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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

und auch Dorothea stellt ihren Schritt, als Magd dienen zu wollen, als allge¬
mein weibliche Bestimmung hin, denn, sagt sie, das Leben des Weibes ist ein
ewiges Gehen und Kommen oder ein Heben und Tragen, Bereiten und Schaffen
für andre.

Die neunziger Jahre waren, wie schon oben bemerkt, die epische Zeit in
Goethes Leben und Dichtung, die denn auch in eignen, selbständigen Werken
ihren Ausdruck fand. Überschaut man aber seine ganze dichterische Laufbahn,
so finden sich überall unter der großen Mannichfaltigkeit der Stoffe und Rich¬
tungen einzelne Gestalten und Umrisse, in denen dieselbe Betrachtungsweise, der
Mensch als in der Allgemeinheit der Gattung begriffen, sein Leben als Natur¬
form erscheint. Wir sammeln im folgenden solche Züge, zur Ergänzung dessen,
was schon oben angeführt worden, und halten uns dabei am Faden der sich
ablösenden menschlichen Altersstufen -- wie der Dichter selbst in der bekannte"
Grabschrift: "Als Knabe verschlossen und trutzig" u. s. w.*)

Das unendliche Glück der Mutter, die den Knaben an der Brust hält, den
unendlichen Schmerz, ihn zu verlieren, malt in ergreifenden Tönen Antiope,
Elpenors Mutter. Sie drückte ihn an sich --


Wo schien der Knabe sicherer, als da,
Wo ihn die Götter selber hingelegt?

Und als die Räuber ihn ihr zu entreißen kamen, da umschlang sie ihn


Mit unauflösbaren Banden mütterlicher Arme

und ließ ihn nur zugleich mit dem Bewußtsein von ihrem Busen. -- Den Vater
der Götter und Menschen ruft Proserpina an:


Russe du noch oben auf deinem goldnen Stuhle,

Zu dem du mich Kleine

So oft mit Freundlichkeit aufhobst,

In deinen Händen mich scherzend

Gegen den endlosen Himmel schwenktest,

Daß ich kindisch droben zu verschwcben bebte?



Eine andre Grabschrift schickte er der Gräfin Auguste vou Stolberg im März des
Jahres 1778, also da er noch nicht neunundzwanzig Jahre alt war: Ich war ein Knabe warm und gut,
Als Jüngling hatt ich frisches Blut,
Versprach einst einen Mann.
Gelitten hab ich und geliebt
Und liege nieder unbetrübt,
Da ich nicht weiter kann.
Es sind Worte, die er sich selbst nachrief, wenn er jetzt etwa abberufen würde. Im Januar
desselben Jahres hatte sich das Frciuleiu von Lasberg aus unglücklicher Liebe ins Wasser
gestürzt, was Goethe tief ergriff und ihm das Bild des Todes nahe brachte; damals ent¬
stand das Lied: "Füllest wieder Busch und Thal" (in seiner ersten Gestalt) und auch: "Das
Wasser rauscht', das Wasser schwoll."
Gedanken über Goethe.

und auch Dorothea stellt ihren Schritt, als Magd dienen zu wollen, als allge¬
mein weibliche Bestimmung hin, denn, sagt sie, das Leben des Weibes ist ein
ewiges Gehen und Kommen oder ein Heben und Tragen, Bereiten und Schaffen
für andre.

Die neunziger Jahre waren, wie schon oben bemerkt, die epische Zeit in
Goethes Leben und Dichtung, die denn auch in eignen, selbständigen Werken
ihren Ausdruck fand. Überschaut man aber seine ganze dichterische Laufbahn,
so finden sich überall unter der großen Mannichfaltigkeit der Stoffe und Rich¬
tungen einzelne Gestalten und Umrisse, in denen dieselbe Betrachtungsweise, der
Mensch als in der Allgemeinheit der Gattung begriffen, sein Leben als Natur¬
form erscheint. Wir sammeln im folgenden solche Züge, zur Ergänzung dessen,
was schon oben angeführt worden, und halten uns dabei am Faden der sich
ablösenden menschlichen Altersstufen — wie der Dichter selbst in der bekannte»
Grabschrift: „Als Knabe verschlossen und trutzig" u. s. w.*)

Das unendliche Glück der Mutter, die den Knaben an der Brust hält, den
unendlichen Schmerz, ihn zu verlieren, malt in ergreifenden Tönen Antiope,
Elpenors Mutter. Sie drückte ihn an sich —


Wo schien der Knabe sicherer, als da,
Wo ihn die Götter selber hingelegt?

