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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die romantische Schule in Frankreich.

Balzacs Form der Bedeutung seiner Kompositionen und Menschendarstellungen nicht
völlig entspreche ("sein Stil war unsicher, bisweilen gewöhnlich, bisweilen schwülstig,
und der Mangel an stilistischer Vollendung ist immer ein schwerwiegender"), und
daß nichts Formloses oder nur teilweise Geformtes dem Lauf der Zeiten wider¬
stehe, und er wirft ihm außerdem die "Schwäche des reinen Ideengehalts," das
heißt mangelndes Verständnis für die großen religiösen und sozialen "Fort¬
schritts "-Ideen des Jahrhunderts vor. Die Unklarheit der politischen und kirch¬
lichen Doktrinen Balzaes muß zugegeben werdeu, aber den Beweis, daß die
phantastisch-radikalen Inspirationen Victor Hugos klarer wären und diesen oder
jeden andern Dichter, welcher mit Victor Hugo auf gleichem Boden steht, zum
geistige" Führer seiner Nation befähigten, halten wir auch dnrch Brandes' "Lite¬
ratur des neunzehnten Jahrhunderts" nicht für erbracht. Auffälliger noch
als dies dünkt uns, daß Brandes den bedenklichsten Zug in der Balzacschen
Dichtung zwar keineswegs übersieht, aber nicht mit all der Schärfe betont und
verurteilt, welche uns hier notwendig dünkt. "Es ging nach und nach den Zeit¬
genossen auf, daß sie in Balzac einen der wahrhaft großen Schriftsteller, die
einer Kunstart ihren Geist aufprägen, besaßen. Er hatte nicht nur die moderne
Form des Romans begründet, sondern als echter Sohn eines Jahrhunderts, in
welchem die Wissenschaft sich immer mehr in die Kunst hineindrängt, eine Me¬
thode der Beobachtung und Beschreibung inaugurirt, die von andern ergriffen
und angewandt werden konnte."

Brandes gehört nach seiner ganzen Auffassung der Literatur und nach ver-
schiednen Stellen seines Buches wohl nicht zu den Bewunderern Zolas. Die
Konsequenz des oben angeführten Zugeständnisses ist aber Zola und sein ana¬
lytischer Roman, seine "Methode" der Gesellschaftsdarstellung. Das Hereindrängen
der Wissenschaft in die Kunst sehen wir als die letzte und schlimmste Wendung
einer Verfallstendenz an, welche zugleich eine tiefe Herabstimmung der Genu߬
fähigkeit wie der Bildung des Publikums bezeichnet. Nun sind unzweifelhaft
Zola und seine Nachfahren nicht völlig im Unrecht, wenn sie Balzac als den
ersten Schriftsteller ihrer Art und den einzigen der romantischen Generation,
den sie gelten lassen, bezeichnen. Umso unabweislicher erscheint uns daher,
daß der scharfsinnige Kritiker gerade hier neben dem Verdienst Balzacs die Ge¬
fahr, die er der lebendigen und unmittelbaren Dichtung gebracht, dem Leser vor
Augen gestellt hätte. Bei einem Balzac vielfach verwandten Geiste, dem
wenig gekannten Henri Beylc, dem man gegenwärtig in Frankreich eine Beach¬
tung widmet, welche ihm zu seinen Lebzeiten völlig versagt worden, dem Ver¬
fasser der brutal genialen Romane RonZ<z se Aoir und 1s. OKartrsuso as ?Ärrri6,
zeigt sich Brandes weniger zurückhaltend. Er berichtet, daß Beyle in seiner
schneidigen Nüchternheit an Balzac die Worte geschrieben habe: "Als ich 1.3,
(ülls-rtrouLö verfaßte, las ich jeden Morgen zwei bis drei Seiten im voäs civil,
um den rechten Ton zu treffen und immer natürlich zu sein; ich mag den Sinn


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Die romantische Schule in Frankreich.

