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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die konventionellen Lügen der Aulturmenschheit.
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Lüge. S. Die wirtschaftliche Lüge. 6. Die Ehelüge. 7. Allerhand kleinere Lügen.
8. Schlußharmonie. Er zeigt in diesen Abschnitten, daß alles, alles, was uns
pmgiebt, Lüge ist, daß alle unsre Einrichtungen faul sind, und daß alles, was
öffentlich in Religion, Politik, Nationalökonomie und allen den Dingen, die
unser Leben angehen, als Wahrheit gelehrt wird, falsch ist. Dabei aber erklärt
er immer wieder unsre Bildung für etwas gutes. Schon auf der ersten Seite
wurde ich hierdurch betroffen und las sie mehrere male, in der Meinung, ich
hätte nicht recht verstanden. Aber es steht da ganz deutlich: "Bildung und
Gesittung breiten sich aus und nehmen von den wildesten Weltgegenden Besitz.
Wo gestern noch Finsternis herrschte, da stammen heute Sonnen. Jeder Tag
sieht eine neue wunderbare Erfindung emporsprießen, welche die Erde wohn¬
licher, die Widerwärtigkeiten des Daseins erträglicher, die dem Menschenleben
gewährten Befriedigungen maiinichfaltiger und eindringlicher macht." Und in
seiner "wirtschaftlichen Lüge" erklärt er es (vergl. S. 258 ff.) für das größte
Unglück des Proletariers, daß er keinen Teil habe an der Bildung, sondern
daß diese nur für den Wohlhabenden sei. Ist darin Sinn und Verstand?
Wenn unsre Bildung eine Lüge ist. so sollte er doch den Proletarier glücklich
schätzen, daß er unbelogen bleibt- Ein sehr glänzender Geist, den auch der Ver¬
fasser kennt, Ferdinand Lassalle, hätte ihn in diesem Punkte belehren können.
Lassalle war konsequent. Er wies die ihm angebotene Professur zurück, lachte
über die Bildung der "besseren Stände" und erklärte, daß derjenige, der das
Volk kennen gelernt habe, keine Lust mehr verspüre, mit den verdorbenen, ver¬
flachten und verlogenen BildungMenschey zu verkehren. Dieser Widerspruch bei
Herrn Nordau ist wohl geeignet, den Wert seines ganzen Buches in Frage zu
stellen, denn er beherrscht das Ganze. Und noch einen besondern Punkt will
ich herausgreifen: der Verfasser hat eine große Verehrung für Kant. Er nennt
ihn unter seiner "Psychologie des Urmenschen" Nicht beim Namen, aber er sagt
(S- 42--43): "Erst nach mehreren Jahrtausenden der Zivilisation, erst unge¬
zählte Generationen nach so umfassenden Denkern wie Pythagoras, Sokrates
und Plato gelangte ein intensiver Mensch dazu, gewisse Vorstellungen als nicht
wesenhaft, als bloße Formen oder Kategorien unsers Denkens zu erkennen."
Nun wird allerdings mit Kant jetzt Kultus getrieben, aber ich denke, ein so
radikaler Skeptiker wie Herr Nordau sollte mit seiner Verehrung sparsam um¬
gehen. Weiß der Verfasser wohl, woher Kant seine berühmten Kategorien hat?
Hat Kant eine Methode entdeckt, sie abzuleiten? Er hat sich bei ihrer Auf¬
zählung nach der Tafel der Urteilsformen gerichtet, welche ihm in dem vom
königlich preußischen Unterrichtsministerium vorgeschriebenen Handbuche der
Logik vorlag. Diese Einteilung der Urteile aber, welche er auf Glauben an¬
nahm, ist aus dem Aristoteles gezogen, was Kant, der die Griechen überhaupt
nur oberflächlich kannte, unmöglich gewußt haben kann, da er dem Aristoteles
vorwirft, er habe seine Kategorien ohne Prinzipium aufgerafft wie sie ihm auf-


Die konventionellen Lügen der Aulturmenschheit.
