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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die romantische Schule in Frankreich.

Form in einer beiläufigen geringschätzigen Bemerkung geltend. Die "Kunstart,
welche man zufolge der ästhetischen Überlieferungen in jener Zeit als die höchste
betrachtete und seltsamerweise noch heute dafür hält, nämlich das Drama" findet
bei Brandes wenig Gnade. In der That kann sie bei der Abhängigkeit des
modernen Theaters just vom schlechtesten Teile des Publikums, bei der Herrschaft
schauspielerischer Traditionen, technischer Konvenienzcn und unkünstlerischer
Instinkte sich nicht frei und groß entfalten. Aber im innersten Kern hängt
Brandes' Geringschätzung des Dramas viel mehr mit seiner Theorie der mo¬
dernen Dichtung als mit der unvermeidlichen Verachtung der "realen" Bühne
zusammen. Wenn die Psychologie in der That an die Stelle der eigentlichen
Dichtcrgabe, der freien Einbildungskraft, getreten ist und für alle Zukunft zu
treten bestimmt wäre, wenn die "Kritik" das belebende Prinzip der modernen
Dichtung geworden ist (freilich nur eine synthetische Kritik, welche "Berge ver¬
setzt, alle die riesigen Anhöhen der Autorität, des Vorurteils, der ideenlosen
Macht und der toten Überlieferung"), so geht das Drama zu Ende. Es kann
der Phantasie und kann der naiven Hingabe, der Freude an den Erscheinungen
nicht entraten. Wieviel "Kritik" es immerhin in sich aufnehmen mag, es
bedarf daneben jener Elemente, die der Dichter ohne Kritik hat. Freilich werden
ohne diese Elemente auch die andern Kunstarten immer nur zu einem Schein¬
leben zu erwecken sein -- das Drama aber nicht einmal zu einem solchen.

Brandes' sechster Band wird das "Junge Deutschland" besprechen, die
schwierigste Aufgabe für eiuen Literarhistoriker, der wie er in den "Zeitideen"
die eigentlich inspirirendc Macht der Literatur erkennt und andrerseits doch
geschärfte Organe für die Erkenntnis wirklich poetischer Natur und schöpferischer
Kraft besitzt. Von der Darstellung des "Jungen Deutschlands" aus müsse,?
einige Lichter auch auf jene Kapitel der "Romantischen Schule in Frankreich"
zurückfallen, in denen der Autor seine letzten Überzeugungen mehr angedeutet
als klar dargelegt hat. Inzwischen wird die Anzeige des eben erschienenen
Bandes jeden denkenden Leser überzeugt haben, daß es sich um eines jener
Bücher handelt, die man zustimmend genießen, bewundernd bekämpfen, aber
unter allen Umständen nicht übersehen kann.




Die romantische Schule in Frankreich.

Form in einer beiläufigen geringschätzigen Bemerkung geltend. Die „Kunstart,
welche man zufolge der ästhetischen Überlieferungen in jener Zeit als die höchste
betrachtete und seltsamerweise noch heute dafür hält, nämlich das Drama" findet
bei Brandes wenig Gnade. In der That kann sie bei der Abhängigkeit des
modernen Theaters just vom schlechtesten Teile des Publikums, bei der Herrschaft
schauspielerischer Traditionen, technischer Konvenienzcn und unkünstlerischer
Instinkte sich nicht frei und groß entfalten. Aber im innersten Kern hängt
Brandes' Geringschätzung des Dramas viel mehr mit seiner Theorie der mo¬
dernen Dichtung als mit der unvermeidlichen Verachtung der „realen" Bühne
zusammen. Wenn die Psychologie in der That an die Stelle der eigentlichen
Dichtcrgabe, der freien Einbildungskraft, getreten ist und für alle Zukunft zu
treten bestimmt wäre, wenn die „Kritik" das belebende Prinzip der modernen
Dichtung geworden ist (freilich nur eine synthetische Kritik, welche „Berge ver¬
setzt, alle die riesigen Anhöhen der Autorität, des Vorurteils, der ideenlosen
Macht und der toten Überlieferung"), so geht das Drama zu Ende. Es kann
der Phantasie und kann der naiven Hingabe, der Freude an den Erscheinungen
nicht entraten. Wieviel „Kritik" es immerhin in sich aufnehmen mag, es
bedarf daneben jener Elemente, die der Dichter ohne Kritik hat. Freilich werden
ohne diese Elemente auch die andern Kunstarten immer nur zu einem Schein¬
leben zu erwecken sein — das Drama aber nicht einmal zu einem solchen.

