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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit.

gestoßen seien. Herrn Nordaus "intensiver Mensch" ist also nach jahrtausendelangem
Fortschritt damit beschäftigt, den Ast abzusägen, auf welchem er selber mit alle"
Logikern seit Aristoteles sitzt. Was Kants "allcszermalmende" Revolution der
Metaphysik betrifft, so hat er nichts vorgebracht, was nicht der Sophist
Protagoras schon viel feiner gesagt hätte. Nur zum kategorischen Imperativ
des unterthänig gehorsamsten Dieners des Ministers von Zedlitz hat sich der
freigeborene stolze Grieche nicht herabgelassen. Nur flüchtig berühre" will ich
kleine Widersprüche, wie die, daß auf S. 411 von Frieden und Stille in der
Seele als von etwas Wünschenswertem gesprochen, dagegen S. 49 ff. die Exi¬
stenz der Seele geleugnet wird; ferner den Gebrauch der Wörter Lüge, Wahr¬
heit, Gerechtigkeit, Ideal. Protagoras, der Abderite, würde hier lächelnd
fragen: "Wie meinst du das, mein Freund? Du hast doch den von mir auf-
gestellten Satz angenommen, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, der
seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind. Denn süß ist ja
nicht das Ding an sich, sondern mir oder dir ist es süß, und ebenso warm und
kalt, und ebenso gerecht und ungerecht, und ebenso wahr und falsch. Und alles,
wovon wir lächerlich sagen, es sei so, das ist vielmehr nur Phänomen. Hättest
du deshalb nicht auch logischer deinem Buche den Titel gegeben: Die Erschei¬
nung der Kulturmenschheit nach meinem Urteil? Aber du dachtest wohl, dein
Titel passe besser auf den Markt, und diesen Grund muß ich als Sophist
billigen."

Alle Widersprüche des Herrn Nordau lassen sich nun auf einen Zentralpunkt
zurückführen, und indem ich diesen beleuchte, fasse ich das eigentliche Wesen seines
Buches ins Auge. Der Verfasser will, indem er unsre Kulturzustände sämtlich
für Lüge erklärt, die Welt aus den Angeln heben, aber wo ist der Archimedes-
Standvunkt, von dem aus er seinen Hebel ansetzt? Archimedes war so ver¬
ständig, zu seinem Experiment einen Standort außerhalb der Erde zu verlangen.
Eine jede echte Wissenschaft ist voraussetzungslos, und wenn irgendwo, so muß
bei der Untersuchung, welche der Verfasser anstellt, völlige Voraussetzungslosig-
keit herrschen, denn sie ist die erhabenste von allen wissenschaftlichen Unter¬
suchungen, sie richtet sich auf die letzten von uns erkennbaren Gründe aller Dinge.
Aber der Verfasser hat seinen Standort nicht wie Archimedes gewählt, sondern
er steht in eben der Welt, welche er von der Stelle rücken möchte. Er geht
von einer ganz bestimmten Voraussetzung aus, nämlich davon, daß die Ergeb¬
nisse der modernen Naturforschung richtig seien. Er geht vom Kampf ums
Dasein und von der natürlichen Zuchtwahl ans. Das heißt mit andern Worten,
er appellirt nicht an die Vernunft, um seine Theorie zu beweisen, fondern er
erklärt das, was er für richtig hält, für Wahrheit und alles andre für Lüge.
Er legt seinen Standpunkt ganz offenkundig S. 30 ff. dar, wo es heißt: "Unsre
Weltanschauung ist die naturwissenschaftliche. Wir fassen den Kosmos als eine
Stoffmasse auf, welche als Attribut die Bewegung hat, die, im Grunde eine


Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit.

gestoßen seien. Herrn Nordaus „intensiver Mensch" ist also nach jahrtausendelangem
Fortschritt damit beschäftigt, den Ast abzusägen, auf welchem er selber mit alle»
Logikern seit Aristoteles sitzt. Was Kants „allcszermalmende" Revolution der
Metaphysik betrifft, so hat er nichts vorgebracht, was nicht der Sophist
Protagoras schon viel feiner gesagt hätte. Nur zum kategorischen Imperativ
des unterthänig gehorsamsten Dieners des Ministers von Zedlitz hat sich der
freigeborene stolze Grieche nicht herabgelassen. Nur flüchtig berühre» will ich
kleine Widersprüche, wie die, daß auf S. 411 von Frieden und Stille in der
Seele als von etwas Wünschenswertem gesprochen, dagegen S. 49 ff. die Exi¬
stenz der Seele geleugnet wird; ferner den Gebrauch der Wörter Lüge, Wahr¬
heit, Gerechtigkeit, Ideal. Protagoras, der Abderite, würde hier lächelnd
fragen: „Wie meinst du das, mein Freund? Du hast doch den von mir auf-
gestellten Satz angenommen, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, der
seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind. Denn süß ist ja
nicht das Ding an sich, sondern mir oder dir ist es süß, und ebenso warm und
kalt, und ebenso gerecht und ungerecht, und ebenso wahr und falsch. Und alles,
wovon wir lächerlich sagen, es sei so, das ist vielmehr nur Phänomen. Hättest
du deshalb nicht auch logischer deinem Buche den Titel gegeben: Die Erschei¬
nung der Kulturmenschheit nach meinem Urteil? Aber du dachtest wohl, dein
Titel passe besser auf den Markt, und diesen Grund muß ich als Sophist
billigen."

