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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die romantische Schule in Frankreich.

bei dieser Gelegenheit offenbart sich, wie viel Zusammenhänge der neuen schein¬
bar ganz revolutionären Generation mit der altfmnzvfischen Tradition erhalten
bleiben. Die Charakteristik de Vignys wird dem vornehmen Dichtergeiste nicht
so völlig gerecht, wie es sonst die Art des Kritikers ist, es scheint, daß der
unbedingte Spiritualismus, der Mangel an glühenden Farben, den er bei de
Vigny wahrzunehmen meint, ihn minder empfänglich sür die Vorzüge der de
Vignyschen Muse stimmt. Mit der eigentümlichen Fähigkeit, die Entwicklung
gewisse Talente in Parallele zu stellen, welche eines der Fundamente der
Brandesschen Kritik ist, schildert er nacheinander die jugendlichen Erscheinungen
Victor Hugos und Alfred de Müssets und demnächst diejenige der George Sand.
Bei Gelegenheit der Auseinandersetzung, warum Victor Hugo größer erschienen
sei und stärker gewirkt habe als sein genialster Rival Alfred de Musset, äußert
der Literarhistoriker: "Nicht das feinste und auserlesenste poetische Talent ist
es, das die Leitung in der Literatur behauptet. Sie fällt nicht dem Talent
zu, sondern der ganzen Persönlichkeit. Derjenige, der zu einem gegebenen Zeit¬
punkt das Herz der Zeit in seiner Brust pochen fühlt, die Gedanken der Zeit
in seine Intelligenz aufnimmt und den festen Willen hat, der Literatur den
Stempel von diesen seinen und des Zeitalters Gefühlen und Ideen aufzudrücken --
der ist der geborne und der bleibende Führer." Wie unanfechtbar dieser Satz
auch sein mag, gegen die Anwendung im speziellen Fall darf man Protestiren.
Wer jeder krampfhaften Bewegung seiner Tage gleichsam willenlos folgt, hat darum
noch nicht das Herz der Zeit in der Brust, und es heißt noch lange nicht die
Gedanken der Zeit in seine Intelligenz aufgenommen haben, wenn man ge¬
wisse Krankheiten derselben teilt. Die spätere Entwicklung Müssets, obschon
keineswegs überall rein und erfreulich, wird von derjenigen Victor Hugos weit mehr
äußerlich als geistig überragt, mit seiner unermüdlichen künstlerischen Arbeitskraft
schlägt der Dichter der "Legende der Jahrhunderte" und der "Armen und Elenden"
die träumerische und nur für Momente zum vollen Leben und zur vollen Wirkung
erwachende Poesie Müssets ans dem Felde. Diese riesige Arbeitskraft aber teilt er mit
Erscheinungen wie George Sand und HonorL de Balzac, welche beide den Übergang
von der Romantik im engsten Sinne, der exotisch-mittelalterlichen, zur Dichtung
der Zeit, zum romantischen Realismus bezeichnen. Bei Darstellung der Wirk¬
samkeit und Bedeutung dieser beiden eigenartigen Schriftstellergestalten haben
wir wiederum allen Anlaß, Brandes' glänzende kritische Fähigkeiten, vor allem
seine starke Mitempfindung, zu rühmen.

Freilich hängt es mit seinem innersten Wesen und Glaubensbekenntnis zusam¬
men, daß er Balzac, den jedes Idealismus baren Psychologen, den Physiologen
der Pariser Gesellschaft, zwar nirgends mit ausdrücklichen Worten überdic große
Dichterin hinausstellt, welche sich mitten unter Irrungen, Leidenschaften und
Kämpfen' eine so ideale Lebensanschauung, eine so unverwüstliche Gesundheit er¬
halten hat, ihm aber doch den Vorzug giebt. Er räumt von vornherein ein, daß


Die romantische Schule in Frankreich.

bei dieser Gelegenheit offenbart sich, wie viel Zusammenhänge der neuen schein¬
bar ganz revolutionären Generation mit der altfmnzvfischen Tradition erhalten
bleiben. Die Charakteristik de Vignys wird dem vornehmen Dichtergeiste nicht
so völlig gerecht, wie es sonst die Art des Kritikers ist, es scheint, daß der
unbedingte Spiritualismus, der Mangel an glühenden Farben, den er bei de
Vigny wahrzunehmen meint, ihn minder empfänglich sür die Vorzüge der de
Vignyschen Muse stimmt. Mit der eigentümlichen Fähigkeit, die Entwicklung
gewisse Talente in Parallele zu stellen, welche eines der Fundamente der
Brandesschen Kritik ist, schildert er nacheinander die jugendlichen Erscheinungen
Victor Hugos und Alfred de Müssets und demnächst diejenige der George Sand.
Bei Gelegenheit der Auseinandersetzung, warum Victor Hugo größer erschienen
sei und stärker gewirkt habe als sein genialster Rival Alfred de Musset, äußert
der Literarhistoriker: „Nicht das feinste und auserlesenste poetische Talent ist
es, das die Leitung in der Literatur behauptet. Sie fällt nicht dem Talent
zu, sondern der ganzen Persönlichkeit. Derjenige, der zu einem gegebenen Zeit¬
punkt das Herz der Zeit in seiner Brust pochen fühlt, die Gedanken der Zeit
in seine Intelligenz aufnimmt und den festen Willen hat, der Literatur den
Stempel von diesen seinen und des Zeitalters Gefühlen und Ideen aufzudrücken —
der ist der geborne und der bleibende Führer." Wie unanfechtbar dieser Satz
auch sein mag, gegen die Anwendung im speziellen Fall darf man Protestiren.
Wer jeder krampfhaften Bewegung seiner Tage gleichsam willenlos folgt, hat darum
noch nicht das Herz der Zeit in der Brust, und es heißt noch lange nicht die
Gedanken der Zeit in seine Intelligenz aufgenommen haben, wenn man ge¬
wisse Krankheiten derselben teilt. Die spätere Entwicklung Müssets, obschon
keineswegs überall rein und erfreulich, wird von derjenigen Victor Hugos weit mehr
äußerlich als geistig überragt, mit seiner unermüdlichen künstlerischen Arbeitskraft
schlägt der Dichter der „Legende der Jahrhunderte" und der „Armen und Elenden"
die träumerische und nur für Momente zum vollen Leben und zur vollen Wirkung
erwachende Poesie Müssets ans dem Felde. Diese riesige Arbeitskraft aber teilt er mit
Erscheinungen wie George Sand und HonorL de Balzac, welche beide den Übergang
von der Romantik im engsten Sinne, der exotisch-mittelalterlichen, zur Dichtung
der Zeit, zum romantischen Realismus bezeichnen. Bei Darstellung der Wirk¬
samkeit und Bedeutung dieser beiden eigenartigen Schriftstellergestalten haben
wir wiederum allen Anlaß, Brandes' glänzende kritische Fähigkeiten, vor allem
seine starke Mitempfindung, zu rühmen.