Und als die Räuber ihn ihr zu entreißen kamen, da umschlang sie ihn


Mit unauflösbaren Banden mütterlicher Arme

und ließ ihn nur zugleich mit dem Bewußtsein von ihrem Busen. — Den Vater
der Götter und Menschen ruft Proserpina an:


Russe du noch oben auf deinem goldnen Stuhle,

Zu dem du mich Kleine

So oft mit Freundlichkeit aufhobst,

In deinen Händen mich scherzend

Gegen den endlosen Himmel schwenktest,

Daß ich kindisch droben zu verschwcben bebte?



Eine andre Grabschrift schickte er der Gräfin Auguste vou Stolberg im März des
Jahres 1778, also da er noch nicht neunundzwanzig Jahre alt war: Ich war ein Knabe warm und gut,
Als Jüngling hatt ich frisches Blut,
Versprach einst einen Mann.
Gelitten hab ich und geliebt
Und liege nieder unbetrübt,
Da ich nicht weiter kann.
Es sind Worte, die er sich selbst nachrief, wenn er jetzt etwa abberufen würde. Im Januar
desselben Jahres hatte sich das Frciuleiu von Lasberg aus unglücklicher Liebe ins Wasser
gestürzt, was Goethe tief ergriff und ihm das Bild des Todes nahe brachte; damals ent¬
stand das Lied: „Füllest wieder Busch und Thal" (in seiner ersten Gestalt) und auch: „Das
Wasser rauscht', das Wasser schwoll."
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[0025] Gedanken über Goethe. und auch Dorothea stellt ihren Schritt, als Magd dienen zu wollen, als allge¬ mein weibliche Bestimmung hin, denn, sagt sie, das Leben des Weibes ist ein ewiges Gehen und Kommen oder ein Heben und Tragen, Bereiten und Schaffen für andre. Die neunziger Jahre waren, wie schon oben bemerkt, die epische Zeit in Goethes Leben und Dichtung, die denn auch in eignen, selbständigen Werken ihren Ausdruck fand. Überschaut man aber seine ganze dichterische Laufbahn, so finden sich überall unter der großen Mannichfaltigkeit der Stoffe und Rich¬ tungen einzelne Gestalten und Umrisse, in denen dieselbe Betrachtungsweise, der Mensch als in der Allgemeinheit der Gattung begriffen, sein Leben als Natur¬ form erscheint. Wir sammeln im folgenden solche Züge, zur Ergänzung dessen, was schon oben angeführt worden, und halten uns dabei am Faden der sich ablösenden menschlichen Altersstufen — wie der Dichter selbst in der bekannte» Grabschrift: „Als Knabe verschlossen und trutzig" u. s. w.*) Das unendliche Glück der Mutter, die den Knaben an der Brust hält, den unendlichen Schmerz, ihn zu verlieren, malt in ergreifenden Tönen Antiope, Elpenors Mutter. Sie drückte ihn an sich — Wo schien der Knabe sicherer, als da, Wo ihn die Götter selber hingelegt? Und als die Räuber ihn ihr zu entreißen kamen, da umschlang sie ihn Mit unauflösbaren Banden mütterlicher Arme und ließ ihn nur zugleich mit dem Bewußtsein von ihrem Busen. — Den Vater der Götter und Menschen ruft Proserpina an: Russe du noch oben auf deinem goldnen Stuhle, Zu dem du mich Kleine So oft mit Freundlichkeit aufhobst, In deinen Händen mich scherzend Gegen den endlosen Himmel schwenktest, Daß ich kindisch droben zu verschwcben bebte? Eine andre Grabschrift schickte er der Gräfin Auguste vou Stolberg im März des Jahres 1778, also da er noch nicht neunundzwanzig Jahre alt war: Ich war ein Knabe warm und gut, Als Jüngling hatt ich frisches Blut, Versprach einst einen Mann. Gelitten hab ich und geliebt Und liege nieder unbetrübt, Da ich nicht weiter kann. Es sind Worte, die er sich selbst nachrief, wenn er jetzt etwa abberufen würde. Im Januar desselben Jahres hatte sich das Frciuleiu von Lasberg aus unglücklicher Liebe ins Wasser gestürzt, was Goethe tief ergriff und ihm das Bild des Todes nahe brachte; damals ent¬ stand das Lied: „Füllest wieder Busch und Thal" (in seiner ersten Gestalt) und auch: „Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/25>, abgerufen am 27.07.2024.