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Lüge. S. Die wirtschaftliche Lüge. 6. Die Ehelüge. 7. Allerhand kleinere Lügen.
8. Schlußharmonie. Er zeigt in diesen Abschnitten, daß alles, alles, was uns
pmgiebt, Lüge ist, daß alle unsre Einrichtungen faul sind, und daß alles, was
öffentlich in Religion, Politik, Nationalökonomie und allen den Dingen, die
unser Leben angehen, als Wahrheit gelehrt wird, falsch ist. Dabei aber erklärt
er immer wieder unsre Bildung für etwas gutes. Schon auf der ersten Seite
wurde ich hierdurch betroffen und las sie mehrere male, in der Meinung, ich
hätte nicht recht verstanden. Aber es steht da ganz deutlich: „Bildung und
Gesittung breiten sich aus und nehmen von den wildesten Weltgegenden Besitz.
Wo gestern noch Finsternis herrschte, da stammen heute Sonnen. Jeder Tag
sieht eine neue wunderbare Erfindung emporsprießen, welche die Erde wohn¬
licher, die Widerwärtigkeiten des Daseins erträglicher, die dem Menschenleben
gewährten Befriedigungen maiinichfaltiger und eindringlicher macht." Und in
seiner „wirtschaftlichen Lüge" erklärt er es (vergl. S. 258 ff.) für das größte
Unglück des Proletariers, daß er keinen Teil habe an der Bildung, sondern
daß diese nur für den Wohlhabenden sei. Ist darin Sinn und Verstand?
Wenn unsre Bildung eine Lüge ist. so sollte er doch den Proletarier glücklich
schätzen, daß er unbelogen bleibt- Ein sehr glänzender Geist, den auch der Ver¬
fasser kennt, Ferdinand Lassalle, hätte ihn in diesem Punkte belehren können.
Lassalle war konsequent. Er wies die ihm angebotene Professur zurück, lachte
über die Bildung der „besseren Stände" und erklärte, daß derjenige, der das
Volk kennen gelernt habe, keine Lust mehr verspüre, mit den verdorbenen, ver¬
flachten und verlogenen BildungMenschey zu verkehren. Dieser Widerspruch bei
Herrn Nordau ist wohl geeignet, den Wert seines ganzen Buches in Frage zu
stellen, denn er beherrscht das Ganze. Und noch einen besondern Punkt will
ich herausgreifen: der Verfasser hat eine große Verehrung für Kant. Er nennt
ihn unter seiner „Psychologie des Urmenschen" Nicht beim Namen, aber er sagt
(S- 42—43): „Erst nach mehreren Jahrtausenden der Zivilisation, erst unge¬
zählte Generationen nach so umfassenden Denkern wie Pythagoras, Sokrates
und Plato gelangte ein intensiver Mensch dazu, gewisse Vorstellungen als nicht
wesenhaft, als bloße Formen oder Kategorien unsers Denkens zu erkennen."
Nun wird allerdings mit Kant jetzt Kultus getrieben, aber ich denke, ein so
radikaler Skeptiker wie Herr Nordau sollte mit seiner Verehrung sparsam um¬
gehen. Weiß der Verfasser wohl, woher Kant seine berühmten Kategorien hat?
