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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Das neue Aktiengesetz.

Ursachen, denen man teils nicht zu Leibe gehen wollte, teils nicht konnte. Wer mag
sich gern selbst anklagen? So blieb also das Gesetz, die sogenannte Novelle vom
11. Juni 1870, für die berechtigten und unberechtigten Vorwürfe übrig. Jenes
Gesetz nun entstammte der Periode unsrer wirtschaftlichen Reformen, in welcher
die Manchesterschnle unter Anführung Delbrücks wie in der Gewerbeordnung
und andern Gesetzen so auch im Aktienrecht ihre höchsten Triumphe feierte.
Entfesselung der wirtschaftlichen Bewegung von allen Beschränkungen war die
Losung. So hatte man nichts eiligeres zu thun, als die staatliche Genehmi¬
gung und Aufsicht für die Aktiengesellschaften aufzuheben, ohne die entsprechenden
Kautelen an deren Stelle zu setzen. Der Gesetzgeber der Novelle wiegte sich in
dem schönen Traume, daß die Beteiligten am besten ihr Interesse selbst wahr¬
nehmen und daß sich auch hier die entgegengesetzten Kräfte stets im Gleichgewicht
halten würden. In ruhiger Entwicklung würden die Schwächen des Gesetzes
vielleicht nicht so fühlbar geworden sein; allein für solche Zeiten sind die Gesetze
eigentlich überflüssig. Wenn die Menschen sittlich und weise sind, dann brauchen
wir überhaupt keine Vorschriften, jedoch der Ruhm, den Tacitus den Germanen
spendete: ?1us ibi boni morss valönt, aus-rü alioi beinah le^hö, war leider nicht
mehr begründet. Der Übermacht des Kapitals zeigte sich jene Novelle durchaus
nicht gewachsen. Delbrück freilich glaubte, daß kein Gesetz imstande sei, die Leute
vor Schaden zu bewahren, da der Kampf gegen die Dummheit selbst Göttern
unmöglich sei. Deshalb wurden unter seiner Verwaltung die in dem ersten Zorn
nach dem Krach angebahnte Reformen des Aktienrechts wieder bis auf weiteres
vertagt. Es hat dies insoscr" auch etwas Gutes gehabt, als im Zorn weder
der Mensch Entschlüsse fassen noch der Staat Gesetze machen soll. Dagegen
wurde namentlich seit der Übernahme des Reichsjustizamtes durch Herrn von
Schelling die Reform energisch in die Hand genommen. Welchen Weg hat nun
diese eingeschlagen?

Die staatliche Genehmigung und Aufsicht hat sie nicht wieder eingeführt,
hierin schließt sich der neue Entwurf einem allgemeinen Zuge der Welt an. Es
ist bekannt, daß in Österreich trotz des Koiizessionssystcms der Krach nicht minder
verheerend aufgetreten ist als in Deutschland, und daß neben den andern mate¬
riellen und ideellen Schäden die sittliche Haltung des höheren Beamtentums durch
die sogenannte "Trinkgeldcrthcorie" einen schweren Stoß erlitten hat. Auf der
andern Seite ist man in allen zivilistrten Ländern zur Aufhebung der Staats-
genehmigung und -Aufsicht geschritten, wo sie noch bestanden. Daß der Staat
nicht mehr die Genehmigung zur Gründung einer Aktiengesellschaft im allge¬
meinen erteilen soll -- außer wo wie bei Eisenbahnen, Versicherungsgesell¬
schaften u. s. w. Svezialgesetze die Konzession fordern --, scheint nur billigenswert.
Denn für den einzelnen konkreten Fall läßt sich das Bedürfnis nicht vom grünen
Tische ans feststellen. Dagegen wäre ein andres die Aufsicht durch staatliche,
etwa in Verbindung mit den Handelskammern stehende Organe, die auch schon


Das neue Aktiengesetz.

Ursachen, denen man teils nicht zu Leibe gehen wollte, teils nicht konnte. Wer mag
sich gern selbst anklagen? So blieb also das Gesetz, die sogenannte Novelle vom
11. Juni 1870, für die berechtigten und unberechtigten Vorwürfe übrig. Jenes
Gesetz nun entstammte der Periode unsrer wirtschaftlichen Reformen, in welcher
die Manchesterschnle unter Anführung Delbrücks wie in der Gewerbeordnung
und andern Gesetzen so auch im Aktienrecht ihre höchsten Triumphe feierte.
Entfesselung der wirtschaftlichen Bewegung von allen Beschränkungen war die
Losung. So hatte man nichts eiligeres zu thun, als die staatliche Genehmi¬
gung und Aufsicht für die Aktiengesellschaften aufzuheben, ohne die entsprechenden
Kautelen an deren Stelle zu setzen. Der Gesetzgeber der Novelle wiegte sich in
dem schönen Traume, daß die Beteiligten am besten ihr Interesse selbst wahr¬
nehmen und daß sich auch hier die entgegengesetzten Kräfte stets im Gleichgewicht
halten würden. In ruhiger Entwicklung würden die Schwächen des Gesetzes
vielleicht nicht so fühlbar geworden sein; allein für solche Zeiten sind die Gesetze
eigentlich überflüssig. Wenn die Menschen sittlich und weise sind, dann brauchen
wir überhaupt keine Vorschriften, jedoch der Ruhm, den Tacitus den Germanen
spendete: ?1us ibi boni morss valönt, aus-rü alioi beinah le^hö, war leider nicht
mehr begründet. Der Übermacht des Kapitals zeigte sich jene Novelle durchaus
nicht gewachsen. Delbrück freilich glaubte, daß kein Gesetz imstande sei, die Leute
vor Schaden zu bewahren, da der Kampf gegen die Dummheit selbst Göttern
unmöglich sei. Deshalb wurden unter seiner Verwaltung die in dem ersten Zorn
nach dem Krach angebahnte Reformen des Aktienrechts wieder bis auf weiteres
vertagt. Es hat dies insoscr» auch etwas Gutes gehabt, als im Zorn weder
der Mensch Entschlüsse fassen noch der Staat Gesetze machen soll. Dagegen
wurde namentlich seit der Übernahme des Reichsjustizamtes durch Herrn von
Schelling die Reform energisch in die Hand genommen. Welchen Weg hat nun
diese eingeschlagen?

