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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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daß wir dies also doch besitzen und den Griechen darin nicht nachstehen! Und
nun ist der unglückseligen ewigen Verwechslung von Accent und Länge wieder
Bah" gebrochen. Der Verfasser ist nur so gütig, zu konzediren: "Wir können
immerhin die Bezeichnung Hebung und Senkung beibehalten." Nein, nicht
immerhin, sondern einzig so, denn Hebung und Senkung sind die sehr glücklich
die Sache bezeichnenden Ausdrücke. Also fort mit den Verwirrung stiftenden
Bezeichnungen "Länge" und "Kürze." Das wesentliche für die den Versiktns
tragende betonte Silbe ist die Hebung des Stimmtons. Ein kräftigeres Auf¬
atmen tritt hinzu, und dies verlängert allerdings etwas die zum Aussprechen
nötige Zeitdauer, aber diese "Länge" ist für das Ohr kaum bemerkbar und
kann vor allem für die deutsche Versbildung nicht in Betracht kommen, da sie
nur von relativer Bedeutung ist. Denn die betonte Silbe ist ja nur ein wenig
länger als dieselbe Silbe, wenn sie unbetont gelassen wird. Keineswegs aber
ist jede betonte Silbe absolut länger als jede unbetonte. In "mannbar" muß
man ganz unzweifelhaft mehr Zeit auf die Aussprache der langvokalischen, aber
tieftonigen Silbe "bar" als der Hochtonigen aber kurzvokalischen Silbe "manu"
verwenden.

Am allerwenigsten kann man, wie Herr Beyer thut, für den deutschen Vers¬
bau ein musikalisches Schema aufstellen, in welchem jede accentuirte Silbe den
doppelten und bei zweisilbiger Senkung gar den vierfachen Tonwerk der nicht
accentuirtem Silbe erhält. Viel näher der Wahrheit kommt Westphal, der
behauptet, daß für den Vers sich die verschiedene Zeitdauer der betonten und
unbetonten Silben nicht bemerklich mache -- abgesehen natürlich von dem Retar¬
diren oder Acceleriren des ausdrucksvollen Vortrags --, und der demgemäß
das zweisilbige Taktmaß nicht als ein dreizeitiges, sondern als ein zweizeitiges
behandelt. Wenn also Heinrich Schmidt, der Westphal folgt, alle Silben durch
gleichwertige musikalische Noten ausdrückt, enthält er sich mit Rechr jeder un¬
nötigen Bezeichnung der Dauer derselben; der allein in Betracht kommende
Nachdruck, die Tonstärke, ist durch die Stellung innerhalb des Taktes (guter
oder leichter Taktteil) genügend bezeichnet. Herr Beyer, statt von dem ihn an
Einsicht und Kenntnissen in diesen rhythmischen Verhältnissen weit überragenden
Westphal zu lernen, fertigt ihn, sich bloß auf sein eignes, höchst subjektives
Gefühl verlassend, in ganz unzulänglicher Weise ab und schlägt damit gleich
am Eingang seiner Prosodik einen fehlerhaften Weg ein.

Ganz nach seiner Willkür und in schwankender Weise teilt der Verfasser,
welcher von sprachphysiologischen Beobachtungen keine Kunde hat, die Tonab¬
stufung in fünf Grade. Die fünf- und viergradige ist ihm "lang," die drei-
gradige "halblang" oder mitteltonig, die ein- und zweigradige "kurz," und durch
Ukas bestimmt er, daß die Hebung nur fünf oder viergradig, die Senkung ein-,
zwei-, höchstens dreigradig sein darf. Dadurch werden beispielsweise Wörter
wie "Tapferen," deren es in der deutschen Sprache viele giebt, von solchen


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daß wir dies also doch besitzen und den Griechen darin nicht nachstehen! Und
nun ist der unglückseligen ewigen Verwechslung von Accent und Länge wieder
Bah» gebrochen. Der Verfasser ist nur so gütig, zu konzediren: „Wir können
immerhin die Bezeichnung Hebung und Senkung beibehalten." Nein, nicht
immerhin, sondern einzig so, denn Hebung und Senkung sind die sehr glücklich
die Sache bezeichnenden Ausdrücke. Also fort mit den Verwirrung stiftenden
Bezeichnungen „Länge" und „Kürze." Das wesentliche für die den Versiktns
tragende betonte Silbe ist die Hebung des Stimmtons. Ein kräftigeres Auf¬
atmen tritt hinzu, und dies verlängert allerdings etwas die zum Aussprechen
nötige Zeitdauer, aber diese „Länge" ist für das Ohr kaum bemerkbar und
kann vor allem für die deutsche Versbildung nicht in Betracht kommen, da sie
nur von relativer Bedeutung ist. Denn die betonte Silbe ist ja nur ein wenig
länger als dieselbe Silbe, wenn sie unbetont gelassen wird. Keineswegs aber
ist jede betonte Silbe absolut länger als jede unbetonte. In „mannbar" muß
man ganz unzweifelhaft mehr Zeit auf die Aussprache der langvokalischen, aber
tieftonigen Silbe „bar" als der Hochtonigen aber kurzvokalischen Silbe „manu"
verwenden.

