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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe,

Altertum der ungeduldige jüngere Held neben dem erprobten; er muß zurück¬
gehalten werden, er blickt voll Verehrung zu seinem ritterlichen Herrn empor,
dessen Freude an dem Knappen mit jedem Tage steigt; aber ehe noch seine ganze
Kraft entwickelt ist, fällt er in einem blutigen Gemetzel, in das ihn ein unseliger
Zufall geführt, und es ist gut so, denn was hätte ihm die Welt, wie sie
geworden war, bieten können, ihm, dessen Schutzpatron der Ritter Georg, der
Drachentöter, war?

Knaben und Mädchen spielen noch zusammen, und die letztern müssen oft
von der Wildheit der erstem leiden; dann aber trennen sich die Geschlechter:


es bleiben die wachsenden Mädchen
Endlich billig zu Haus und fliehen die wilderen Spiele,

Bald aber kommt der Moment, wo das eben erblühende Mädchen mitten unter
ihren kindischen Gedanken von einer träumerischen Sehnsucht, der sie keinen
Namen zu geben weiß, beschlichen wird (bei Schöll, Briefe und Aufsätze, am
Ende):


das Mädchen pflückt
Die Veilchen aus dem jungen Gras und bückend sieht
Sie heimlich nach dem Busen, sieht mit Seelenfreude
Entfalteter und reizender ihn heute,
Als er vorm Jahr am Maienfest geblüht,
Und fühlt und hofft.

Zu Pandora, dem von der Hand der Natur unmittelbar gebildeten, unberührten
Mädchen, hat Prometheus gesprochen:


Du fühlst an deinem Herzen,
Daß noch der Freuden viele sind,
Der Schmerzen viele,
Die du nicht kennst --

und sie erwiedert:


Wohl, wohl! Dies Herze sehnt sich oft
Ach nirgend hin und überall doch hin!

Ähnlich in "Hans Sachsens poetischer Sendung":


-- sitzt unter einem Apfelbaum
Und spürt die Welt rings um sich kaum,
Hat Rosen in ihren Schoß gepflückt
Und bindet ein Kränzlein sehr geschickt,
Mit hellen Knospen und Blättern drein:
Für wen mag wohl das Kränzet sein?
So sitzt sie in sich selbst geneigt,
In Hoffnungsfülle ihr Busen steigt,
Ihr Wesen ist so ahndevoll,
Weiß nicht, was sie sich wünschen soll,
Und unter vieler Grillen Lauf
Steigt wohl einmal ein Seufzer auf --

Gedanken über Goethe,

Altertum der ungeduldige jüngere Held neben dem erprobten; er muß zurück¬
gehalten werden, er blickt voll Verehrung zu seinem ritterlichen Herrn empor,
dessen Freude an dem Knappen mit jedem Tage steigt; aber ehe noch seine ganze
Kraft entwickelt ist, fällt er in einem blutigen Gemetzel, in das ihn ein unseliger
Zufall geführt, und es ist gut so, denn was hätte ihm die Welt, wie sie
geworden war, bieten können, ihm, dessen Schutzpatron der Ritter Georg, der
Drachentöter, war?

Knaben und Mädchen spielen noch zusammen, und die letztern müssen oft
von der Wildheit der erstem leiden; dann aber trennen sich die Geschlechter:


es bleiben die wachsenden Mädchen
Endlich billig zu Haus und fliehen die wilderen Spiele,

Bald aber kommt der Moment, wo das eben erblühende Mädchen mitten unter
ihren kindischen Gedanken von einer träumerischen Sehnsucht, der sie keinen
Namen zu geben weiß, beschlichen wird (bei Schöll, Briefe und Aufsätze, am
Ende):


das Mädchen pflückt
Die Veilchen aus dem jungen Gras und bückend sieht
Sie heimlich nach dem Busen, sieht mit Seelenfreude
Entfalteter und reizender ihn heute,
Als er vorm Jahr am Maienfest geblüht,
Und fühlt und hofft.

Zu Pandora, dem von der Hand der Natur unmittelbar gebildeten, unberührten
Mädchen, hat Prometheus gesprochen:


Du fühlst an deinem Herzen,
Daß noch der Freuden viele sind,
Der Schmerzen viele,
Die du nicht kennst —

und sie erwiedert:


Wohl, wohl! Dies Herze sehnt sich oft
Ach nirgend hin und überall doch hin!

Ähnlich in „Hans Sachsens poetischer Sendung":


— sitzt unter einem Apfelbaum
Und spürt die Welt rings um sich kaum,
Hat Rosen in ihren Schoß gepflückt
Und bindet ein Kränzlein sehr geschickt,
Mit hellen Knospen und Blättern drein:
Für wen mag wohl das Kränzet sein?
So sitzt sie in sich selbst geneigt,
In Hoffnungsfülle ihr Busen steigt,
Ihr Wesen ist so ahndevoll,
Weiß nicht, was sie sich wünschen soll,
Und unter vieler Grillen Lauf
Steigt wohl einmal ein Seufzer auf —

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[0028] Gedanken über Goethe, Altertum der ungeduldige jüngere Held neben dem erprobten; er muß zurück¬ gehalten werden, er blickt voll Verehrung zu seinem ritterlichen Herrn empor, dessen Freude an dem Knappen mit jedem Tage steigt; aber ehe noch seine ganze Kraft entwickelt ist, fällt er in einem blutigen Gemetzel, in das ihn ein unseliger Zufall geführt, und es ist gut so, denn was hätte ihm die Welt, wie sie geworden war, bieten können, ihm, dessen Schutzpatron der Ritter Georg, der Drachentöter, war? Knaben und Mädchen spielen noch zusammen, und die letztern müssen oft von der Wildheit der erstem leiden; dann aber trennen sich die Geschlechter: es bleiben die wachsenden Mädchen Endlich billig zu Haus und fliehen die wilderen Spiele, Bald aber kommt der Moment, wo das eben erblühende Mädchen mitten unter ihren kindischen Gedanken von einer träumerischen Sehnsucht, der sie keinen Namen zu geben weiß, beschlichen wird (bei Schöll, Briefe und Aufsätze, am Ende): das Mädchen pflückt Die Veilchen aus dem jungen Gras und bückend sieht Sie heimlich nach dem Busen, sieht mit Seelenfreude Entfalteter und reizender ihn heute, Als er vorm Jahr am Maienfest geblüht, Und fühlt und hofft. Zu Pandora, dem von der Hand der Natur unmittelbar gebildeten, unberührten Mädchen, hat Prometheus gesprochen: Du fühlst an deinem Herzen, Daß noch der Freuden viele sind, Der Schmerzen viele, Die du nicht kennst — und sie erwiedert: Wohl, wohl! Dies Herze sehnt sich oft Ach nirgend hin und überall doch hin! Ähnlich in „Hans Sachsens poetischer Sendung": — sitzt unter einem Apfelbaum Und spürt die Welt rings um sich kaum, Hat Rosen in ihren Schoß gepflückt Und bindet ein Kränzlein sehr geschickt, Mit hellen Knospen und Blättern drein: Für wen mag wohl das Kränzet sein? So sitzt sie in sich selbst geneigt, In Hoffnungsfülle ihr Busen steigt, Ihr Wesen ist so ahndevoll, Weiß nicht, was sie sich wünschen soll, Und unter vieler Grillen Lauf Steigt wohl einmal ein Seufzer auf —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/28>, abgerufen am 27.07.2024.