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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die konventionellen Lügen der Rnltnrmenschheit.

einzige, uns in der Form verschiedener Kräfte zur Wahrnehmung gelangt. Die
Bewegung sehen wir von bestimmten Gesetzen regiert, die wir zum Teil erkannt,
definirt, experimentell erprobt haben, denen wir zum andern Teil auf der Spur
sind, die wir für unwandelbar halten und von denen wir keine Ausnahme
kennen :e. Das ist unsre Weltcmschaung, Aus ihr ergeben sich all unsre
Lebensgrundsätze und unsre Rechts- und Moralcmfassung:c."

Ich denke, wenn man einen Preis für die unsolideste Fundamentirung aus¬
schriebe, so würde Herr Nordau ihn gewinnen. Jemand möchte Seifenblasen
vorbringen, aber er würde in seiner Hoffnung, damit zu siegen, betrogen werden.
Denn die Seifenblasen sind wenigstens in ihrer Art vollständig, aber das Nor-
dausche Fundament ist, wie er sagt, zum Teil erst erkannt, zum Teil ist man
ihm nur auf der Spur. Aber selbst angenommen, die Ergebnisse der modernen
Naturforschung wären vollständig und unbestreitbar -- wenn ich höre, welches
Gebäude sich heutzutage auf diesen Ergebnissen aufbaut, so scheinen mir ver¬
schiedene Denker aus dem siebenten, sechsten und fünften Jahrhundert vor Christi
Geburt schon weiter in der Erkenntnis gewesen zu sein. Denn Heraklit z. B.
und ebenso Anaximenes und Thales und Anaxagoras, welche das Feuer, die
Luft, das Wasser, die Bewegung, den Fluß der Dinge, den Kampf für die
Prinzipien des Weltganzen erklärten, bewiesen schon philosophische Kraft, indem
sie sinncufüllige Gegenstände von abstrakten Begriffen zu unterscheiden wußten.
So finden sich denn manche Stellen in unserm Buche, bei denen man mit Be¬
dauern an das Gvethische Wort erinnert wird:


Ihr von xlus ultra, jeder Zeit
War: Gott zu lästern -und den Dreck zu preisen.

Ans dem wunderlichen Chaos, welches in dem vorliegenden Buche infolge
mangelnder philosophischer Schulung entstanden ist, taucht gewissermaßen als
Gegenprobe der Vortrefflichkeit seiner aufgestellten Thesen eine Schilderung der
Zukunft auf, wie sie sich ergeben würde, wenn die obenerwähnten naturwissenschaft¬
lichen Ergebnisse die heute herrschenden konventionellen Lügen beseitigt hätten.
Es heißt S. 66 ff.:

Einer vielleicht nahen Zukunft ist es vorbehalten, eine Zivilisation zu sehen,
in der die Menschen ihr Bedürfnis nach Erholung, nach Erhebung, nach gemein¬
samen Emotionen und nach menschlicher Solidarität nicht mehr transcendental,
sondern vernünftig befriedigen. Mit einem Zurückgreifen auf Uraltes, Längst¬
vergangenes, wie es die Kulturgeschichte nicht selten verzeichnet, wird das Theater
wieder wie in seinen griechischen Anfängen vor dritthalbtausend Jahren eine Kultus-
statte der Menschen sein, allerdings ein Theater, das nicht von der Zote, der
Gusscnhauermelodie, dem beschränkten Gelächter, der lüsternen Halbnacktheit beherrscht
sein, sondern wo man in schöner Verkörperung die Leidenschaften mit dem Willen
und die Selbstsucht mit der Entsagungsfähigkeit ringen sehen und aus allen Reden
wie ein ewiges Grundmotiv den Hinweis auf das Gesamtdasein der Menschheit


Grenzboten IV 1883. S0
Die konventionellen Lügen der Rnltnrmenschheit.

einzige, uns in der Form verschiedener Kräfte zur Wahrnehmung gelangt. Die
Bewegung sehen wir von bestimmten Gesetzen regiert, die wir zum Teil erkannt,
definirt, experimentell erprobt haben, denen wir zum andern Teil auf der Spur
sind, die wir für unwandelbar halten und von denen wir keine Ausnahme
kennen :e. Das ist unsre Weltcmschaung, Aus ihr ergeben sich all unsre
Lebensgrundsätze und unsre Rechts- und Moralcmfassung:c."

Ich denke, wenn man einen Preis für die unsolideste Fundamentirung aus¬
schriebe, so würde Herr Nordau ihn gewinnen. Jemand möchte Seifenblasen
vorbringen, aber er würde in seiner Hoffnung, damit zu siegen, betrogen werden.
Denn die Seifenblasen sind wenigstens in ihrer Art vollständig, aber das Nor-
dausche Fundament ist, wie er sagt, zum Teil erst erkannt, zum Teil ist man
ihm nur auf der Spur. Aber selbst angenommen, die Ergebnisse der modernen
Naturforschung wären vollständig und unbestreitbar — wenn ich höre, welches
Gebäude sich heutzutage auf diesen Ergebnissen aufbaut, so scheinen mir ver¬
schiedene Denker aus dem siebenten, sechsten und fünften Jahrhundert vor Christi
Geburt schon weiter in der Erkenntnis gewesen zu sein. Denn Heraklit z. B.
und ebenso Anaximenes und Thales und Anaxagoras, welche das Feuer, die
Luft, das Wasser, die Bewegung, den Fluß der Dinge, den Kampf für die
Prinzipien des Weltganzen erklärten, bewiesen schon philosophische Kraft, indem
sie sinncufüllige Gegenstände von abstrakten Begriffen zu unterscheiden wußten.
So finden sich denn manche Stellen in unserm Buche, bei denen man mit Be¬
dauern an das Gvethische Wort erinnert wird:


Ihr von xlus ultra, jeder Zeit
War: Gott zu lästern -und den Dreck zu preisen.

