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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe,

Gretchen hat, wie Faust in ihrem Zimmer Mantasirt, als Kleine mit vollen
Kinderwangen


-- dankbar sür den Heilgen Christ
Dem Ahnherrn fromm die welke Hand geküßt;

da Dorothea fort will und von den Ihrigen Abschied genommen hat, da fallen
die Kinder schreiend und weinend


Ihr in die Kleider und wollen die zweite Mutter nicht lassen --

und die Weiber müssen ihnen Zuckerbrod versprechen, das Dorothea aus der
Stadt bringen wird, und sie fo beruhigen; -- Stella, im zweiten Akt, fühlt
sich wie ein großes Kind: "eben wie die Kinder sich hinter ihr Schürzchc" ver¬
stecken und rufen Pip, daß man sie suchen soll"; -- wenn die Mutter in der
Küche das Feuer schürt, dann kommt der Knabe gesprungen und wirft auch sei"
Reis hinzu (Proömium zu "Hermann und Dorothea"):


Schure die Gattin das Feuer aus reinlichem Herde zu kochen,
Werfe der Knabe das Reis, spielend, geschäftig, dazu;

Felix im "Wilhelm Meister," der sonst so liebliche Knabe, zeigt doch auch
die Unarten seines Alters, er gesteht nicht, was er gethan, aus Furcht vor
Strafe, er trinkt lieber aus der Flasche als dem Glase, und dies gerade rettet^,
ihn für diesmal; in greifbarer Deutlichkeit aber tritt uns das Söhnchen Karl
in ausgeführten Szenen des "Götz von Berlichingen" entgegen -- einer Episode,
die von überklugen Kritikern verworfen und sogar auf die Basedowsche philan¬
thropische Pädagogik damaliger Zeit zurückgeführt worden ist, ohne die aber
dennoch die Tragik des Dramas ß nicht vollendet wäre; denn wie Götz an der
Freiheit, wie er sie versteht, und um dein Staate, in dem die Bösen Gewalt
haben, verzweifelnd stirbt, so wird auch sein eignes Hcldengeschlccht sich nicht
fortsetzen: sein Sohn wird kein Ritter werden, er ist friedlicher, ängstlicher Art,
Mönche unterrichten ihn im Kloster, er wird ein Jurist und Schreiber werden,
Schreiben aber ist geschäftiger Müssiggang,

Der Knabe wächst heran und muß erzogen, geleitet werden, muß in Gym¬
nastik des Leibes und der Seele sich üben, muß lernen, der Warnung, dem Rate
des erfahrenen Mannes zu folgen.


Der Frauen Liebe nährt das Kind,
Den Knaben ziehn am besten'Männer.

Goethe war selbst ein Kinderfreund, ein Erzieher, er bildete sein eignes Selbst
um der kindlichen Natur, und wie der Dichter wird auch Wilhelm durch das
Geschenk seines Felix aus der nichtigen Schattenwelt idealer Betrachtungen zu
lebendiger Existenz, zum Naturgrunde zurückgeführt, und Lothario sagt (7, 7):
"Was sogar die Frauen an uns ungebildet zurücklassen, das bilden die Kinder


Gedanken über Goethe,

Gretchen hat, wie Faust in ihrem Zimmer Mantasirt, als Kleine mit vollen
Kinderwangen


— dankbar sür den Heilgen Christ
Dem Ahnherrn fromm die welke Hand geküßt;

da Dorothea fort will und von den Ihrigen Abschied genommen hat, da fallen
die Kinder schreiend und weinend


Ihr in die Kleider und wollen die zweite Mutter nicht lassen —

und die Weiber müssen ihnen Zuckerbrod versprechen, das Dorothea aus der
Stadt bringen wird, und sie fo beruhigen; — Stella, im zweiten Akt, fühlt
sich wie ein großes Kind: „eben wie die Kinder sich hinter ihr Schürzchc» ver¬
stecken und rufen Pip, daß man sie suchen soll"; — wenn die Mutter in der
Küche das Feuer schürt, dann kommt der Knabe gesprungen und wirft auch sei»
Reis hinzu (Proömium zu „Hermann und Dorothea"):


Schure die Gattin das Feuer aus reinlichem Herde zu kochen,
Werfe der Knabe das Reis, spielend, geschäftig, dazu;

