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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Botho von Hülsen und seine Leute.

Wegs. Weit eher möchte das Gegenteil der Fall sein. Daß von der Leitung
in der Auswahl von Stücken und in der Ergänzung des Personals Fehler ge¬
macht worden sein mögen, wird kein kundiger Beobachter in Abrede stellen
wollen, wohl aber, daß es deren so viele und so erhebliche gegeben habe, um
den Verfasser zu einem so radikal vernichtenden Spruch über das ganze Kunst¬
institut und dessen Leitung zu berechtigen, wie es in den folgenden Sätzen ent¬
halten ist: "Daß es im Berliner Schauspielhause, welches das Publikum der
Reichshauptstadt und der Kaiserresidenz zu sich einladet, das Bewußtsein einer
solchen künstlerischen Pflicht öden Geiste des dramatischen Dichtwerks gerecht zu
werden^ überhaupt fehlt, kann der Stand des Repertoires und kann die Summe
der dort verwendeten schauspielerischen Kräfte lehren," und: "Beim bessern Ber¬
liner Theaterpublikum sind die klassischen Vorstellungen des Schauspielhauses
schon längst in einen gelinden Bann gethan; wenn zwei literarisch Gebildete
einander dort begegnen, so schlagen sie wie verschämt die Augen nieder, als
hätten sie sich auf einer Dummheit ertappt."

Gerade dort, wo der gebildete Mittelstand im Theaterraum feine Plätze
zu wählen Pflegt, ist stets eine Fülle vorhanden, welche die Erlangung von
Billets nur unter Schwierigkeiten ermöglicht, und daß es ständige Besucher sind,
welche einen bedeutenden Teil der Anwesenden bilden, lehrt die Menge der
Abonnements auf Jahresfrist, die so bedeutend ist, daß z. B. im Parquet stets
nur die acht oder zehn hintersten Reihen disponibel sind. Beleidigt nicht der
Verfasser die tausend Personen, die es für einen Gewinn und eine Gunst erachten,
sich den häufigen Besuch des Hoftheaters zu erlauben, aufs gröblichste? Oder wären
alle diese Leute urteilslose, blöde Böotier? Sind die Kritiker von Ruf und
anerkannter Tüchtigkeit, wie Frenzel und andre, die diese Vorstellungen meistens
anerkennend beurteilen, Thoren oder gar servile Schmeichler, deren Einsicht und
Erfahrung Herr Dr. Paul Schlenther, der dem Jünglingsalter kaum Entronnene,
sich überlegen dünken darf? "Paule, du rasche!" möchte man bei solcher ge¬
hässigen Maßlosigkeit des Urteils ausrufen.

Die Klage über den Rückgang der Theater hört man übrigens in jeder Stadt.
Sie ist so alt wie das Theater selbst. Sogar zu Schillers Zeit, in der klassischen
Periode Weimars, wurde sie vernommen, und derjenige, der sie erhob, war kein
geringerer als Schiller selbst. Nach ihm haben Hunderte sie wiederholt. Man
kann keine Flugschrift, keinen Essay, keinen Jahresrückblick lesen, ohne ihr darin
zu begegnen. Von Tieck bis auf Laube ist sie in unzähligen Variationen laut
geworden. Jeder, der etwas vom Theater zu verstehen glaubte, schien es
für eine unumgängliche Legitimation seiner dramaturgischen Kompetenz zu
erachten, den Verfall der Vühiienkunst zu beklagen. Auch in unsern Tagen
kann man häusig die Erfahrung macheu, daß ältere Theaterbesucher bestündig
mit bitterer Resignation auf die "gute alte Zeit" verweisen und diejenigen für
noch recht "grün" ansehen, die von dem unverzeihlicher Irrtum besessen sind,


Botho von Hülsen und seine Leute.

Wegs. Weit eher möchte das Gegenteil der Fall sein. Daß von der Leitung
in der Auswahl von Stücken und in der Ergänzung des Personals Fehler ge¬
macht worden sein mögen, wird kein kundiger Beobachter in Abrede stellen
wollen, wohl aber, daß es deren so viele und so erhebliche gegeben habe, um
den Verfasser zu einem so radikal vernichtenden Spruch über das ganze Kunst¬
institut und dessen Leitung zu berechtigen, wie es in den folgenden Sätzen ent¬
halten ist: „Daß es im Berliner Schauspielhause, welches das Publikum der
Reichshauptstadt und der Kaiserresidenz zu sich einladet, das Bewußtsein einer
solchen künstlerischen Pflicht öden Geiste des dramatischen Dichtwerks gerecht zu
werden^ überhaupt fehlt, kann der Stand des Repertoires und kann die Summe
der dort verwendeten schauspielerischen Kräfte lehren," und: „Beim bessern Ber¬
liner Theaterpublikum sind die klassischen Vorstellungen des Schauspielhauses
schon längst in einen gelinden Bann gethan; wenn zwei literarisch Gebildete
einander dort begegnen, so schlagen sie wie verschämt die Augen nieder, als
hätten sie sich auf einer Dummheit ertappt."