Ans dem wunderlichen Chaos, welches in dem vorliegenden Buche infolge
mangelnder philosophischer Schulung entstanden ist, taucht gewissermaßen als
Gegenprobe der Vortrefflichkeit seiner aufgestellten Thesen eine Schilderung der
Zukunft auf, wie sie sich ergeben würde, wenn die obenerwähnten naturwissenschaft¬
lichen Ergebnisse die heute herrschenden konventionellen Lügen beseitigt hätten.
Es heißt S. 66 ff.:

Einer vielleicht nahen Zukunft ist es vorbehalten, eine Zivilisation zu sehen,
in der die Menschen ihr Bedürfnis nach Erholung, nach Erhebung, nach gemein¬
samen Emotionen und nach menschlicher Solidarität nicht mehr transcendental,
sondern vernünftig befriedigen. Mit einem Zurückgreifen auf Uraltes, Längst¬
vergangenes, wie es die Kulturgeschichte nicht selten verzeichnet, wird das Theater
wieder wie in seinen griechischen Anfängen vor dritthalbtausend Jahren eine Kultus-
statte der Menschen sein, allerdings ein Theater, das nicht von der Zote, der
Gusscnhauermelodie, dem beschränkten Gelächter, der lüsternen Halbnacktheit beherrscht
sein, sondern wo man in schöner Verkörperung die Leidenschaften mit dem Willen
und die Selbstsucht mit der Entsagungsfähigkeit ringen sehen und aus allen Reden
wie ein ewiges Grundmotiv den Hinweis auf das Gesamtdasein der Menschheit


Grenzboten IV 1883. S0
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[0403] Die konventionellen Lügen der Rnltnrmenschheit. einzige, uns in der Form verschiedener Kräfte zur Wahrnehmung gelangt. Die Bewegung sehen wir von bestimmten Gesetzen regiert, die wir zum Teil erkannt, definirt, experimentell erprobt haben, denen wir zum andern Teil auf der Spur sind, die wir für unwandelbar halten und von denen wir keine Ausnahme kennen :e. Das ist unsre Weltcmschaung, Aus ihr ergeben sich all unsre Lebensgrundsätze und unsre Rechts- und Moralcmfassung:c." Ich denke, wenn man einen Preis für die unsolideste Fundamentirung aus¬ schriebe, so würde Herr Nordau ihn gewinnen. Jemand möchte Seifenblasen vorbringen, aber er würde in seiner Hoffnung, damit zu siegen, betrogen werden. Denn die Seifenblasen sind wenigstens in ihrer Art vollständig, aber das Nor- dausche Fundament ist, wie er sagt, zum Teil erst erkannt, zum Teil ist man ihm nur auf der Spur. Aber selbst angenommen, die Ergebnisse der modernen Naturforschung wären vollständig und unbestreitbar — wenn ich höre, welches Gebäude sich heutzutage auf diesen Ergebnissen aufbaut, so scheinen mir ver¬ schiedene Denker aus dem siebenten, sechsten und fünften Jahrhundert vor Christi Geburt schon weiter in der Erkenntnis gewesen zu sein. Denn Heraklit z. B. und ebenso Anaximenes und Thales und Anaxagoras, welche das Feuer, die Luft, das Wasser, die Bewegung, den Fluß der Dinge, den Kampf für die Prinzipien des Weltganzen erklärten, bewiesen schon philosophische Kraft, indem sie sinncufüllige Gegenstände von abstrakten Begriffen zu unterscheiden wußten. So finden sich denn manche Stellen in unserm Buche, bei denen man mit Be¬ dauern an das Gvethische Wort erinnert wird: Ihr von xlus ultra, jeder Zeit War: Gott zu lästern -und den Dreck zu preisen. Ans dem wunderlichen Chaos, welches in dem vorliegenden Buche infolge mangelnder philosophischer Schulung entstanden ist, taucht gewissermaßen als Gegenprobe der Vortrefflichkeit seiner aufgestellten Thesen eine Schilderung der Zukunft auf, wie sie sich ergeben würde, wenn die obenerwähnten naturwissenschaft¬ lichen Ergebnisse die heute herrschenden konventionellen Lügen beseitigt hätten. Es heißt S. 66 ff.: Einer vielleicht nahen Zukunft ist es vorbehalten, eine Zivilisation zu sehen, in der die Menschen ihr Bedürfnis nach Erholung, nach Erhebung, nach gemein¬ samen Emotionen und nach menschlicher Solidarität nicht mehr transcendental, sondern vernünftig befriedigen. Mit einem Zurückgreifen auf Uraltes, Längst¬ vergangenes, wie es die Kulturgeschichte nicht selten verzeichnet, wird das Theater wieder wie in seinen griechischen Anfängen vor dritthalbtausend Jahren eine Kultus- statte der Menschen sein, allerdings ein Theater, das nicht von der Zote, der Gusscnhauermelodie, dem beschränkten Gelächter, der lüsternen Halbnacktheit beherrscht sein, sondern wo man in schöner Verkörperung die Leidenschaften mit dem Willen und die Selbstsucht mit der Entsagungsfähigkeit ringen sehen und aus allen Reden wie ein ewiges Grundmotiv den Hinweis auf das Gesamtdasein der Menschheit Grenzboten IV 1883. S0

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/403>, abgerufen am 28.07.2024.