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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Neuere Kunstliteratur.

bewußtsein der deutschen Kunstschriftsteller, von welchem ich oben gesprochen
habe, charakterisirt sich nur als eine schüchterne Regung des Stolzes auf ehr¬
liche Arbeit im Vergleich zu dem, was das englisch-italienische Dioskurenpaar
in diesem Stücke leistet. Man durfte freilich erwarten, daß sich Crowe nach
den Malicen, welche ihm Lermolieff-Morelli zu kosten gegeben hat, mit dem
ganzen Stolze seines Englands umgürten würde; daß er und sein italienischer
Arbeitsgenosse sich aber auf ein so über alle Mitstrebenden hoch erhabenes
Piedestal stellen würden, darauf war niemand gefaßt gewesen. Man traut
seinen Augen kaum, wenn man in der Vorrede liest, daß alle bisherigen Arbeiten
über Raffael eigentlich sogut wie ergebnislos gewesen seien und daß mit diesem
I^its ok Kg.xliÄ6l erst ein "etwas helleres Licht über Raffaels Lebensgang"
verbreitet werde. Die beiden Verfasser gelten als tüchtige Bilderkenner und
Bilderkritiker, obwohl ihnen dieser Ruhm erst neuerdings durch Morelli stark
bestritten worden ist. Für tüchtige Historiker hat sie aber niemand gehalten,
und nun schreiben sie angesichts von Springers historischem Meister- und
Mnsterwerke ganz kaltblütig: "Wir besitzen noch keine Biographie Raffaels,
welche seine Beziehungen zu der Kunst und den Künstlern seines eignen und
der vorhergegangenen Jahrhunderte erschöpfend behandelte. . . . Niemand hat
bisher in überzeugender Weise die Entwicklung des Künstlers festgestellt." Der
böse Autoritätsleugner Morelli wird natürlich in diesem Buche mit souveräner
Verachtung abgestraft, und auch sonst werden die von der neuesten Kritik er¬
hobenen Zweifel und aufgeworfenen Fragen möglichst ignorirt. Alles, was den
Namen Raffael trügt, wird mit unerschütterlicher Ehrfurcht behandelt, an dem
Venetianischen Skizzenbuch wird nicht der mindeste Zweifel ausgesprochen, und
selbst das Bildchen "Apollo und Marshas" aus dem Besitze von Mr. Morris
Moore im Louvre findet in den Herren Crowe und Cavalcaselle gläubige
Verehrer.


Adolf Rosenberg.


Neuere Kunstliteratur.

bewußtsein der deutschen Kunstschriftsteller, von welchem ich oben gesprochen
habe, charakterisirt sich nur als eine schüchterne Regung des Stolzes auf ehr¬
liche Arbeit im Vergleich zu dem, was das englisch-italienische Dioskurenpaar
in diesem Stücke leistet. Man durfte freilich erwarten, daß sich Crowe nach
den Malicen, welche ihm Lermolieff-Morelli zu kosten gegeben hat, mit dem
ganzen Stolze seines Englands umgürten würde; daß er und sein italienischer
Arbeitsgenosse sich aber auf ein so über alle Mitstrebenden hoch erhabenes
Piedestal stellen würden, darauf war niemand gefaßt gewesen. Man traut
seinen Augen kaum, wenn man in der Vorrede liest, daß alle bisherigen Arbeiten
über Raffael eigentlich sogut wie ergebnislos gewesen seien und daß mit diesem
I^its ok Kg.xliÄ6l erst ein „etwas helleres Licht über Raffaels Lebensgang"
verbreitet werde. Die beiden Verfasser gelten als tüchtige Bilderkenner und
Bilderkritiker, obwohl ihnen dieser Ruhm erst neuerdings durch Morelli stark
bestritten worden ist. Für tüchtige Historiker hat sie aber niemand gehalten,
und nun schreiben sie angesichts von Springers historischem Meister- und
Mnsterwerke ganz kaltblütig: „Wir besitzen noch keine Biographie Raffaels,
welche seine Beziehungen zu der Kunst und den Künstlern seines eignen und
der vorhergegangenen Jahrhunderte erschöpfend behandelte. . . . Niemand hat
bisher in überzeugender Weise die Entwicklung des Künstlers festgestellt." Der
böse Autoritätsleugner Morelli wird natürlich in diesem Buche mit souveräner
Verachtung abgestraft, und auch sonst werden die von der neuesten Kritik er¬
hobenen Zweifel und aufgeworfenen Fragen möglichst ignorirt. Alles, was den
Namen Raffael trügt, wird mit unerschütterlicher Ehrfurcht behandelt, an dem
Venetianischen Skizzenbuch wird nicht der mindeste Zweifel ausgesprochen, und
selbst das Bildchen „Apollo und Marshas" aus dem Besitze von Mr. Morris
Moore im Louvre findet in den Herren Crowe und Cavalcaselle gläubige
Verehrer.


Adolf Rosenberg.


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[0474] Neuere Kunstliteratur. bewußtsein der deutschen Kunstschriftsteller, von welchem ich oben gesprochen habe, charakterisirt sich nur als eine schüchterne Regung des Stolzes auf ehr¬ liche Arbeit im Vergleich zu dem, was das englisch-italienische Dioskurenpaar in diesem Stücke leistet. Man durfte freilich erwarten, daß sich Crowe nach den Malicen, welche ihm Lermolieff-Morelli zu kosten gegeben hat, mit dem ganzen Stolze seines Englands umgürten würde; daß er und sein italienischer Arbeitsgenosse sich aber auf ein so über alle Mitstrebenden hoch erhabenes Piedestal stellen würden, darauf war niemand gefaßt gewesen. Man traut seinen Augen kaum, wenn man in der Vorrede liest, daß alle bisherigen Arbeiten über Raffael eigentlich sogut wie ergebnislos gewesen seien und daß mit diesem I^its ok Kg.xliÄ6l erst ein „etwas helleres Licht über Raffaels Lebensgang" verbreitet werde. Die beiden Verfasser gelten als tüchtige Bilderkenner und Bilderkritiker, obwohl ihnen dieser Ruhm erst neuerdings durch Morelli stark bestritten worden ist. Für tüchtige Historiker hat sie aber niemand gehalten, und nun schreiben sie angesichts von Springers historischem Meister- und Mnsterwerke ganz kaltblütig: „Wir besitzen noch keine Biographie Raffaels, welche seine Beziehungen zu der Kunst und den Künstlern seines eignen und der vorhergegangenen Jahrhunderte erschöpfend behandelte. . . . Niemand hat bisher in überzeugender Weise die Entwicklung des Künstlers festgestellt." Der böse Autoritätsleugner Morelli wird natürlich in diesem Buche mit souveräner Verachtung abgestraft, und auch sonst werden die von der neuesten Kritik er¬ hobenen Zweifel und aufgeworfenen Fragen möglichst ignorirt. Alles, was den Namen Raffael trügt, wird mit unerschütterlicher Ehrfurcht behandelt, an dem Venetianischen Skizzenbuch wird nicht der mindeste Zweifel ausgesprochen, und selbst das Bildchen „Apollo und Marshas" aus dem Besitze von Mr. Morris Moore im Louvre findet in den Herren Crowe und Cavalcaselle gläubige Verehrer. Adolf Rosenberg.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/474>, abgerufen am 28.07.2024.