Felix im „Wilhelm Meister," der sonst so liebliche Knabe, zeigt doch auch
die Unarten seines Alters, er gesteht nicht, was er gethan, aus Furcht vor
Strafe, er trinkt lieber aus der Flasche als dem Glase, und dies gerade rettet^,
ihn für diesmal; in greifbarer Deutlichkeit aber tritt uns das Söhnchen Karl
in ausgeführten Szenen des „Götz von Berlichingen" entgegen — einer Episode,
die von überklugen Kritikern verworfen und sogar auf die Basedowsche philan¬
thropische Pädagogik damaliger Zeit zurückgeführt worden ist, ohne die aber
dennoch die Tragik des Dramas ß nicht vollendet wäre; denn wie Götz an der
Freiheit, wie er sie versteht, und um dein Staate, in dem die Bösen Gewalt
haben, verzweifelnd stirbt, so wird auch sein eignes Hcldengeschlccht sich nicht
fortsetzen: sein Sohn wird kein Ritter werden, er ist friedlicher, ängstlicher Art,
Mönche unterrichten ihn im Kloster, er wird ein Jurist und Schreiber werden,
Schreiben aber ist geschäftiger Müssiggang,

Der Knabe wächst heran und muß erzogen, geleitet werden, muß in Gym¬
nastik des Leibes und der Seele sich üben, muß lernen, der Warnung, dem Rate
des erfahrenen Mannes zu folgen.


Der Frauen Liebe nährt das Kind,
Den Knaben ziehn am besten'Männer.

Goethe war selbst ein Kinderfreund, ein Erzieher, er bildete sein eignes Selbst
um der kindlichen Natur, und wie der Dichter wird auch Wilhelm durch das
Geschenk seines Felix aus der nichtigen Schattenwelt idealer Betrachtungen zu
lebendiger Existenz, zum Naturgrunde zurückgeführt, und Lothario sagt (7, 7):
„Was sogar die Frauen an uns ungebildet zurücklassen, das bilden die Kinder


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[0026] Gedanken über Goethe, Gretchen hat, wie Faust in ihrem Zimmer Mantasirt, als Kleine mit vollen Kinderwangen — dankbar sür den Heilgen Christ Dem Ahnherrn fromm die welke Hand geküßt; da Dorothea fort will und von den Ihrigen Abschied genommen hat, da fallen die Kinder schreiend und weinend Ihr in die Kleider und wollen die zweite Mutter nicht lassen — und die Weiber müssen ihnen Zuckerbrod versprechen, das Dorothea aus der Stadt bringen wird, und sie fo beruhigen; — Stella, im zweiten Akt, fühlt sich wie ein großes Kind: „eben wie die Kinder sich hinter ihr Schürzchc» ver¬ stecken und rufen Pip, daß man sie suchen soll"; — wenn die Mutter in der Küche das Feuer schürt, dann kommt der Knabe gesprungen und wirft auch sei» Reis hinzu (Proömium zu „Hermann und Dorothea"): Schure die Gattin das Feuer aus reinlichem Herde zu kochen, Werfe der Knabe das Reis, spielend, geschäftig, dazu; Felix im „Wilhelm Meister," der sonst so liebliche Knabe, zeigt doch auch die Unarten seines Alters, er gesteht nicht, was er gethan, aus Furcht vor Strafe, er trinkt lieber aus der Flasche als dem Glase, und dies gerade rettet^, ihn für diesmal; in greifbarer Deutlichkeit aber tritt uns das Söhnchen Karl in ausgeführten Szenen des „Götz von Berlichingen" entgegen — einer Episode, die von überklugen Kritikern verworfen und sogar auf die Basedowsche philan¬ thropische Pädagogik damaliger Zeit zurückgeführt worden ist, ohne die aber dennoch die Tragik des Dramas ß nicht vollendet wäre; denn wie Götz an der Freiheit, wie er sie versteht, und um dein Staate, in dem die Bösen Gewalt haben, verzweifelnd stirbt, so wird auch sein eignes Hcldengeschlccht sich nicht fortsetzen: sein Sohn wird kein Ritter werden, er ist friedlicher, ängstlicher Art, Mönche unterrichten ihn im Kloster, er wird ein Jurist und Schreiber werden, Schreiben aber ist geschäftiger Müssiggang, Der Knabe wächst heran und muß erzogen, geleitet werden, muß in Gym¬ nastik des Leibes und der Seele sich üben, muß lernen, der Warnung, dem Rate des erfahrenen Mannes zu folgen. Der Frauen Liebe nährt das Kind, Den Knaben ziehn am besten'Männer. Goethe war selbst ein Kinderfreund, ein Erzieher, er bildete sein eignes Selbst um der kindlichen Natur, und wie der Dichter wird auch Wilhelm durch das Geschenk seines Felix aus der nichtigen Schattenwelt idealer Betrachtungen zu lebendiger Existenz, zum Naturgrunde zurückgeführt, und Lothario sagt (7, 7): „Was sogar die Frauen an uns ungebildet zurücklassen, das bilden die Kinder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/26>, abgerufen am 01.09.2024.