Brandes' sechster Band wird das „Junge Deutschland" besprechen, die
schwierigste Aufgabe für eiuen Literarhistoriker, der wie er in den „Zeitideen"
die eigentlich inspirirendc Macht der Literatur erkennt und andrerseits doch
geschärfte Organe für die Erkenntnis wirklich poetischer Natur und schöpferischer
Kraft besitzt. Von der Darstellung des „Jungen Deutschlands" aus müsse,?
einige Lichter auch auf jene Kapitel der „Romantischen Schule in Frankreich"
zurückfallen, in denen der Autor seine letzten Überzeugungen mehr angedeutet
als klar dargelegt hat. Inzwischen wird die Anzeige des eben erschienenen
Bandes jeden denkenden Leser überzeugt haben, daß es sich um eines jener
Bücher handelt, die man zustimmend genießen, bewundernd bekämpfen, aber
unter allen Umständen nicht übersehen kann.




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[0099] Die romantische Schule in Frankreich. Form in einer beiläufigen geringschätzigen Bemerkung geltend. Die „Kunstart, welche man zufolge der ästhetischen Überlieferungen in jener Zeit als die höchste betrachtete und seltsamerweise noch heute dafür hält, nämlich das Drama" findet bei Brandes wenig Gnade. In der That kann sie bei der Abhängigkeit des modernen Theaters just vom schlechtesten Teile des Publikums, bei der Herrschaft schauspielerischer Traditionen, technischer Konvenienzcn und unkünstlerischer Instinkte sich nicht frei und groß entfalten. Aber im innersten Kern hängt Brandes' Geringschätzung des Dramas viel mehr mit seiner Theorie der mo¬ dernen Dichtung als mit der unvermeidlichen Verachtung der „realen" Bühne zusammen. Wenn die Psychologie in der That an die Stelle der eigentlichen Dichtcrgabe, der freien Einbildungskraft, getreten ist und für alle Zukunft zu treten bestimmt wäre, wenn die „Kritik" das belebende Prinzip der modernen Dichtung geworden ist (freilich nur eine synthetische Kritik, welche „Berge ver¬ setzt, alle die riesigen Anhöhen der Autorität, des Vorurteils, der ideenlosen Macht und der toten Überlieferung"), so geht das Drama zu Ende. Es kann der Phantasie und kann der naiven Hingabe, der Freude an den Erscheinungen nicht entraten. Wieviel „Kritik" es immerhin in sich aufnehmen mag, es bedarf daneben jener Elemente, die der Dichter ohne Kritik hat. Freilich werden ohne diese Elemente auch die andern Kunstarten immer nur zu einem Schein¬ leben zu erwecken sein — das Drama aber nicht einmal zu einem solchen. Brandes' sechster Band wird das „Junge Deutschland" besprechen, die schwierigste Aufgabe für eiuen Literarhistoriker, der wie er in den „Zeitideen" die eigentlich inspirirendc Macht der Literatur erkennt und andrerseits doch geschärfte Organe für die Erkenntnis wirklich poetischer Natur und schöpferischer Kraft besitzt. Von der Darstellung des „Jungen Deutschlands" aus müsse,? einige Lichter auch auf jene Kapitel der „Romantischen Schule in Frankreich" zurückfallen, in denen der Autor seine letzten Überzeugungen mehr angedeutet als klar dargelegt hat. Inzwischen wird die Anzeige des eben erschienenen Bandes jeden denkenden Leser überzeugt haben, daß es sich um eines jener Bücher handelt, die man zustimmend genießen, bewundernd bekämpfen, aber unter allen Umständen nicht übersehen kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/99>, abgerufen am 08.09.2024.