Gerade dort, wo der gebildete Mittelstand im Theaterraum feine Plätze
zu wählen Pflegt, ist stets eine Fülle vorhanden, welche die Erlangung von
Billets nur unter Schwierigkeiten ermöglicht, und daß es ständige Besucher sind,
welche einen bedeutenden Teil der Anwesenden bilden, lehrt die Menge der
Abonnements auf Jahresfrist, die so bedeutend ist, daß z. B. im Parquet stets
nur die acht oder zehn hintersten Reihen disponibel sind. Beleidigt nicht der
Verfasser die tausend Personen, die es für einen Gewinn und eine Gunst erachten,
sich den häufigen Besuch des Hoftheaters zu erlauben, aufs gröblichste? Oder wären
alle diese Leute urteilslose, blöde Böotier? Sind die Kritiker von Ruf und
anerkannter Tüchtigkeit, wie Frenzel und andre, die diese Vorstellungen meistens
anerkennend beurteilen, Thoren oder gar servile Schmeichler, deren Einsicht und
Erfahrung Herr Dr. Paul Schlenther, der dem Jünglingsalter kaum Entronnene,
sich überlegen dünken darf? „Paule, du rasche!" möchte man bei solcher ge¬
hässigen Maßlosigkeit des Urteils ausrufen.

Die Klage über den Rückgang der Theater hört man übrigens in jeder Stadt.
Sie ist so alt wie das Theater selbst. Sogar zu Schillers Zeit, in der klassischen
Periode Weimars, wurde sie vernommen, und derjenige, der sie erhob, war kein
geringerer als Schiller selbst. Nach ihm haben Hunderte sie wiederholt. Man
kann keine Flugschrift, keinen Essay, keinen Jahresrückblick lesen, ohne ihr darin
zu begegnen. Von Tieck bis auf Laube ist sie in unzähligen Variationen laut
geworden. Jeder, der etwas vom Theater zu verstehen glaubte, schien es
für eine unumgängliche Legitimation seiner dramaturgischen Kompetenz zu
erachten, den Verfall der Vühiienkunst zu beklagen. Auch in unsern Tagen
kann man häusig die Erfahrung macheu, daß ältere Theaterbesucher bestündig
mit bitterer Resignation auf die „gute alte Zeit" verweisen und diejenigen für
noch recht „grün" ansehen, die von dem unverzeihlicher Irrtum besessen sind,


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[0036] Botho von Hülsen und seine Leute. Wegs. Weit eher möchte das Gegenteil der Fall sein. Daß von der Leitung in der Auswahl von Stücken und in der Ergänzung des Personals Fehler ge¬ macht worden sein mögen, wird kein kundiger Beobachter in Abrede stellen wollen, wohl aber, daß es deren so viele und so erhebliche gegeben habe, um den Verfasser zu einem so radikal vernichtenden Spruch über das ganze Kunst¬ institut und dessen Leitung zu berechtigen, wie es in den folgenden Sätzen ent¬ halten ist: „Daß es im Berliner Schauspielhause, welches das Publikum der Reichshauptstadt und der Kaiserresidenz zu sich einladet, das Bewußtsein einer solchen künstlerischen Pflicht öden Geiste des dramatischen Dichtwerks gerecht zu werden^ überhaupt fehlt, kann der Stand des Repertoires und kann die Summe der dort verwendeten schauspielerischen Kräfte lehren," und: „Beim bessern Ber¬ liner Theaterpublikum sind die klassischen Vorstellungen des Schauspielhauses schon längst in einen gelinden Bann gethan; wenn zwei literarisch Gebildete einander dort begegnen, so schlagen sie wie verschämt die Augen nieder, als hätten sie sich auf einer Dummheit ertappt." Gerade dort, wo der gebildete Mittelstand im Theaterraum feine Plätze zu wählen Pflegt, ist stets eine Fülle vorhanden, welche die Erlangung von Billets nur unter Schwierigkeiten ermöglicht, und daß es ständige Besucher sind, welche einen bedeutenden Teil der Anwesenden bilden, lehrt die Menge der Abonnements auf Jahresfrist, die so bedeutend ist, daß z. B. im Parquet stets nur die acht oder zehn hintersten Reihen disponibel sind. Beleidigt nicht der Verfasser die tausend Personen, die es für einen Gewinn und eine Gunst erachten, sich den häufigen Besuch des Hoftheaters zu erlauben, aufs gröblichste? Oder wären alle diese Leute urteilslose, blöde Böotier? Sind die Kritiker von Ruf und anerkannter Tüchtigkeit, wie Frenzel und andre, die diese Vorstellungen meistens anerkennend beurteilen, Thoren oder gar servile Schmeichler, deren Einsicht und Erfahrung Herr Dr. Paul Schlenther, der dem Jünglingsalter kaum Entronnene, sich überlegen dünken darf? „Paule, du rasche!" möchte man bei solcher ge¬ hässigen Maßlosigkeit des Urteils ausrufen. Die Klage über den Rückgang der Theater hört man übrigens in jeder Stadt. Sie ist so alt wie das Theater selbst. Sogar zu Schillers Zeit, in der klassischen Periode Weimars, wurde sie vernommen, und derjenige, der sie erhob, war kein geringerer als Schiller selbst. Nach ihm haben Hunderte sie wiederholt. Man kann keine Flugschrift, keinen Essay, keinen Jahresrückblick lesen, ohne ihr darin zu begegnen. Von Tieck bis auf Laube ist sie in unzähligen Variationen laut geworden. Jeder, der etwas vom Theater zu verstehen glaubte, schien es für eine unumgängliche Legitimation seiner dramaturgischen Kompetenz zu erachten, den Verfall der Vühiienkunst zu beklagen. Auch in unsern Tagen kann man häusig die Erfahrung macheu, daß ältere Theaterbesucher bestündig mit bitterer Resignation auf die „gute alte Zeit" verweisen und diejenigen für noch recht „grün" ansehen, die von dem unverzeihlicher Irrtum besessen sind,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/36>, abgerufen am 27.07.2024.