Balzacs Form der Bedeutung seiner Kompositionen und Menschendarstellungen nicht
völlig entspreche („sein Stil war unsicher, bisweilen gewöhnlich, bisweilen schwülstig,
und der Mangel an stilistischer Vollendung ist immer ein schwerwiegender"), und
daß nichts Formloses oder nur teilweise Geformtes dem Lauf der Zeiten wider¬
stehe, und er wirft ihm außerdem die „Schwäche des reinen Ideengehalts," das
heißt mangelndes Verständnis für die großen religiösen und sozialen „Fort¬
schritts "-Ideen des Jahrhunderts vor. Die Unklarheit der politischen und kirch¬
lichen Doktrinen Balzaes muß zugegeben werdeu, aber den Beweis, daß die
phantastisch-radikalen Inspirationen Victor Hugos klarer wären und diesen oder
jeden andern Dichter, welcher mit Victor Hugo auf gleichem Boden steht, zum
geistige» Führer seiner Nation befähigten, halten wir auch dnrch Brandes' „Lite¬
ratur des neunzehnten Jahrhunderts" nicht für erbracht. Auffälliger noch
als dies dünkt uns, daß Brandes den bedenklichsten Zug in der Balzacschen
Dichtung zwar keineswegs übersieht, aber nicht mit all der Schärfe betont und
verurteilt, welche uns hier notwendig dünkt. „Es ging nach und nach den Zeit¬
genossen auf, daß sie in Balzac einen der wahrhaft großen Schriftsteller, die
einer Kunstart ihren Geist aufprägen, besaßen. Er hatte nicht nur die moderne
Form des Romans begründet, sondern als echter Sohn eines Jahrhunderts, in
welchem die Wissenschaft sich immer mehr in die Kunst hineindrängt, eine Me¬
thode der Beobachtung und Beschreibung inaugurirt, die von andern ergriffen
und angewandt werden konnte."

Brandes gehört nach seiner ganzen Auffassung der Literatur und nach ver-
schiednen Stellen seines Buches wohl nicht zu den Bewunderern Zolas. Die
Konsequenz des oben angeführten Zugeständnisses ist aber Zola und sein ana¬
lytischer Roman, seine „Methode" der Gesellschaftsdarstellung. Das Hereindrängen
der Wissenschaft in die Kunst sehen wir als die letzte und schlimmste Wendung
einer Verfallstendenz an, welche zugleich eine tiefe Herabstimmung der Genu߬
fähigkeit wie der Bildung des Publikums bezeichnet. Nun sind unzweifelhaft
Zola und seine Nachfahren nicht völlig im Unrecht, wenn sie Balzac als den
ersten Schriftsteller ihrer Art und den einzigen der romantischen Generation,
den sie gelten lassen, bezeichnen. Umso unabweislicher erscheint uns daher,
daß der scharfsinnige Kritiker gerade hier neben dem Verdienst Balzacs die Ge¬
fahr, die er der lebendigen und unmittelbaren Dichtung gebracht, dem Leser vor
Augen gestellt hätte. Bei einem Balzac vielfach verwandten Geiste, dem
wenig gekannten Henri Beylc, dem man gegenwärtig in Frankreich eine Beach¬
tung widmet, welche ihm zu seinen Lebzeiten völlig versagt worden, dem Ver¬
fasser der brutal genialen Romane RonZ<z se Aoir und 1s. OKartrsuso as ?Ärrri6,
zeigt sich Brandes weniger zurückhaltend. Er berichtet, daß Beyle in seiner
schneidigen Nüchternheit an Balzac die Worte geschrieben habe: „Als ich 1.3,
(ülls-rtrouLö verfaßte, las ich jeden Morgen zwei bis drei Seiten im voäs civil,
um den rechten Ton zu treffen und immer natürlich zu sein; ich mag den Sinn


