
fügen. Wir sind also wirklich auf die Arbeiten der Franzosen angewiesen, und
in diesem Falle können wir uns schließlich auch zufrieden geben, da Perrot nicht
einer jener oberflächlichen Vüchermacher ist, welche ihren Mangel an positivem
Wissen durch wohlklingende Phrasen zu verbergen suchen, sondern ein gründ¬
licher Gelehrter, dem man mit Vertrauen folgen kann. Er besitzt zugleich die
Gabe einer angenehmen Darstellung und, da er das Material, obgleich er kein
eigentlicher Ägyptolog ist, mit großer Sicherheit beherrscht, bietet er eine Fülle
von interessanten Einzelheiten, welche bis dahin wohl nur dem Spezialforscher
bekannt waren. Sein Buch ist die erste zusammenhängende Darstellung der
ägyptischen Kunst in allen ihren Erscheinungsformen, welche keineswegs so
wandellos, so starr und typisch gewesen ist, wie man nach oberflächlicher Kenntnis
der Denkmäler früher angenommen hat. Die ägyptische Kunst hat ebensogut
ihre realistische Periode gehabt, in welcher sie sich sogar zu einer fast vollstän¬
digen Unabhängigkeit von dem hieratischen Kanon hindurchzuringen wußte. Der
Architekt Chipiez hat die reiche Illustration des Buches (etwa 600 Abbildungen
im Text, 4 farbige und Is schwarze Tafeln) überwacht, und durch seine ge¬
schickten Restaurationen von Tempeln, Palästen und Kultstätten nicht wenig
dazu beigetragen, daß uns dieses Buch ein so lebendiges und anschauliches Bild
von der ägyptischen Kunst entrollt.

Diese Übersicht war bereits abgeschlossen, als uns noch der erste Band der
von Carl Aldenhoven besorgten deutschen Übersetzung derRaffaelbiographie
von Crowe und Cavalcaselle in die Hände kam (Verlag von S. Hirzel in
Leipzig), mit welcher die berühmten Forscher das Gebäude, an welchem sie seit
zwei Jahrzehnten arbeiten, offenbar zu krönen beabsichtigen. Das Selbst-


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[0473] Neuere Kunstliteratur. R. Pietschmann ins Deutsche übersetzt worden (Verlag von F. A, Brockhaus in Leipzig), Für uns Deutsche ist es eine beschämende Thatsache, daß wir uns eine Geschichte der antiken Kunst aus dem Französischen Herüberholen müssen. In Wirklichkeit existirt aber außer Overbecks Geschichte der griechischen Plastik und Rebers Geschichte der antiken Baukunst keine zusammenfassende Darstellung auch nur von gewissen Abteilungen der antiken Kunst, man müßte denn etwa noch Woernmnns Geschichte der antiken Malerei hinzurechnen, welche einen Be¬ standteil des großen von Woermann begonnenen Handbuchs bildet. Wir Deut¬ schen haben aber gerade in der jüngsten Zeit nicht bloß durch unsre Ausgra¬ bungen, sondern auch durch literarische Vorarbeiten die weitaus wichtigsten und zuverlässigsten Bausteine zu einer Geschichte der antiken Kunst geliefert. Nun kommt ein formgewandter, entschlossener Franzose und erntet die Früchte von Bäumen, die andre gepflanzt haben. Unter den deutschen Gelehrten herrscht eine heilige Scheu vor abschließenden, systematischen Arbeiten. Mit einem wahren Ameisenfleiße wird Material über Material zusammengetragen, aber jeder hütet sich, aus Furcht vor einem andern, der möglicherweise im stillen schon das kri¬ tische Messer schleift, dieses Material zu einem brauchbaren Bau zusammenzu¬ fügen. Wir sind also wirklich auf die Arbeiten der Franzosen angewiesen, und in diesem Falle können wir uns schließlich auch zufrieden geben, da Perrot nicht einer jener oberflächlichen Vüchermacher ist, welche ihren Mangel an positivem Wissen durch wohlklingende Phrasen zu verbergen suchen, sondern ein gründ¬ licher Gelehrter, dem man mit Vertrauen folgen kann. Er besitzt zugleich die Gabe einer angenehmen Darstellung und, da er das Material, obgleich er kein eigentlicher Ägyptolog ist, mit großer Sicherheit beherrscht, bietet er eine Fülle von interessanten Einzelheiten, welche bis dahin wohl nur dem Spezialforscher bekannt waren. Sein Buch ist die erste zusammenhängende Darstellung der ägyptischen Kunst in allen ihren Erscheinungsformen, welche keineswegs so wandellos, so starr und typisch gewesen ist, wie man nach oberflächlicher Kenntnis der Denkmäler früher angenommen hat. Die ägyptische Kunst hat ebensogut ihre realistische Periode gehabt, in welcher sie sich sogar zu einer fast vollstän¬ digen Unabhängigkeit von dem hieratischen Kanon hindurchzuringen wußte. Der Architekt Chipiez hat die reiche Illustration des Buches (etwa 600 Abbildungen im Text, 4 farbige und Is schwarze Tafeln) überwacht, und durch seine ge¬ schickten Restaurationen von Tempeln, Palästen und Kultstätten nicht wenig dazu beigetragen, daß uns dieses Buch ein so lebendiges und anschauliches Bild von der ägyptischen Kunst entrollt. Diese Übersicht war bereits abgeschlossen, als uns noch der erste Band der von Carl Aldenhoven besorgten deutschen Übersetzung derRaffaelbiographie von Crowe und Cavalcaselle in die Hände kam (Verlag von S. Hirzel in Leipzig), mit welcher die berühmten Forscher das Gebäude, an welchem sie seit zwei Jahrzehnten arbeiten, offenbar zu krönen beabsichtigen. Das Selbst-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/473>, abgerufen am 28.07.2024.