Die staatliche Genehmigung und Aufsicht hat sie nicht wieder eingeführt,
hierin schließt sich der neue Entwurf einem allgemeinen Zuge der Welt an. Es
ist bekannt, daß in Österreich trotz des Koiizessionssystcms der Krach nicht minder
verheerend aufgetreten ist als in Deutschland, und daß neben den andern mate¬
riellen und ideellen Schäden die sittliche Haltung des höheren Beamtentums durch
die sogenannte „Trinkgeldcrthcorie" einen schweren Stoß erlitten hat. Auf der
andern Seite ist man in allen zivilistrten Ländern zur Aufhebung der Staats-
genehmigung und -Aufsicht geschritten, wo sie noch bestanden. Daß der Staat
nicht mehr die Genehmigung zur Gründung einer Aktiengesellschaft im allge¬
meinen erteilen soll — außer wo wie bei Eisenbahnen, Versicherungsgesell¬
schaften u. s. w. Svezialgesetze die Konzession fordern —, scheint nur billigenswert.
Denn für den einzelnen konkreten Fall läßt sich das Bedürfnis nicht vom grünen
Tische ans feststellen. Dagegen wäre ein andres die Aufsicht durch staatliche,
etwa in Verbindung mit den Handelskammern stehende Organe, die auch schon


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[0287] Das neue Aktiengesetz. Ursachen, denen man teils nicht zu Leibe gehen wollte, teils nicht konnte. Wer mag sich gern selbst anklagen? So blieb also das Gesetz, die sogenannte Novelle vom 11. Juni 1870, für die berechtigten und unberechtigten Vorwürfe übrig. Jenes Gesetz nun entstammte der Periode unsrer wirtschaftlichen Reformen, in welcher die Manchesterschnle unter Anführung Delbrücks wie in der Gewerbeordnung und andern Gesetzen so auch im Aktienrecht ihre höchsten Triumphe feierte. Entfesselung der wirtschaftlichen Bewegung von allen Beschränkungen war die Losung. So hatte man nichts eiligeres zu thun, als die staatliche Genehmi¬ gung und Aufsicht für die Aktiengesellschaften aufzuheben, ohne die entsprechenden Kautelen an deren Stelle zu setzen. Der Gesetzgeber der Novelle wiegte sich in dem schönen Traume, daß die Beteiligten am besten ihr Interesse selbst wahr¬ nehmen und daß sich auch hier die entgegengesetzten Kräfte stets im Gleichgewicht halten würden. In ruhiger Entwicklung würden die Schwächen des Gesetzes vielleicht nicht so fühlbar geworden sein; allein für solche Zeiten sind die Gesetze eigentlich überflüssig. Wenn die Menschen sittlich und weise sind, dann brauchen wir überhaupt keine Vorschriften, jedoch der Ruhm, den Tacitus den Germanen spendete: ?1us ibi boni morss valönt, aus-rü alioi beinah le^hö, war leider nicht mehr begründet. Der Übermacht des Kapitals zeigte sich jene Novelle durchaus nicht gewachsen. Delbrück freilich glaubte, daß kein Gesetz imstande sei, die Leute vor Schaden zu bewahren, da der Kampf gegen die Dummheit selbst Göttern unmöglich sei. Deshalb wurden unter seiner Verwaltung die in dem ersten Zorn nach dem Krach angebahnte Reformen des Aktienrechts wieder bis auf weiteres vertagt. Es hat dies insoscr» auch etwas Gutes gehabt, als im Zorn weder der Mensch Entschlüsse fassen noch der Staat Gesetze machen soll. Dagegen wurde namentlich seit der Übernahme des Reichsjustizamtes durch Herrn von Schelling die Reform energisch in die Hand genommen. Welchen Weg hat nun diese eingeschlagen? Die staatliche Genehmigung und Aufsicht hat sie nicht wieder eingeführt, hierin schließt sich der neue Entwurf einem allgemeinen Zuge der Welt an. Es ist bekannt, daß in Österreich trotz des Koiizessionssystcms der Krach nicht minder verheerend aufgetreten ist als in Deutschland, und daß neben den andern mate¬ riellen und ideellen Schäden die sittliche Haltung des höheren Beamtentums durch die sogenannte „Trinkgeldcrthcorie" einen schweren Stoß erlitten hat. Auf der andern Seite ist man in allen zivilistrten Ländern zur Aufhebung der Staats- genehmigung und -Aufsicht geschritten, wo sie noch bestanden. Daß der Staat nicht mehr die Genehmigung zur Gründung einer Aktiengesellschaft im allge¬ meinen erteilen soll — außer wo wie bei Eisenbahnen, Versicherungsgesell¬ schaften u. s. w. Svezialgesetze die Konzession fordern —, scheint nur billigenswert. Denn für den einzelnen konkreten Fall läßt sich das Bedürfnis nicht vom grünen Tische ans feststellen. Dagegen wäre ein andres die Aufsicht durch staatliche, etwa in Verbindung mit den Handelskammern stehende Organe, die auch schon

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/287>, abgerufen am 28.07.2024.