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[0097] Die romantische Schule in Frankreich. Balzacs Form der Bedeutung seiner Kompositionen und Menschendarstellungen nicht völlig entspreche („sein Stil war unsicher, bisweilen gewöhnlich, bisweilen schwülstig, und der Mangel an stilistischer Vollendung ist immer ein schwerwiegender"), und daß nichts Formloses oder nur teilweise Geformtes dem Lauf der Zeiten wider¬ stehe, und er wirft ihm außerdem die „Schwäche des reinen Ideengehalts," das heißt mangelndes Verständnis für die großen religiösen und sozialen „Fort¬ schritts "-Ideen des Jahrhunderts vor. Die Unklarheit der politischen und kirch¬ lichen Doktrinen Balzaes muß zugegeben werdeu, aber den Beweis, daß die phantastisch-radikalen Inspirationen Victor Hugos klarer wären und diesen oder jeden andern Dichter, welcher mit Victor Hugo auf gleichem Boden steht, zum geistige» Führer seiner Nation befähigten, halten wir auch dnrch Brandes' „Lite¬ ratur des neunzehnten Jahrhunderts" nicht für erbracht. Auffälliger noch als dies dünkt uns, daß Brandes den bedenklichsten Zug in der Balzacschen Dichtung zwar keineswegs übersieht, aber nicht mit all der Schärfe betont und verurteilt, welche uns hier notwendig dünkt. „Es ging nach und nach den Zeit¬ genossen auf, daß sie in Balzac einen der wahrhaft großen Schriftsteller, die einer Kunstart ihren Geist aufprägen, besaßen. Er hatte nicht nur die moderne Form des Romans begründet, sondern als echter Sohn eines Jahrhunderts, in welchem die Wissenschaft sich immer mehr in die Kunst hineindrängt, eine Me¬ thode der Beobachtung und Beschreibung inaugurirt, die von andern ergriffen und angewandt werden konnte." Brandes gehört nach seiner ganzen Auffassung der Literatur und nach ver- schiednen Stellen seines Buches wohl nicht zu den Bewunderern Zolas. Die Konsequenz des oben angeführten Zugeständnisses ist aber Zola und sein ana¬ lytischer Roman, seine „Methode" der Gesellschaftsdarstellung. Das Hereindrängen der Wissenschaft in die Kunst sehen wir als die letzte und schlimmste Wendung einer Verfallstendenz an, welche zugleich eine tiefe Herabstimmung der Genu߬ fähigkeit wie der Bildung des Publikums bezeichnet. Nun sind unzweifelhaft Zola und seine Nachfahren nicht völlig im Unrecht, wenn sie Balzac als den ersten Schriftsteller ihrer Art und den einzigen der romantischen Generation, den sie gelten lassen, bezeichnen. Umso unabweislicher erscheint uns daher, daß der scharfsinnige Kritiker gerade hier neben dem Verdienst Balzacs die Ge¬ fahr, die er der lebendigen und unmittelbaren Dichtung gebracht, dem Leser vor Augen gestellt hätte. Bei einem Balzac vielfach verwandten Geiste, dem wenig gekannten Henri Beylc, dem man gegenwärtig in Frankreich eine Beach¬ tung widmet, welche ihm zu seinen Lebzeiten völlig versagt worden, dem Ver¬ fasser der brutal genialen Romane RonZ<z se Aoir und 1s. OKartrsuso as ?Ärrri6, zeigt sich Brandes weniger zurückhaltend. Er berichtet, daß Beyle in seiner schneidigen Nüchternheit an Balzac die Worte geschrieben habe: „Als ich 1.3, (ülls-rtrouLö verfaßte, las ich jeden Morgen zwei bis drei Seiten im voäs civil, um den rechten Ton zu treffen und immer natürlich zu sein; ich mag den Sinn Grmzswtcn HI. 18L3. is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/97>, abgerufen am 08.09.2024.