Freilich hängt es mit seinem innersten Wesen und Glaubensbekenntnis zusam¬
men, daß er Balzac, den jedes Idealismus baren Psychologen, den Physiologen
der Pariser Gesellschaft, zwar nirgends mit ausdrücklichen Worten überdic große
Dichterin hinausstellt, welche sich mitten unter Irrungen, Leidenschaften und
Kämpfen' eine so ideale Lebensanschauung, eine so unverwüstliche Gesundheit er¬
halten hat, ihm aber doch den Vorzug giebt. Er räumt von vornherein ein, daß


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[0096] Die romantische Schule in Frankreich. bei dieser Gelegenheit offenbart sich, wie viel Zusammenhänge der neuen schein¬ bar ganz revolutionären Generation mit der altfmnzvfischen Tradition erhalten bleiben. Die Charakteristik de Vignys wird dem vornehmen Dichtergeiste nicht so völlig gerecht, wie es sonst die Art des Kritikers ist, es scheint, daß der unbedingte Spiritualismus, der Mangel an glühenden Farben, den er bei de Vigny wahrzunehmen meint, ihn minder empfänglich sür die Vorzüge der de Vignyschen Muse stimmt. Mit der eigentümlichen Fähigkeit, die Entwicklung gewisse Talente in Parallele zu stellen, welche eines der Fundamente der Brandesschen Kritik ist, schildert er nacheinander die jugendlichen Erscheinungen Victor Hugos und Alfred de Müssets und demnächst diejenige der George Sand. Bei Gelegenheit der Auseinandersetzung, warum Victor Hugo größer erschienen sei und stärker gewirkt habe als sein genialster Rival Alfred de Musset, äußert der Literarhistoriker: „Nicht das feinste und auserlesenste poetische Talent ist es, das die Leitung in der Literatur behauptet. Sie fällt nicht dem Talent zu, sondern der ganzen Persönlichkeit. Derjenige, der zu einem gegebenen Zeit¬ punkt das Herz der Zeit in seiner Brust pochen fühlt, die Gedanken der Zeit in seine Intelligenz aufnimmt und den festen Willen hat, der Literatur den Stempel von diesen seinen und des Zeitalters Gefühlen und Ideen aufzudrücken — der ist der geborne und der bleibende Führer." Wie unanfechtbar dieser Satz auch sein mag, gegen die Anwendung im speziellen Fall darf man Protestiren. Wer jeder krampfhaften Bewegung seiner Tage gleichsam willenlos folgt, hat darum noch nicht das Herz der Zeit in der Brust, und es heißt noch lange nicht die Gedanken der Zeit in seine Intelligenz aufgenommen haben, wenn man ge¬ wisse Krankheiten derselben teilt. Die spätere Entwicklung Müssets, obschon keineswegs überall rein und erfreulich, wird von derjenigen Victor Hugos weit mehr äußerlich als geistig überragt, mit seiner unermüdlichen künstlerischen Arbeitskraft schlägt der Dichter der „Legende der Jahrhunderte" und der „Armen und Elenden" die träumerische und nur für Momente zum vollen Leben und zur vollen Wirkung erwachende Poesie Müssets ans dem Felde. Diese riesige Arbeitskraft aber teilt er mit Erscheinungen wie George Sand und HonorL de Balzac, welche beide den Übergang von der Romantik im engsten Sinne, der exotisch-mittelalterlichen, zur Dichtung der Zeit, zum romantischen Realismus bezeichnen. Bei Darstellung der Wirk¬ samkeit und Bedeutung dieser beiden eigenartigen Schriftstellergestalten haben wir wiederum allen Anlaß, Brandes' glänzende kritische Fähigkeiten, vor allem seine starke Mitempfindung, zu rühmen. Freilich hängt es mit seinem innersten Wesen und Glaubensbekenntnis zusam¬ men, daß er Balzac, den jedes Idealismus baren Psychologen, den Physiologen der Pariser Gesellschaft, zwar nirgends mit ausdrücklichen Worten überdic große Dichterin hinausstellt, welche sich mitten unter Irrungen, Leidenschaften und Kämpfen' eine so ideale Lebensanschauung, eine so unverwüstliche Gesundheit er¬ halten hat, ihm aber doch den Vorzug giebt. Er räumt von vornherein ein, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/96>, abgerufen am 08.09.2024.