Alle Widersprüche des Herrn Nordau lassen sich nun auf einen Zentralpunkt
zurückführen, und indem ich diesen beleuchte, fasse ich das eigentliche Wesen seines
Buches ins Auge. Der Verfasser will, indem er unsre Kulturzustände sämtlich
für Lüge erklärt, die Welt aus den Angeln heben, aber wo ist der Archimedes-
Standvunkt, von dem aus er seinen Hebel ansetzt? Archimedes war so ver¬
ständig, zu seinem Experiment einen Standort außerhalb der Erde zu verlangen.
Eine jede echte Wissenschaft ist voraussetzungslos, und wenn irgendwo, so muß
bei der Untersuchung, welche der Verfasser anstellt, völlige Voraussetzungslosig-
keit herrschen, denn sie ist die erhabenste von allen wissenschaftlichen Unter¬
suchungen, sie richtet sich auf die letzten von uns erkennbaren Gründe aller Dinge.
Aber der Verfasser hat seinen Standort nicht wie Archimedes gewählt, sondern
er steht in eben der Welt, welche er von der Stelle rücken möchte. Er geht
von einer ganz bestimmten Voraussetzung aus, nämlich davon, daß die Ergeb¬
nisse der modernen Naturforschung richtig seien. Er geht vom Kampf ums
Dasein und von der natürlichen Zuchtwahl ans. Das heißt mit andern Worten,
er appellirt nicht an die Vernunft, um seine Theorie zu beweisen, fondern er
erklärt das, was er für richtig hält, für Wahrheit und alles andre für Lüge.
Er legt seinen Standpunkt ganz offenkundig S. 30 ff. dar, wo es heißt: „Unsre
Weltanschauung ist die naturwissenschaftliche. Wir fassen den Kosmos als eine
Stoffmasse auf, welche als Attribut die Bewegung hat, die, im Grunde eine


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[0402] Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit. gestoßen seien. Herrn Nordaus „intensiver Mensch" ist also nach jahrtausendelangem Fortschritt damit beschäftigt, den Ast abzusägen, auf welchem er selber mit alle» Logikern seit Aristoteles sitzt. Was Kants „allcszermalmende" Revolution der Metaphysik betrifft, so hat er nichts vorgebracht, was nicht der Sophist Protagoras schon viel feiner gesagt hätte. Nur zum kategorischen Imperativ des unterthänig gehorsamsten Dieners des Ministers von Zedlitz hat sich der freigeborene stolze Grieche nicht herabgelassen. Nur flüchtig berühre» will ich kleine Widersprüche, wie die, daß auf S. 411 von Frieden und Stille in der Seele als von etwas Wünschenswertem gesprochen, dagegen S. 49 ff. die Exi¬ stenz der Seele geleugnet wird; ferner den Gebrauch der Wörter Lüge, Wahr¬ heit, Gerechtigkeit, Ideal. Protagoras, der Abderite, würde hier lächelnd fragen: „Wie meinst du das, mein Freund? Du hast doch den von mir auf- gestellten Satz angenommen, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind. Denn süß ist ja nicht das Ding an sich, sondern mir oder dir ist es süß, und ebenso warm und kalt, und ebenso gerecht und ungerecht, und ebenso wahr und falsch. Und alles, wovon wir lächerlich sagen, es sei so, das ist vielmehr nur Phänomen. Hättest du deshalb nicht auch logischer deinem Buche den Titel gegeben: Die Erschei¬ nung der Kulturmenschheit nach meinem Urteil? Aber du dachtest wohl, dein Titel passe besser auf den Markt, und diesen Grund muß ich als Sophist billigen." Alle Widersprüche des Herrn Nordau lassen sich nun auf einen Zentralpunkt zurückführen, und indem ich diesen beleuchte, fasse ich das eigentliche Wesen seines Buches ins Auge. Der Verfasser will, indem er unsre Kulturzustände sämtlich für Lüge erklärt, die Welt aus den Angeln heben, aber wo ist der Archimedes- Standvunkt, von dem aus er seinen Hebel ansetzt? Archimedes war so ver¬ ständig, zu seinem Experiment einen Standort außerhalb der Erde zu verlangen. Eine jede echte Wissenschaft ist voraussetzungslos, und wenn irgendwo, so muß bei der Untersuchung, welche der Verfasser anstellt, völlige Voraussetzungslosig- keit herrschen, denn sie ist die erhabenste von allen wissenschaftlichen Unter¬ suchungen, sie richtet sich auf die letzten von uns erkennbaren Gründe aller Dinge. Aber der Verfasser hat seinen Standort nicht wie Archimedes gewählt, sondern er steht in eben der Welt, welche er von der Stelle rücken möchte. Er geht von einer ganz bestimmten Voraussetzung aus, nämlich davon, daß die Ergeb¬ nisse der modernen Naturforschung richtig seien. Er geht vom Kampf ums Dasein und von der natürlichen Zuchtwahl ans. Das heißt mit andern Worten, er appellirt nicht an die Vernunft, um seine Theorie zu beweisen, fondern er erklärt das, was er für richtig hält, für Wahrheit und alles andre für Lüge. Er legt seinen Standpunkt ganz offenkundig S. 30 ff. dar, wo es heißt: „Unsre Weltanschauung ist die naturwissenschaftliche. Wir fassen den Kosmos als eine Stoffmasse auf, welche als Attribut die Bewegung hat, die, im Grunde eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/402>, abgerufen am 01.09.2024.