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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die romantische Schule in Frankreich.

des Lesers nicht durch künstliche Mittel bethören." Und er fügt hinzu: "Nicht
leicht kann ein Dichter eine größere und zugleich unverständigere Geringschätzung
des Künstlerischen ausdrücken." Daher sind denn auch seine Bücher als Ganzes
erbärmlich komponirt, mangelhaft in der Zeichnung, während Einzelheiten meister¬
lich ausgemalt sind, daher besitzt er nicht die Kunst, eine Seite im Zusammen¬
hang zu schreiben, aber "er hat das Genie, durch ein Wort einen Zug schlagend
hervorzuheben."

Beyle ist nach Brandes der geistige Meister Prosper Merimees, den Brandes
sehr hoch stellt und dem er eines der ausführlichsten Kapitel seiner "Roman¬
tischen Schule in Frankreich" widmet. Nur ist er keine anziehende und fesselnde
Natur, sondern ein kapriziöses Talent, dessen energische Liebe zur Thatsächlichkeit,
dessen Bevorzugung der "nackten Begebenheit" des "Kuriosums" (welches er
nur "auf möglichst auffallende Weise über das allgemeine Niveau der Flachheit
und Leere unsrer Tage zu erheben trachtet") Brandes selbst darauf zurückführt,
daß "Merimee keine Sache, keine Theorie, nicht die leiseste politische oder soziale
Tendenz hat. Er schwärmt für nichts und glaubt an nichts, an kein philo¬
sophisches System, an keine Schule in der Kunst, an keine Lehre der Religion,
kaum an einen geschichtlichen Fortschritt. Merimee glaubt nicht an das Ideal
und hat kein Talent zur Idylle. Über allen seinen Bildern liegt ein dunkler
bräunlicher Ton, der Aufschwung des Herzens zu einer Reinheit, die es liebt,
oder zu einem Heldenmut, den es bewundert, ist seiner Kunst fremd." Trotz
gegen die Heuchelei der Gesellschaft und Ironie gegen die landesüblichen Gefühls¬
illusionen haben Prosper Merimee sehr früh in einen harten Pessimisten ver¬
wandelt, der sich aufs äußerste hütet, die Katastrophen des menschlichen Daseins
tragisch aufzufassen, damit seine Schärfe durch kein versöhnendes Element ihren
Stachel verliere. Er ist also in jedem Betracht der Vorläufer einer Schrift-
stcllergruppe, welche erst in den letzten beiden Jahrzehnten ihre volle Bedeutung
erlangt hat. Es ist eine verhängnisvolle Bedeutung: für tausende ist Einsicht
in das Wesen der Welt mit Ekel an allem Leben, Verständnis der Menschen-
natur mit völliger Verachtung derselben, geistige Energie mit Geringschätzung
jeder Gemütsregung vollkommen identisch geworden. Dies nun ohne Einschränkung
auf Merimee zurückführen und ihn allein dafür verantwortlich machen, wäre
thöricht, aber der feinen Abwägung des Verdienstes eines solchen Schriftstellers
sollte auch der Nachweis seiner schlimmsten Wirkungen nicht fehlen.

Auch die Charakteristiken von Theophil Gautier, dessen eigentliche Schule
mit Swiuburne und seinen Genossen nach England übergegangen ist, von Samt
Beuve, endlich die Skizze, in welcher die romantische Dramatik und ihre Be-
siegung durch die vorübergehende Schule des von sens dargestellt wird, ent¬
halten eine Fülle eingehender Kritik und geistvoller Bemerkungen. In der letzt¬
genannten Skizze macht sich eine Anschauung, welche voraussichtlich die nächste
Zukunft der Literatur beherrschen wird, die Mißachtung der dramatischen


Die romantische Schule in Frankreich.

des Lesers nicht durch künstliche Mittel bethören." Und er fügt hinzu: „Nicht
leicht kann ein Dichter eine größere und zugleich unverständigere Geringschätzung
des Künstlerischen ausdrücken." Daher sind denn auch seine Bücher als Ganzes
erbärmlich komponirt, mangelhaft in der Zeichnung, während Einzelheiten meister¬
lich ausgemalt sind, daher besitzt er nicht die Kunst, eine Seite im Zusammen¬
hang zu schreiben, aber „er hat das Genie, durch ein Wort einen Zug schlagend
hervorzuheben."

Beyle ist nach Brandes der geistige Meister Prosper Merimees, den Brandes
sehr hoch stellt und dem er eines der ausführlichsten Kapitel seiner „Roman¬
tischen Schule in Frankreich" widmet. Nur ist er keine anziehende und fesselnde
Natur, sondern ein kapriziöses Talent, dessen energische Liebe zur Thatsächlichkeit,
dessen Bevorzugung der „nackten Begebenheit" des „Kuriosums" (welches er
nur „auf möglichst auffallende Weise über das allgemeine Niveau der Flachheit
und Leere unsrer Tage zu erheben trachtet") Brandes selbst darauf zurückführt,
daß „Merimee keine Sache, keine Theorie, nicht die leiseste politische oder soziale
Tendenz hat. Er schwärmt für nichts und glaubt an nichts, an kein philo¬
sophisches System, an keine Schule in der Kunst, an keine Lehre der Religion,
kaum an einen geschichtlichen Fortschritt. Merimee glaubt nicht an das Ideal
und hat kein Talent zur Idylle. Über allen seinen Bildern liegt ein dunkler
bräunlicher Ton, der Aufschwung des Herzens zu einer Reinheit, die es liebt,
oder zu einem Heldenmut, den es bewundert, ist seiner Kunst fremd." Trotz
gegen die Heuchelei der Gesellschaft und Ironie gegen die landesüblichen Gefühls¬
illusionen haben Prosper Merimee sehr früh in einen harten Pessimisten ver¬
wandelt, der sich aufs äußerste hütet, die Katastrophen des menschlichen Daseins
tragisch aufzufassen, damit seine Schärfe durch kein versöhnendes Element ihren
Stachel verliere. Er ist also in jedem Betracht der Vorläufer einer Schrift-
stcllergruppe, welche erst in den letzten beiden Jahrzehnten ihre volle Bedeutung
erlangt hat. Es ist eine verhängnisvolle Bedeutung: für tausende ist Einsicht
in das Wesen der Welt mit Ekel an allem Leben, Verständnis der Menschen-
natur mit völliger Verachtung derselben, geistige Energie mit Geringschätzung
jeder Gemütsregung vollkommen identisch geworden. Dies nun ohne Einschränkung
auf Merimee zurückführen und ihn allein dafür verantwortlich machen, wäre
thöricht, aber der feinen Abwägung des Verdienstes eines solchen Schriftstellers
sollte auch der Nachweis seiner schlimmsten Wirkungen nicht fehlen.

Auch die Charakteristiken von Theophil Gautier, dessen eigentliche Schule
mit Swiuburne und seinen Genossen nach England übergegangen ist, von Samt
Beuve, endlich die Skizze, in welcher die romantische Dramatik und ihre Be-
siegung durch die vorübergehende Schule des von sens dargestellt wird, ent¬
halten eine Fülle eingehender Kritik und geistvoller Bemerkungen. In der letzt¬
genannten Skizze macht sich eine Anschauung, welche voraussichtlich die nächste
Zukunft der Literatur beherrschen wird, die Mißachtung der dramatischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/98>, abgerufen am 08.09.2024.