Hat Kant eine Methode entdeckt, sie abzuleiten? Er hat sich bei ihrer Auf¬
zählung nach der Tafel der Urteilsformen gerichtet, welche ihm in dem vom
königlich preußischen Unterrichtsministerium vorgeschriebenen Handbuche der
Logik vorlag. Diese Einteilung der Urteile aber, welche er auf Glauben an¬
nahm, ist aus dem Aristoteles gezogen, was Kant, der die Griechen überhaupt
nur oberflächlich kannte, unmöglich gewußt haben kann, da er dem Aristoteles
vorwirft, er habe seine Kategorien ohne Prinzipium aufgerafft wie sie ihm auf-


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[0401] Die konventionellen Lügen der Aulturmenschheit. ^''" Lüge. S. Die wirtschaftliche Lüge. 6. Die Ehelüge. 7. Allerhand kleinere Lügen. 8. Schlußharmonie. Er zeigt in diesen Abschnitten, daß alles, alles, was uns pmgiebt, Lüge ist, daß alle unsre Einrichtungen faul sind, und daß alles, was öffentlich in Religion, Politik, Nationalökonomie und allen den Dingen, die unser Leben angehen, als Wahrheit gelehrt wird, falsch ist. Dabei aber erklärt er immer wieder unsre Bildung für etwas gutes. Schon auf der ersten Seite wurde ich hierdurch betroffen und las sie mehrere male, in der Meinung, ich hätte nicht recht verstanden. Aber es steht da ganz deutlich: „Bildung und Gesittung breiten sich aus und nehmen von den wildesten Weltgegenden Besitz. Wo gestern noch Finsternis herrschte, da stammen heute Sonnen. Jeder Tag sieht eine neue wunderbare Erfindung emporsprießen, welche die Erde wohn¬ licher, die Widerwärtigkeiten des Daseins erträglicher, die dem Menschenleben gewährten Befriedigungen maiinichfaltiger und eindringlicher macht." Und in seiner „wirtschaftlichen Lüge" erklärt er es (vergl. S. 258 ff.) für das größte Unglück des Proletariers, daß er keinen Teil habe an der Bildung, sondern daß diese nur für den Wohlhabenden sei. Ist darin Sinn und Verstand? Wenn unsre Bildung eine Lüge ist. so sollte er doch den Proletarier glücklich schätzen, daß er unbelogen bleibt- Ein sehr glänzender Geist, den auch der Ver¬ fasser kennt, Ferdinand Lassalle, hätte ihn in diesem Punkte belehren können. Lassalle war konsequent. Er wies die ihm angebotene Professur zurück, lachte über die Bildung der „besseren Stände" und erklärte, daß derjenige, der das Volk kennen gelernt habe, keine Lust mehr verspüre, mit den verdorbenen, ver¬ flachten und verlogenen BildungMenschey zu verkehren. Dieser Widerspruch bei Herrn Nordau ist wohl geeignet, den Wert seines ganzen Buches in Frage zu stellen, denn er beherrscht das Ganze. Und noch einen besondern Punkt will ich herausgreifen: der Verfasser hat eine große Verehrung für Kant. Er nennt ihn unter seiner „Psychologie des Urmenschen" Nicht beim Namen, aber er sagt (S- 42—43): „Erst nach mehreren Jahrtausenden der Zivilisation, erst unge¬ zählte Generationen nach so umfassenden Denkern wie Pythagoras, Sokrates und Plato gelangte ein intensiver Mensch dazu, gewisse Vorstellungen als nicht wesenhaft, als bloße Formen oder Kategorien unsers Denkens zu erkennen." Nun wird allerdings mit Kant jetzt Kultus getrieben, aber ich denke, ein so radikaler Skeptiker wie Herr Nordau sollte mit seiner Verehrung sparsam um¬ gehen. Weiß der Verfasser wohl, woher Kant seine berühmten Kategorien hat? Hat Kant eine Methode entdeckt, sie abzuleiten? Er hat sich bei ihrer Auf¬ zählung nach der Tafel der Urteilsformen gerichtet, welche ihm in dem vom königlich preußischen Unterrichtsministerium vorgeschriebenen Handbuche der Logik vorlag. Diese Einteilung der Urteile aber, welche er auf Glauben an¬ nahm, ist aus dem Aristoteles gezogen, was Kant, der die Griechen überhaupt nur oberflächlich kannte, unmöglich gewußt haben kann, da er dem Aristoteles vorwirft, er habe seine Kategorien ohne Prinzipium aufgerafft wie sie ihm auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/401>, abgerufen am 28.07.2024.