Am allerwenigsten kann man, wie Herr Beyer thut, für den deutschen Vers¬
bau ein musikalisches Schema aufstellen, in welchem jede accentuirte Silbe den
doppelten und bei zweisilbiger Senkung gar den vierfachen Tonwerk der nicht
accentuirtem Silbe erhält. Viel näher der Wahrheit kommt Westphal, der
behauptet, daß für den Vers sich die verschiedene Zeitdauer der betonten und
unbetonten Silben nicht bemerklich mache — abgesehen natürlich von dem Retar¬
diren oder Acceleriren des ausdrucksvollen Vortrags —, und der demgemäß
das zweisilbige Taktmaß nicht als ein dreizeitiges, sondern als ein zweizeitiges
behandelt. Wenn also Heinrich Schmidt, der Westphal folgt, alle Silben durch
gleichwertige musikalische Noten ausdrückt, enthält er sich mit Rechr jeder un¬
nötigen Bezeichnung der Dauer derselben; der allein in Betracht kommende
Nachdruck, die Tonstärke, ist durch die Stellung innerhalb des Taktes (guter
oder leichter Taktteil) genügend bezeichnet. Herr Beyer, statt von dem ihn an
Einsicht und Kenntnissen in diesen rhythmischen Verhältnissen weit überragenden
Westphal zu lernen, fertigt ihn, sich bloß auf sein eignes, höchst subjektives
Gefühl verlassend, in ganz unzulänglicher Weise ab und schlägt damit gleich
am Eingang seiner Prosodik einen fehlerhaften Weg ein.

Ganz nach seiner Willkür und in schwankender Weise teilt der Verfasser,
welcher von sprachphysiologischen Beobachtungen keine Kunde hat, die Tonab¬
stufung in fünf Grade. Die fünf- und viergradige ist ihm „lang," die drei-
gradige „halblang" oder mitteltonig, die ein- und zweigradige „kurz," und durch
Ukas bestimmt er, daß die Hebung nur fünf oder viergradig, die Senkung ein-,
zwei-, höchstens dreigradig sein darf. Dadurch werden beispielsweise Wörter
wie „Tapferen," deren es in der deutschen Sprache viele giebt, von solchen


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[0141] Line deutsch-nationale Verslehre. daß wir dies also doch besitzen und den Griechen darin nicht nachstehen! Und nun ist der unglückseligen ewigen Verwechslung von Accent und Länge wieder Bah» gebrochen. Der Verfasser ist nur so gütig, zu konzediren: „Wir können immerhin die Bezeichnung Hebung und Senkung beibehalten." Nein, nicht immerhin, sondern einzig so, denn Hebung und Senkung sind die sehr glücklich die Sache bezeichnenden Ausdrücke. Also fort mit den Verwirrung stiftenden Bezeichnungen „Länge" und „Kürze." Das wesentliche für die den Versiktns tragende betonte Silbe ist die Hebung des Stimmtons. Ein kräftigeres Auf¬ atmen tritt hinzu, und dies verlängert allerdings etwas die zum Aussprechen nötige Zeitdauer, aber diese „Länge" ist für das Ohr kaum bemerkbar und kann vor allem für die deutsche Versbildung nicht in Betracht kommen, da sie nur von relativer Bedeutung ist. Denn die betonte Silbe ist ja nur ein wenig länger als dieselbe Silbe, wenn sie unbetont gelassen wird. Keineswegs aber ist jede betonte Silbe absolut länger als jede unbetonte. In „mannbar" muß man ganz unzweifelhaft mehr Zeit auf die Aussprache der langvokalischen, aber tieftonigen Silbe „bar" als der Hochtonigen aber kurzvokalischen Silbe „manu" verwenden. Am allerwenigsten kann man, wie Herr Beyer thut, für den deutschen Vers¬ bau ein musikalisches Schema aufstellen, in welchem jede accentuirte Silbe den doppelten und bei zweisilbiger Senkung gar den vierfachen Tonwerk der nicht accentuirtem Silbe erhält. Viel näher der Wahrheit kommt Westphal, der behauptet, daß für den Vers sich die verschiedene Zeitdauer der betonten und unbetonten Silben nicht bemerklich mache — abgesehen natürlich von dem Retar¬ diren oder Acceleriren des ausdrucksvollen Vortrags —, und der demgemäß das zweisilbige Taktmaß nicht als ein dreizeitiges, sondern als ein zweizeitiges behandelt. Wenn also Heinrich Schmidt, der Westphal folgt, alle Silben durch gleichwertige musikalische Noten ausdrückt, enthält er sich mit Rechr jeder un¬ nötigen Bezeichnung der Dauer derselben; der allein in Betracht kommende Nachdruck, die Tonstärke, ist durch die Stellung innerhalb des Taktes (guter oder leichter Taktteil) genügend bezeichnet. Herr Beyer, statt von dem ihn an Einsicht und Kenntnissen in diesen rhythmischen Verhältnissen weit überragenden Westphal zu lernen, fertigt ihn, sich bloß auf sein eignes, höchst subjektives Gefühl verlassend, in ganz unzulänglicher Weise ab und schlägt damit gleich am Eingang seiner Prosodik einen fehlerhaften Weg ein. Ganz nach seiner Willkür und in schwankender Weise teilt der Verfasser, welcher von sprachphysiologischen Beobachtungen keine Kunde hat, die Tonab¬ stufung in fünf Grade. Die fünf- und viergradige ist ihm „lang," die drei- gradige „halblang" oder mitteltonig, die ein- und zweigradige „kurz," und durch Ukas bestimmt er, daß die Hebung nur fünf oder viergradig, die Senkung ein-, zwei-, höchstens dreigradig sein darf. Dadurch werden beispielsweise Wörter wie „Tapferen," deren es in der deutschen Sprache viele giebt, von solchen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/141>, abgerufen am 27.07.2024.