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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Francesca von Rimini.

hatte, die größere Hälfte der Erzählung entgangen war. Dann schalt er wohl
auf die Gleichgiltigkeit der jungen Generation, die keiner Leidenschaft mehr fähig
sei, und behauptete mit Unwillen, daß wer nicht hassen, auch nicht lieben könne.
Aber er merkte nicht das Erröten Francescas bei diesen Worten und hatte für
die Verlegenheit Oswalds keinen Sinn.

So war es November geworden; das Stabilimcnto in Rimini hatte längst
seine Räume geschlossen, und wenn sich Oswald sagen wollte, daß er wegen der
Seebäder nach Rimini gekommen sei, so war für ihn kein Anlaß mehr, in der
Stadt zu bleiben. Allein er dachte garnicht mehr daran, seine Wanderschaft
wieder aufzunehmen, und auch in dem Hause war hiervon keine Rede. Denn
der Marchese war in seinem Geiste bei viel zu transcendentalen Dingen, um sich
um andre Vorkommnisse zu kümmern, Rebecchini aber war in eine Kommission
nach der Hauptstadt berufen worden, um an einer Reorganisation der Staats¬
archive zu arbeiten, und schrieb nur von Zeit zu Zeit Briefe, in denen er gegen
die verrottete Wirtschaft der frühern Negierung in seiner bekannte" Weise loszog
und auch über die gegenwärtigen Machthaber schimpfte, die sich noch immer
nicht von dem alten Gängelbande befreien könnten.

Francesca und Oswald waren bis zum fünften Gesang des Inferno vor¬
geschritten. Die Marchesina erbat sich die besondre Aufmerksamkeit ihres Hörers
für das unglückliche Geschick ihrer Landsgenossin, mit welcher sie den Namen
teilte. Oswald hatte den Pinsel weggelegt und lehnte sich an die Staffelei.
Francesca begann jene rührenden Verse, wie zwei Geister in inniger Umschlingung
von dem Sturme umhergepeitscht wurden, und der Dichter, von tiefem Mitleid
zu ihnen ergriffen, sie bittet, ihm die Geschichte ihrer Leiden nicht vorzuent¬
halten.


Hilali volombs aut äisio een^mÄs
Oon I'lui axsrto o torno, si äoles niäo
Vollen xsr l'avr etat voloro xort^te.

Gleich wie ein Taubenpaar die Lüfte teilt,
Wenns mit weit ausgespreizten breiten Schwingen
Zum süßen Nest herab voll Sehnsucht eilt.

Mit diesen Versen begann Francesca und fuhr dann fort: So entringen sich
die Unglücklichen, dem beschwörenden Rufe des Dichters zu folgen, dem Schwarm
ihrer Leidensgefährten. Aber jetzt merket, Signor, wie der Dichter in feinster
Empfindung die Geschichte ihrer Leiden von Francesca erzählen läßt, während
der Geliebte weinend zuhört. Wohl könnte man glauben, daß es geziemender
gewesen wäre, wenn nicht die Frau dem fragenden Dichter, sondern der Mann
dem Manne von den Leiden der Liebe erzählte. Aber so wird nicht urteilen,
wer den hohen und edeln Geist des Dichters kennt. Denn indem er die Er¬
zählung der Francesca in den Mund legt, zeigt er uns Lesern einen neuen
Beweis für die hingebende und opfervolle Liebe der Unglücklichen, die auch noch


Francesca von Rimini.

hatte, die größere Hälfte der Erzählung entgangen war. Dann schalt er wohl
auf die Gleichgiltigkeit der jungen Generation, die keiner Leidenschaft mehr fähig
sei, und behauptete mit Unwillen, daß wer nicht hassen, auch nicht lieben könne.
Aber er merkte nicht das Erröten Francescas bei diesen Worten und hatte für
die Verlegenheit Oswalds keinen Sinn.

So war es November geworden; das Stabilimcnto in Rimini hatte längst
seine Räume geschlossen, und wenn sich Oswald sagen wollte, daß er wegen der
Seebäder nach Rimini gekommen sei, so war für ihn kein Anlaß mehr, in der
Stadt zu bleiben. Allein er dachte garnicht mehr daran, seine Wanderschaft
wieder aufzunehmen, und auch in dem Hause war hiervon keine Rede. Denn
der Marchese war in seinem Geiste bei viel zu transcendentalen Dingen, um sich
um andre Vorkommnisse zu kümmern, Rebecchini aber war in eine Kommission
nach der Hauptstadt berufen worden, um an einer Reorganisation der Staats¬
archive zu arbeiten, und schrieb nur von Zeit zu Zeit Briefe, in denen er gegen
die verrottete Wirtschaft der frühern Negierung in seiner bekannte» Weise loszog
und auch über die gegenwärtigen Machthaber schimpfte, die sich noch immer
nicht von dem alten Gängelbande befreien könnten.

Francesca und Oswald waren bis zum fünften Gesang des Inferno vor¬
geschritten. Die Marchesina erbat sich die besondre Aufmerksamkeit ihres Hörers
für das unglückliche Geschick ihrer Landsgenossin, mit welcher sie den Namen
teilte. Oswald hatte den Pinsel weggelegt und lehnte sich an die Staffelei.
Francesca begann jene rührenden Verse, wie zwei Geister in inniger Umschlingung
von dem Sturme umhergepeitscht wurden, und der Dichter, von tiefem Mitleid
zu ihnen ergriffen, sie bittet, ihm die Geschichte ihrer Leiden nicht vorzuent¬
halten.


Hilali volombs aut äisio een^mÄs
Oon I'lui axsrto o torno, si äoles niäo
Vollen xsr l'avr etat voloro xort^te.

Gleich wie ein Taubenpaar die Lüfte teilt,
Wenns mit weit ausgespreizten breiten Schwingen
Zum süßen Nest herab voll Sehnsucht eilt.

Mit diesen Versen begann Francesca und fuhr dann fort: So entringen sich
die Unglücklichen, dem beschwörenden Rufe des Dichters zu folgen, dem Schwarm
ihrer Leidensgefährten. Aber jetzt merket, Signor, wie der Dichter in feinster
Empfindung die Geschichte ihrer Leiden von Francesca erzählen läßt, während
der Geliebte weinend zuhört. Wohl könnte man glauben, daß es geziemender
gewesen wäre, wenn nicht die Frau dem fragenden Dichter, sondern der Mann
dem Manne von den Leiden der Liebe erzählte. Aber so wird nicht urteilen,
wer den hohen und edeln Geist des Dichters kennt. Denn indem er die Er¬
zählung der Francesca in den Mund legt, zeigt er uns Lesern einen neuen
Beweis für die hingebende und opfervolle Liebe der Unglücklichen, die auch noch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/417>, abgerufen am 28.07.2024.